Enthymem

Enthymem

Das Enthymem (gr.: ἐνθύμημα enthýmema - das Erwogene, das Beherzigte, das Argument) ist ein auf Aristoteles zurückgehender Begriff der Rhetorik bzw. der Argumentationslehre.

Man spricht auch von einem "enthymemischen Wahrscheinlichkeitsschluss"[1] oder "rhetorischen" oder "dialektischen" Schluss[2], d.h. einem Schluss mit nicht ausgesprochenen Prämissen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Bei Anaximenes von Lampsakos findet sich die erste Behandlung einer Theorie des Enthymems, und zwar in der pseudo-aristotelischen Schrift Rhetorik an Alexander. Dort ist das Enthymem ein Überzeugungsmittel, das den Nachweis führt, dass der Gegner sich selbst widerspricht oder seine Aussagen oder Handlungen gegen gesellschaftlich-moralische Grundsätze verstoßen (im Gegensatz zu den eigenen).[3]

Am nachhaltigsten prägte Aristoteles den Begriff. Wegen Mehrdeutigkeiten und interpretatorischen Missverständnissen finden sich in der darauffolgenden Rhetoriktradition und bis heute jedoch Enthymembegriffe, die sich untereinander und mit seinem Begriff widersprechen.

In Aristoteles' Rhetorik ist das Enthymem das wichtigste Überzeugungsmittel, nämlich der rhetorische Beweis, bei dem die Prämissen von den Zuhörern anerkannte Meinungen sind. Die Prämissen von Enthymemen behandeln keine wissenschaftlichen Gegenstände, die entsprechend zumeist nicht notwendig und allgemein gelten, sondern nur in der Regel. Aristoteles charakterisiert das Enthymem zudem so, dass sie ein Argument aus Wahrscheinlichem und Zeichen sind (An. pr. II 27 70a2). Vermutlich meint dies Folgendes: Wegen der behandelten Gegenstände gelten die Prämissen des Enthymems (fast immer) nicht notwendig (anders als wissenschaftliche Prämissen). In der Folge gilt auch die Konklusion nur wahrscheinlich (necessitas consequentis). In der Tradition wurde aber auch die Art der Folgerungsbeziehung als bloß wahrscheinlich aufgefasst (necessitas consequentiae). In diesem Fall wären Enthymeme gar keine zwingend gültigen Schlüsse.[4] Neben den logisch notwendigen Enthymem kennt Aristoteles auch die Sonderform bestimmter Indizienschlüsse, die nicht notwendig gelten (wie etwa: 'Es hat geregnet, denn die Straße ist nass').[5]

Aristoteles erläutert, dass wegen der Redesituation und der Zielgruppe Enthymeme kürzer seien als andere Argumente. Oftmals würden daher Prämissen ausgelassen, die allen bekannt seien. (Rhet. I.2, 1357a7-18) Die Forderung, das Enthymem müsse weniger Prämissen haben, führt zur so genannten syllogismus truncatus-Lehre, das Enthymem bestehe aus einer Prämisse. Denn diese Forderung wurde vor dem Hintergrund der Syllogismus-Theorie des Aristoteles verstanden, in der ein Argument immer aus zwei Prämissen besteht. Diese Ansicht ist für das Mittelalter kennzeichnend, findet sich schon bei Avicenna und Al-Farabi und geht möglicherweise auf Alexander von Aphrodisias zurück.[6]

Heutige Verwendung

In der Rede wird die vierteilige Struktur des strengen Syllogismus nur selten angewandt, sondern das Argument wird auf drei oder zwei Schritte reduziert; der fehlende Rest (die Proposition, eine der beiden Prämissen oder auch die Konklusion) wird vom Zuhörer "in Gedanken" ergänzt. In vielen Schriften zur Rhetorik wird speziell nur dieser verkürzte Beweisgang Enthymem genannt, der vollständige Beweis heißt dann, wenn auch nicht im aristotelischen Sinne, Syllogismus.

Zum Teil wird der enthymemische Wahrscheinlichkeitsschluss vom bewussten Trugschluss ("eristischer Syllogismus") unterschieden[7] und lediglich darauf hingewiesen, dass verkürzte Schlüsse für die persuasive Argumentation und Werbesprache charakteristisch sind[8]. Anderenorts[9] wird darauf hingewiesen, dass die Verkürzung des Beweisganges der bewussten Verschleierung einer Schwäche des Arguments dienen kann, wenn z. B. eine Prämisse weggelassen wird, die, wenn man sie ausformulierte, dem Zuhörer unglaubhaft erscheinen müsste.

Beispiele

Aus dem Alltag

a) vollständig:

Es wird Regen geben (Proposition/Beweisziel); denn wenn der Luftdruck fällt, gibt es Regen (erste Prämisse/Obersatz). Nun ist der Luftdruck gefallen (zweite Prämisse/Untersatz), also wird es regnen (Konklusion/Schlussfolgerung).

b) verkürzt:

  • Es wird Regen geben; der Luftdruck ist gefallen.
  • Der Luftdruck ist gefallen; du weißt, wenn der Luftdruck fällt, gibt es Regen.

Bewusste Verschleierung

Er ist nicht bestechlich. Schließlich ist er Beamter. (Es fehlt die Prämisse: Kein Beamter ist bestechlich.)

Literatur

  • Brun, Georg; Gertrude Hirsch Hadorn: Textanalyse in den Wissenschaften. - Zürich: vdf 2009 (UTB Nr. 3139), S. 222-229.

Quellen

  1. Metzler Philosophielexikon, 2. Aufl. (1999)/Enthymem
  2. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Aufl. (2002)/Enthymem
  3. Ludger Jansen: enthymêma, in: Christoph Horn / Christof Rapp (Hgg.): Wörterbuch der antiken Philosophie München 2002, S. 137.
  4. Christof Rapp: Aristoteles. Rhetorik, Berlin 2002, Bd, II: S. 194-208.
  5. Christof Rapp: Aristotle’s Rhetoric, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2002 Edition), Edward N. Zalta (Hg.). Christof Rapp: Aristoteles. Rhetorik, Berlin 2002, Bd. 1: S. 323–335. Bd. II: 223–240.
  6. Christof Rapp: Aristoteles. Rhetorik, Berlin 2002, Bd. 2: S. 187f. Ob Quintilians syllogismus imperfectus (Inst. orat. V 10,3) bereits so verstanden werden kann, ist unsicher. Vgl. ebd. S. 188.
  7. Metzler Philosophielexikon, 2. Aufl. (1999)/Enthymem
  8. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Aufl. (2002)/Enthymem
  9. So die Vorgängerversion hier.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Enthymēm — (gr), 1) Schluß ohne die vollständige Form des logischen Schlusses, s. Beweis 3); 2) Schluß aus dem Gegentheil; 3) Sentenz in Gegensätzen …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Enthymēm — (griech.), Betrachtung, Reflexion; in der Logik ist E. ein abgekürzter Syllogismus, bei dem entweder der Ober (E. der ersten) oder der Untersatz (E. der zweiten Ordnung) weggelassen, d.h. bloß in Gedanken hinzugefügt wird. Vgl. Schluß …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Enthymem — En|thy|mem 〈n. 11; Philos.〉 unvollständiger Schluss, dessen Voraussetzung in Gedanken zu ergänzen ist [zu grch. enthymeistai „zu Herzen nehmen, zu Gemüte ziehen“, eigtl. „das zu Beherzigende“] * * * Enthymem   [griechisch »(rhethorischer)… …   Universal-Lexikon

  • Enthymem — En|thy|mem 〈n.; Gen.: s, Pl.: e; Philos.〉 unvollständiger Schluss, dessen Voraussetzung in Gedanken zu ergänzen ist [Etym.: zu grch. enthymeistai »zu Herzen nehmen, zu Gemüte ziehen«, eigtl. »das zu Beherzigende«] …   Lexikalische Deutsches Wörterbuch

  • Enthymem — En|thy|mem das; s, e <über lat. enthymema aus gleichbed. gr. enthýmēma, eigtl. »das Überlegte; Gedanke«> Wahrscheinlichkeitsschluss, unvollständiger Schluss (bei dem eine Prämisse fehlt, aber in Gedanken zu ergänzen ist; Philos.) …   Das große Fremdwörterbuch

  • Drei Bücher der Rhetorik — Die Rhetorik (griechischer Titel: τέχνη ῥητορική, téchnē rhētorikē) ist eines der Hauptwerke des Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.). Sie enthält eine systematische Abhandlung der Rhetorik, also der Kunst, durch Rede zu überzeugen.… …   Deutsch Wikipedia

  • Rhetorik (Aristoteles) — Die Rhetorik (griechischer Titel: τέχνη ῥητορική, téchnē rhētorikē) ist eines der Hauptwerke des Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.). Sie enthält eine systematische Abhandlung der Rhetorik, also der Kunst, durch Rede zu überzeugen.… …   Deutsch Wikipedia

  • Aristotelisch — Aristoteles Büste Aristoteles (griechisch Ἀριστoτέλης, * 384 v. Chr. in Stageira (Stagira) auf der Halbinsel Chalkidike; † 322 v. Chr. in Chalkis auf der Insel Euboia …   Deutsch Wikipedia

  • Der Philosoph — Aristoteles Büste Aristoteles (griechisch Ἀριστoτέλης, * 384 v. Chr. in Stageira (Stagira) auf der Halbinsel Chalkidike; † 322 v. Chr. in Chalkis auf der Insel Euboia …   Deutsch Wikipedia

  • Der Stagirit — Aristoteles Büste Aristoteles (griechisch Ἀριστoτέλης, * 384 v. Chr. in Stageira (Stagira) auf der Halbinsel Chalkidike; † 322 v. Chr. in Chalkis auf der Insel Euboia …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”