Sozialkonstruktivismus

Sozialkonstruktivismus

Sozialkonstruktivismus bezeichnet eine Metatheorie in der Soziologie, die auf dem 1966 erschienenen Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Originaltitel: The social construction of reality) von Peter L. Berger und Thomas Luckmann basiert.

Der Schwerpunkt des Sozialkonstruktivismus liegt darin, den Wegen nachzuspüren, wie die soziale Wirklichkeit und einzelne soziale Phänomene konstruiert werden. Die damit verbundene soziologische Methode untersucht, wie Menschen gesellschaftliche Phänomene erzeugen, institutionalisieren und diese durch die Weitergabe an neue Generationen in Traditionen überführen. Dabei geht es um die Beschreibung von Institutionen, um soziales Handeln usf., weniger aber um die Suche nach Ursachen und Wirkungen. Soziale Wirklichkeit wird als etwas dynamisch Prozesshaftes angesehen, das ständig durch das Handeln von Menschen und durch deren darauf bezogene Interpretationen und ihr Weltwissen produziert und reproduziert wird.

Viele spätere Forschungsrichtungen wie die Gender Studies und Cultural Studies beziehen sich auf Konzepte des Sozialkonstruktivismus.

Inhaltsverzeichnis

Anwendungen

Katastrophensoziologie

In der Katastrophensoziologie liegt angesichts der Vielgestalt von "Katastrophen" ein sozialkonstruktivistisches Herangehen nahe. Hier hat 2003 Robert Stallings verschiedene radikale und gemäßigte Ansätze analytisch und praktisch untersucht (in: Lars Clausen u.a., Hgg., Entsetzliche soziale Prozesse, Münster 2003).

Techniksoziologie

Zur Anwendung auf die Techniksoziologie siehe die Social Construction of Technology.

Wissenschaftssoziologie

In der Wissenschaftssoziologie wird mit "Sozialkonstruktivismus" die von Karin Knorr-Cetina und Bruno Latour eingeführte Idee bezeichnet, dass auch scheinbar objektive naturwissenschaftliche Tatsachen tatsächlich das Ergebnis von Prozessen der sozialen Konstruktion sind, und abhängig von der sozialen Situation des Labors, der Forschungseinrichtung etc.

Kritik

Die so genannte Sokal-Affäre wird (nicht nur als Argument gegen postmoderne Tendenzen in der Wissenschaft insgesamt, sondern auch) als Argument gegen den Sozialkonstruktivismus angeführt: Es wird davon gesprochen, dass mit Sokals "Scherz" demonstriert wurde, dass auch Sozialkonstruktivismus sozial konstruiert sei. In der Tat deutet Alan Sokal auf diese Zirkularität des Konstruktivismus ebenso hin, wie er anhand von mehreren Beispielen nachzuweisen versucht, dass das soziale Umfeld zwar eine (meist nur temporäre) Wirkung auf die naturwissenschaftliche Theorie haben kann, dass aber die weitaus wichtigeren und einflussreicheren Kriterien für oder gegen wissenschaftliche Theorien grundsätzlich aus wiederholbaren Experimenten und Beobachtungen stammen; die Konzeption, Umsetzung und Bewertung von Experimenten wird allerdings wiederum von Wissenschaftlern (=sozialen Wesen) durchgeführt, wie Karin Knorr-Cetina 1984 aufgezeigt hat, womit auch die Naturwissenschaften in einer Zirkularität des Kategorialen (s. Kategorien) gefangen sind.

Schließlich zeigt Sokal, dass Außenstehende aufgrund mangelnder Kenntnis meist gar nicht beurteilen können, aus welchen Gründen ein Erklärungsmodell gegenüber einem anderen bevorzugt wurde. So haben Ergebnisse, die von Anhängern des Sozialkonstruktivismus als "sozial motiviert" bezeichnet werden, tatsächlich meist einen plausiblen naturwissenschaftlichen Grund, der einem Laien allerdings nicht unmittelbar einsichtig ist. Jedoch ist genau diese Plausibilität ein untersuchtes sozialwissenschaftliches Objekt, da sie sich mit der Schließung (und damit sozialen Prozessierung) wissenschaftlicher Kontroversen beschäftigt. Dazu gibt es umfangreiche Studien des Wissenssoziologen Anthony Collins, welcher die soziale Konstruktion auch vermeintlich objektiver naturwissenschaftlicher Plausibilität aufzeigt.

Anthony Giddens wirft Berger und Luckmann die Vernachlässigung der Wirkung sozialer Strukturen und des Aspekts der verlaufenden Zeit vor. Diese beiden Aspekte seien grundlegend für die Verwendung sozialer Strukturen. Giddens' Alternativvorschlag ist seine sogenannte Theorie der Strukturierung.

Ian Hacking kritisiert im Rahmen einer Diskursanalyse der inzwischen sehr breiten und vielfältigen Tradition des Sozialkonstruktivismus u.a. die inflationäre und häufig unreflektierte Verwendung der Metapher der „sozialen Konstruktion“.[1] Er verweist auf eine Fülle von Studien, die nach dem Muster "Die soziale Konstruktion von X" verschiedenste Phänomene untersuchen. Zwar könne der Nachweis, dass etwas sozial konstruiert sei, z.B. befreiend wirken angesichts der vermeintlichen „Natur der Dinge“; auch habe die Metapher der sozialen Konstruktion lange Zeit eine schockierende Wirkung entfaltet,[2] indem einer herrschenden Ideologie eine Alternative vorgehalten wurde. Inzwischen habe sich die Metapher allerdings abgenutzt. So sei inzwischen fraglich, wie die untersuchten Phänomene überhaupt anders als „sozial“ konstruiert sein könnten, und welche Rolle die Bedeutung von "konstruieren" im Sinne von “Bauen“ oder “Zusammensetzen aus Teilen“ eigentlich spielt. Hacking fordert eine differenziertere Verwendung der Idee einer sozialen Konstruiertheit, was den Sozialkonstruktivismus deutlich eingrenzen würde.[3]

Anhang

Quellen

  1. Hacking, Ian: The Social Construction of What?, Cambridge (Massachusetts): Harvard University Press 1999.
  2. Hacking, Ian, ebd., S. 61.
  3. Hacking, Ian: Soziale Konstruktion beim Wort genommen, in: Vogel & Wingert (Hg.), Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003

Literatur

Weblinks

Siehe auch


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