- Deutsch-Chilenen
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Die Deutschen in Chile bzw. die Nachfahren deutscher Einwanderer (auch Deutsch-Chilenen, span. chileno-alemanes) bilden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart eine erkennbare Rolle im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben des Landes. Ihnen wird oft eine relevante Rolle bei der Herausbildung der chilenischen Nation zugesprochen.[1] Etwa 300.000 Chilenen stammen von Deutschen ab [2], für rund 20.000 ist deutsch auch heute noch die Muttersprache.
Das Kriterium für die Zugehörigkeit zu den Deutsch-Chilenen ist keines der Staatsangehörigkeit, sondern ein rein sprachliches. Daher werden auch die Nachfahren von Österreichern und Deutsch-Schweizern zu dieser Minderheit gezählt. Ihr Hauptsiedlungsgebiet sind die Regionen (Regiones) IX (de la Araucanía), XIV (de Los Ríos) und X (de Los Lagos) im sogenannten Kleinen Süden von Chile.
Inhaltsverzeichnis
Deutsche in der spanischen Kolonie
Die erste historische Erwähnung eines Deutschen in Chile führt in das 16. Jahrhundert zurück und fällt mit der spanischen Eroberung des Landes und der Gründung der heutigen Hauptstadt Santiago durch Pedro de Valdivia zusammen. Es handelt sich um Bartolomé Blumenthal alias Bartolomé Flores.
Einwanderung im 19. Jahrhundert
Öffnung des Landes nach der Unabhängigkeit 1810
Mit der Unabhängigkeit von Spanien 1810 fanden Kaufleute und Handelsreisende in zunehmendem Maß ihren Weg nach Chile. Zentrum der deutschen Kaufleute war Valparaíso. Dort entstand auch 1838 mit dem Deutschen Verein zu Valparaíso die erste von Deutschen gegründete Institution des Landes.
Noch bevor die chilenische Regierung 1848 erste konkrete Schritte zur Kolonisation einleitete, erreichte Rudolph Amandus Philippi in eigener Initiative, neun hessische Handwerkerfamilien für die Auswanderung nach Chile zu gewinnen. Bereits am 2. Mai 1843 erreichten die ersten 20 deutschen Einwanderer den Hafen von Puerto Hambre im äußersten Süden des heutigen Chile an der Magellanstraße. Sie trugen dazu bei, die chilenischen Ansprüche auf dieses bis dahin fast unbesiedelte Gebiet durchzusetzen.
Offiziell geförderte Einwanderung in den Kleinen Süden
Chile beanspruchte schon damals ein Gebiet bis zum Kap Hoorn. Das tatsächlich beherrschte Territorium endete im Süden aber schon am Río Bío Bío. Südlich davon lag das Land der Araukaner oder Mapuche, das schon die Spanier nicht dauerhaft hatten erobern können. Weiter südlich bestanden als Exklaven des chilenischen Territoriums nur noch die Stadt Valdivia und die Insel Chiloé. Um zu verhindern, dass europäische Mächte wie Frankreich oder Großbritannien das von Chile beanspruchte und nahezu unbesiedelte Land für sich in Besitz nehmen konnten, plante die chilenische Regierung die Ansiedlung von Kolonisten südlich des Herrschaftsbereichs der Mapuche in den damaligen Provinzen Valdivia und Llanquihue. Das am 18. November 1845 erlassene Gesetz zur Steuerung der Einwanderung (Ley de inmigración selectiva) erlaubte die Einwanderung und Besiedlung an den nördlichen und südlichen Grenzen des damaligen Chile: nördlich von Copiapó und südlich des Río Bío Bío. Als Einwanderer waren Europäer mittlerer und höherer Bildung vorgesehen.
Im August des Jahres 1846 trafen die ersten deutschen Einwanderer in Corral, dem Hafen Valdivias, ein und wurden auf von Indianern erworbenem Land angesiedelt.
Nach dem Ende der gescheiterten Deutschen Revolution von 1848/49 begann eine große Einwanderungswelle von Deutschen, die sich insbesondere in den damaligen Provinzen Valdivia und Llanquihue ansiedelten und Städte wie Puerto Montt, die Hauptstadt der heutigen Región de los Lagos, gründeten.
Als Vertreter der ersten geschlossenen deutschen Einwanderergruppe nach Chile legte Carl Anwandter 1851 folgendes Gelöbnis gegenüber dem chilenischen Einwanderungsagenten ab:
- „Wir werden ebenso ehrliche und arbeitsame Chilenen sein, wie nur der beste von ihnen es zu sein vermag. In die Reihen unserer neuen Landsleute eingetreten, werden wir unser Adoptiv-Vaterland gegen jeden fremden Angriff mit der Entschlossenheit und Tatkraft des Mannes zu verteidigen wissen, der sein Vaterland, seine Familie und seine Interessen verteidigt.“ [3]
Die im sogenannten Anwandter-Gelöbnis ausgedrückte Loyalität der deutschen Einwanderer gegenüber ihrer neuen Heimat bei gleichzeitigem Festhalten an den eigenen Traditionen ist bis in die Gegenwart für die Deutsch-Chilenen prägend geblieben.
Der Schwerpunkt der deutschen Besiedlung lag im Gebiet rund um den Llanquihue-See und die Stadt Osorno, das damals noch dicht bewaldet und völlig unerschlossen war. 1854 wurde in Osorno die heute älteste Deutsche Schule Südamerikas gegründet. Bis Mitte der 1870er Jahre ließen sich in diesem Gebiet etwa 6.000 deutsche Familien nieder. Bis heute existiert dort die einzige geschlossene deutsche Sprachsiedlung in Chile.
Die Universidad Austral de Chile betreibt in Frutillar am Llanquihue-See heute das Museo Colonial Alemán, ein Freiluftmuseum.
Kirche in Puerto Varas
Valdivia
Insbesondere die alte Provinzhauptstadt Valdivia profitierte von der Zuwanderung der Deutschen durch Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsaufschwung. Carl Anwandter gründete hier 1851 die erste Brauerei Chiles, 1852 die auch heute noch bestehende Freiwillige Feuerwehrkompanie Germania und 1858 die Deutsche Schule − das heute nach ihm benannte Instituto Alemán Carlos Anwandter auf der Isla Teja.
In Valdivia entstanden auch das erste Stahlwerk Chiles, Industrien des Waggonbaus, der Holzverarbeitung, der Lederherstellung und Werften. Schon Ende des 19. Jahrhunderts war Valdivia zum zweitgrößten Industriestandort des Landes geworden.
Der schwedische Botaniker Carl Skottsberg, der die Stadt 1907 im Rahmen einer Expedition nach Patagonien besuchte, beschrieb Valdivia als eine deutsche Stadt:
- Valdivia, situated at some distance from the coast, on the Calle-calle river, is a German town. Everywhere you meet German faces, German signboards and placards alongside the Spanish. There is a large German school, a church and various Vereine, large shoe-factories, and, of course, breweries...
Ihren Status als Industriemetropole büßte die Stadt erst teilweise 1909 durch einen Großbrand und dann endgültig durch das verheerende Erdbeben von 1960 ein. Aber auch nach den Zerstörungen von 1909 und 1960 ist noch heute der deutsche Einfluss in der Stadt unübersehbar.
Übernahme preußischer Traditionen in der chilenischen Armee
Die starke deutsche Gemeinde war 1885 nach dem erfolgreich geführten Salpeterkrieg ein entscheidender Faktor dafür, dass zur Modernisierung des Heeres deutsche Militärberater ins Land geholt wurden. Der preußische Artilleriehauptmann Emil Körner stieg im chilenischen Bürgerkrieg von 1891 zum General auf und wurde 1900 Generalinspekteur des chilenischen Heeres. Er war maßgeblich daran beteiligt, die chilenische Armee nach preußischer Art umzugestalten. Preußische Traditionen sind im chilenischen Heer teilweise bis heute erhalten geblieben.
Ausweitung der Einwanderung
Nach der gewaltsamen Unterwerfung der Mapuche 1883 wurde auch deren bisheriges Herrschaftsgebiet südlich des Río Bío Bío, das bis dahin die Landverbindung zwischen Zentralchile und dem Süden unterbrochen hatte, der Kolonisation für Einwanderer aus Europa geöffnet. Auch viele Deutsche ließen sich in der sogenannten Chilenischen Schweiz und der Gegend um Temuco nieder. So gründeten 48 deutsche Einwandererfamilien 1884 die Gemeinde San Luis de Contulmo.
Ebenso setzte allmählich eine Binnenwanderung der Nachkommen der ersten Einwanderer in die Städte ein. Junge Deutsch-Chilenen gingen zum Studieren nach Santiago. 1896 gründeten sie dort mit der Burschenschaft Araucania die erste deutsche Studentenverbindung in Lateinamerika.
Einwanderung im 20. Jahrhundert
Nachdem 1912 die Eisenbahnlinie zwischen Santiago und Puerto Montt fertiggestellt wurde, und das deutsche Siedlungsgebiet endgültig an die chilenischen Zentralregionen angeschlossen worden war, kam es zu einem stärkeren Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Regionen und damit zu einer verstärkten kulturellen Annäherung.[4]
Die Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland führte zu einer neuerlichen Einwanderungswelle. Nach 1933 verließen viele politische Flüchtlinge und deutsche Juden Deutschland und suchten eine neue Heimat. Aufgrund der bestehenden deutschsprachigen Gemeinde war Chile auch in dieser Zeit ein Ziel vieler Auswanderer. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es dann Nationalsozialisten, die Zuflucht in Südamerika fanden. Auch viele Heimatvertriebene aus den Ostgebieten verließen Deutschland in den 1940er und '50er Jahren und kamen nach Chile.
Anfang der '60er Jahre wanderte der Sektengründer Paul Schäfer mit etwa 200 Anhängern nach Chile aus und gründete bei Parral die Colonia Dignidad.
Heutige Situation
Deutsche Sprache
Heute wird die deutsche Sprache noch von etwa 20.000 Einwohnern Chiles im täglichen Leben verwendet. Die Tendenz ist seit Jahrzehnten abnehmend. Als Schuldiger daran wird teilweise die auswärtige Schulpolitik Deutschlands ausgemacht.[5]
Aber auch die Zunahme gemischtsprachiger Ehen führt zur Schwächung der deutschen Sprachkenntnisse in der nächsten Generation. Insbesondere Kinder deutschsprachiger Väter und spanischsprachiger Mütter sprechen spanisch als Muttersprache und lernen deutsch häufig nur noch als Fremdsprache kennen. Ein Grund für diese Zunahme gemischter Ehen ist die sinkende Bedeutung der Konfessionen im öffentlichen Leben. Die Katholiken unter den deutschen Einwanderern assimilierten sich bereits im 19. Jahrhundert weit stärker an die ebenfalls katholische Mehrheitsbevölkerung als die Protestanten.
Rund um den Llanquihue-See hat sich eine Varietät des Deutschen entwickelt. Das sogenannte Launa-Deutsch ist von zahlreichen spanischen Interferenzen beeinflusst.
Deutsche Schulen
Es gibt in Chile 23 Deutsche Schulen, die zusammengenommen von etwa 15.000 Schülern besucht werden. Von diesen Schulen erhalten zur Zeit 21 unterschiedlich starke finanzielle und personelle Unterstützung durch das deutsche Bundesverwaltungsamt. An vier Schulen wird Unterricht in deutscher Sprache angeboten, die anderen unterrichten deutsch nur noch als erste Fremdsprache.[6]
In Santiago gibt es außerdem eine zweisprachige Schweizer Schule.
Siehe auch: Liste deutscher Schulen im Ausland
Vereinswesen
Die deutschen Einwanderer gründeten in ihrer neuen Heimat eine große Anzahl von Vereinen. In fast jeder Stadt des kleinen Südens gibt es einen Club Alemán. Die Protestanten unter den Einwanderern gründeten im sonst rein katholischen Chile ihre eigenen Kirchengemeinden und dazugehörende Schulen. Auch die ersten Freiwilligen Feuerwehren wurden von Deutschen gegründet.
Der Deutsch-Chilenische Bund (DCB), eine Art Dachverband der Deutschen Vereine, versucht, den Zusammenhalt der deutschsprachigen Minderheit über den Erhalt der deutschen Sprache und Kultur zu fördern. Der DCB gibt mit der Wochenzeitung Cóndor die auflagenstärkste deutschsprachige Zeitung Chiles heraus.
Insgesamt acht Studentenverbindungen deutscher Tradition, davon fünf Burschenschaften und drei Mädchenschaften, setzen sich für den Erhalt der deutschen Sprache ein.
Die Brauerei Kunstmann in Valdivia braut noch heute nach dem Deutschen Reinheitsgebot
Bekannte Chilenen deutscher Herkunft
- Marlene Ahrens (*1933), Leichtathletin
- Carl Anwandter (1801−1889), Vertreter der ersten deutschen Einwanderergruppe
- Bartolomé Blumenthal (1506−1585), Konquistador
- Eduardo Frei Montalva (1911−1982), Präsident 1964−1970
- Eduardo Frei Ruiz-Tagle (*1942), Präsident 1994−2000
- Hans Gildemeister (*1956), Tennisspieler
- Óscar Hahn (*1938), Lyriker
- Tomás Hirsch (*1956), Politiker
- Emil Körner (1846−1920), Generalinspekteur des Heeres 1900−1910
- Fernando Matthei (*1925), Mitglied der Militärjunta, Gesundheitsminister und General der Luftwaffe
- Manfred Max-Neef (*1932), Ökonom, Träger des Alternativen Nobelpreises
- Bernhard Eunom Philippi (1811−1852), Kolonisationsbeauftragter der chilenischen Regierung
- Rudolph Amandus Philippi (1808−1904), Professor der Botanik und Zoologie
- René Schneider (1913−1970), General, Oberbefehlshaber der Streitkräfte
Siehe auch
Einzelnachweise
- ↑ Kerstin Hein: Hybride Identitäten. Bastelbiographien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa. transcript Verlag, 2006. S. 130.
- ↑ Oliver Zöllner: „Generating Samples of Diasporic Minority Populations: A Chilean Example.“ In: Targeting International Audiences: Current and Future Approaches to International Broadcasting Research (CIBAR Proceedings, Vol. 3) (englisch)
- ↑ zitiert nach Rede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde in der "Universidad Austral", 25. November 2003, Valdivia
- ↑ Kerstin Hein: Hybride Identitäten. Bastelbiographien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa. transcript Verlag, 2006. S. 124
- ↑ Kerstin Hein: Hybride Identitäten. Bastelbiographien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa. transcript Verlag, 2006. S. 132.
- ↑ Deutsche Botschaft Santiago de Chile: Deutsche Schulen
Literatur
- Jean-Pierre Blancpain: Les Allemands au Chili (1816−1945). Köln u.a.: Böhlau, 1974. ISBN 3-412-01674-8
- Kerstin Hein: Hybride Identitäten. Bastelbiographien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa. transcript Verlag, 2006. (Buchauszüge online)
- Karl Ilg: Pioniere in Argentinien, Chile, Paraguay und Venezuela. Durch Bergwelt, Urwald und Steppe erwanderte Volkskunde der deutschsprachigen Siedler. Innsbruck: Tyrolia-Verl., 1976. ISBN 3-7022-1233-7
- Gerardo J. Ojeda Ebert: Deutsche Einwanderung und Herausbildung der chilenischen Nation (1846−1920). München: Fink, 1984. ISBN 3-770522397
- Katharina Tietze de Soto: Deutsche Einwanderung in die chilenische Provinz Concepción : 1870−1930. Frankfurt a. M.: Vervuert, 1999. ISBN 3-89354-162-4
- Irmtrud Wojak: Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und die politische Emigration während des Nationalsozialismus 1933−1945. Berlin, 1994.
- Oliver Zöllner: „Generating Samples of Diasporic Minority Populations: A Chilean Example.“ In: Targeting International Audiences: Current and Future Approaches to International Broadcasting Research (CIBAR Proceedings, Vol. 3) (online)
Weblinks
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