- Avicenna
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Abū Alī al-Husayn ibn Abdullāh ibn Sīnā, latinisiert Avicenna (persisch ابو علی سینا – Abū ʿAlī Sīnā; arabisch ابن سينا - ibn Sīnā; * 980 in Afschana; † Juni 1037 in Hamadan) war ein persischer Arzt, Physiker, Philosoph, Jurist, Mathematiker, Astronom und Alchemist. Er zählte zu den berühmtesten Persönlichkeiten seiner Zeit. Einige seiner philosophischen Ausarbeitungen wurden von späteren Mystikern des Sufismus rezipiert.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Jugend und Ausbildung
Ibn Sinas Vater war ein aus Balch, Chorasan, stammender ismailitischer Steuereintreiber, der sich in Afschana bei Buchara im persischen Samanidenreich – heute Usbekistan – niederließ und dort Ibn Sinas Mutter Setara heiratete. Ibn Sina und ein Bruder wurden in Afschana geboren, anschließend zog die Familie nach Buchara.
Da seine Muttersprache Persisch war, lernte er zuerst Arabisch, die damalige Lingua franca. Danach wurden ihm zwei Lehrer zugewiesen, die ihm den Koran und Literatur näher bringen sollten. Bereits im Alter von zehn Jahren konnte er den Koran auswendig und hatte viele Werke der Literatur studiert und sich dadurch die Bewunderung seiner Umgebung erworben. Während der nächsten sechs Jahre studierte er autodidaktisch die Rechte (Jura), Philosophie, Logik, Werke von Euklid und den Almagest. Von einem gelehrten Gemüsehändler lernte er indische Mathematik und Algebra. Er wandte sich im Alter von 17 Jahren der Medizin zu und studierte sowohl ihre Theorie als auch ihre Praxis. Er beschrieb die Heilkunst als „nicht schwierig“. Ibn Sina vertiefte sich auch in metaphysische Probleme, besonders in die Werke des Aristoteles, wobei ihm die Schriften von al-Farabi besonders halfen.
Da er sich im Alter von 18 Jahren bereits einen Ruf als Arzt erarbeitet hatte, nahm ihn der samanidische Herrscher Nuh ibn Mansur (976–997) in seine Dienste auf. Zum Dank wurde ihm erlaubt, die königliche Bibliothek mit ihren seltenen und einzigartigen Büchern zu nutzen. Durch die Benutzung der Bibliothek gelang es ihm, im Alter von 21 Jahren sein erstes Buch zu verfassen.
Die Wanderjahre
Ibn Sina verlor 1002 seinen Vater und 1004 mit dem Aussterben der samanidischen Dynastie seine Anstellung. Er verließ Buchara und wanderte westwärts durch die Provinzen von Nischapur und Merv in Chorasan. In Kath diente er einige Zeit dem Choresm-Schah Ali ibn Mamun, dem Herrscher des reichen Oasengebiets südlich des Aralsees, floh aber schnell, um nicht in den Dienst des Sultans Mahmud von Ghazni treten zu müssen. Nach vielen Wanderungen und Diensten bei verschiedenen Herrschern kam er nach Gorgan (arabisch: Jurjan) nahe dem Kaspischen Meer, angezogen vom Ruhm des dortigen Herrschers Qabus, der als Förderer der Wissenschaft galt. Der Fürst wurde jedoch nach Ibn Sinas Ankunft ermordet. In Gorgan hielt Ibn Sina Vorlesungen in Logik und Astronomie. Er schrieb den ersten Teil des Qanun und traf hier seinen Freund und Schüler al-Juzjani.
Danach gründete er in Rayy, in der Nähe des heutigen Teheran, eine medizinische Praxis und verfasste 30 kurze Werke. Als Rayy belagert wurde, floh Ibn Sina nach Hamadan. Dort behandelte er eine reiche Frau, wurde Leibarzt und medizinischer Berater des Emirs Schams ad-Daula und stieg schließlich zu dessen Großwesir auf. Eine Meuterei von Soldaten führte zu seiner Absetzung und Verhaftung. Doch als der Emir wieder einmal an einer Kolik litt, soll Ibn Sina zur Behandlung herangezogen und nach erfolgreicher Heilung freigelassen und wieder in sein altes Amt eingesetzt worden sein.
Sein Leben in jener Zeit war äußerst anstrengend; tagsüber war er mit Diensten für den Emir beschäftigt, während er einen großen Teil der Nächte mit Vorlesungen und dem Diktieren von Notizen für seine Bücher verbrachte. Studenten sammelten sich in seinem Haus, um Ausschnitte aus seinen zwei Hauptwerken zu lesen, 'Kitab asch-Schifa' und den Qanun.
Alter in Isfahan
Nach dem Tod des Emirs bot Ibn Sina Abu Yafar, dem Wesir des Herrschers Isfahans, seine Dienste an und wurde deswegen vom neuen Herrscher Hamadans in dessen Burg eingekerkert. Schließlich konnte Ibn Sina jedoch 1024 mit seinem Freund al-Juzjani und zwei Sklaven nach Isfahan zu den Kakuyiden entkommen, wo ihn der Fürst willkommen hieß. Er verbrachte seine letzten Jahre im Dienst des Herren der Stadt Ala ad-Daula Abu Dschafar Muhammad, den er in wissenschaftlichen und literarischen Fragen beriet. Ihm widmete er eine Zusammenfassung der Philosophie in persischer Sprache namens „Danischnama-yi Alai“ (Das Buch des Wissens für Ala ad-Daula). Außerdem begleitete er ihn auf Kriegszügen. Freunde rieten ihm, sich zu schonen und ein gemäßigtes Leben zu führen, aber das entsprach nicht seinem Charakter. „Ich habe lieber ein kurzes Leben in Fülle als ein karges langes Leben“ antwortete er. Erschöpft durch seine harte Arbeit und sein hartes Leben starb Ibn Sina im Juni 1037 im Alter von 57 Jahren entweder an der Ruhr oder an Darmkrebs. Angeblich wurde sein Ende durch eine übermäßige Gabe eines Medikaments durch einen Schüler beschleunigt. Er wurde in Hamadan begraben, wo noch heute sein Grab gezeigt wird.
Werke
Es wird behauptet, dass Ibn Sina 21 Haupt- und 24 Nebenwerke in Philosophie, Medizin, Theologie, Geometrie, Astronomie und anderen Gebieten vollendet hat. Andere Autoren schreiben Ibn Sina 99 Bücher zu: 16 über Medizin, 68 über Theologie und Metaphysik, 11 über Astronomie und 4 über das Drama. Die meisten von ihnen waren arabisch; aber auch in seiner Muttersprache Persisch schrieb er eine große Auswahl philosophischer Lehren, genannt Danischnama-yi Alai, und eine kurze Abhandlung über den Puls.
Medizin
Der Qanun at-Tibb (Kanon der Medizin) ist das bei weitem berühmteste von Ibn Sinas Werken. Er vereint griechische, römische und persische medizinische Traditionen. Das Werk ist mehrfach unterteilt. Die Hauptunterteilung sind die fünf Bücher:
- Allgemeine Prinzipien (Theorie der Medizin)
- Alphabetische Auflistung von Medikamenten (Arzneimittel und ihre Wirkungsweise)
- Krankheiten, die nur spezielle Organe betreffen (Pathologie und Therapie)
- Krankheiten, die sich im ganzen Körper ausbreiten (Chirurgie und Allgemeinkrankheiten)
- Produktion von Heilmitteln (Antidotarium)
Im Qanun wird beschrieben, dass Tuberkulose ansteckend ist und dass Krankheiten von Wasser und Erde übertragen werden können. Er gibt eine wissenschaftliche Diagnose von Ankylostomiasis (Hakenwurmbefall) und beschreibt die Bedingungen des Auftretens von Eingeweidewürmern. Der Qanun behandelt die Wichtigkeit von Diäten, den Einfluss des Klimas und der Umwelt auf die Gesundheit und den chirurgischen Gebrauch von oraler Anästhesie. Ibn Sina rät Chirurgen, Krebs in seinen frühesten Stadien zu behandeln und sicherzustellen, dass alles kranke Gewebe entfernt worden ist. Des Weiteren wird die Anatomie des Auges richtig beschrieben, und es werden verschiedene Augenkrankheiten (wie Katarakt) beschrieben. Außerdem werden Symptome ansteckender und sexuell übertragbarer Krankheiten genannt sowie auch diejenigen von Diabetes mellitus. Das Herz wird als Pumpe aufgefasst.
Die Materia Medica („Medizinisches Material“) des Qanun enthält 760 Medikamente mit Angaben zu deren Anwendung und Wirksamkeit. Ibn Sina war der erste, der Regeln aufstellte, wie ein neues Medikament zu prüfen sei, bevor es Patienten verabreicht wird.
Ibn Sina bemerkte die enge Beziehung zwischen Gefühlen und dem körperlichen Zustand und befasste sich mit der positiven physischen und psychischen Wirkung der Musik auf Patienten. Zu den vielen psychischen Störungen, die er im Qanun beschreibt, gehört auch die Liebeskrankheit. Wie es heißt, hat Ibn Sina die Krankheit des Prinzen von Gorgan diagnostiziert, der bettlägerig war und dessen Leiden die örtlichen Ärzte verwirrte. Ibn Sina bemerkte ein Flattern im Puls des Prinzen, als er die Adresse und den Namen seiner Geliebten erwähnte. Der große Arzt hatte ein einfaches Heilmittel: Der Kranke sollte mit seiner Geliebten vereint werden.
Im 12. Jahrhundert wurde der Kanon von Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt. Das Werk, von dem 1470 im gesamten Abendland 15–30 lateinische Ausgaben existierten, galt bis ins 17. Jahrhundert als wichtiges Lehrbuch der Medizin. 1493 erschien es in Neapel hebräischen Fassung, 1593 wurde es als eines der ersten Persischen Werke in Rom in arabischer Sprache gedruckt. 1650 wurde der Kanon zum letzten Mal an den Universitäten von Löwen und Montpellier benutzt.
Neben dem Kanon gibt es noch 15 medizinische Werke Ibn Sinas, von denen acht in Versen geschrieben sind. Sie enthalten unter anderem die 25 Zeichen der Erkennung von Krankheiten, hygienische Regeln, nachgewiesene Arzneien, anatomische Notizen. Unter seinen Prosa-Werken findet die Abhandlung über Herzmedikamente besondere Beachtung.
Naturwissenschaft
Ibn Sina beschäftigte sich auch mit anderen Naturwissenschaften. In der Astronomie arbeitete er seinem Schüler al-Juzjani zufolge an Ptolemäus’ Sternenmodell und vermutete, dass die Venus der Erde näher stehe als die Sonne. Die Astrologie lehnte er ab, weil ihre Brauchbarkeit nicht empirisch nachweisbar sei und sie mit der islamischen Theologie unvereinbar sei. Ibn Sina zitierte einige Passagen aus dem Koran, um dieses Urteil religiös zu untermauern. Als Chemiker erfand er die Wasserdampfdestillation, um Öle zu erzeugen. Andererseits stand er der damaligen Chemie, der Alchemie, relativ skeptisch gegenüber und glaubte nicht an einen Stein der Weisen. Seine vier Werke über Alchemie beeinflussten Wissenschafter wie Vinzenz von Beauvais. In der Geologie gab er zwei Ursachen für die Entstehung von Bergen an: „Entweder entstehen sie durch das Aufbäumen von Erdschichten, wie es bei schweren Erdbeben geschieht, oder sie sind die Folge von Wasser, das neue Wege suchte und Täler herausgewaschen hat, wo weichere Gesteinsschichten zu finden sind … Dies muss jedoch eine große Zeit in Anspruch nehmen, in der die Berge selbst geringer werden könnten.“ Auch in der Physik war Avicenna vielfältig tätig; so verwendete er Thermometer, um die Temperatur bei seinen Experimenten zu messen, und stellte eine Theorie über Bewegung auf. Darin befasste er sich mit der Kraft und der Bahnneigung eines Geschosses und zeigte, dass ein Geschoss sich in einem Vakuum ewig fortbewegt. In der Optik argumentierte er, dass die Lichtgeschwindigkeit endlich sei und gab eine Beschreibung des Regenbogens.
Philosophie
Ibn Sina beschäftigte sich ausgiebig mit philosophischen Fragen, sowohl mit Metaphysik als auch mit Logik und Ethik. Seine Kommentare zu Werken des Aristoteles enthielten konstruktive Kritik an dessen Auffassungen und schufen Voraussetzungen für eine neue Aristoteles-Diskussion. Ibn Sinas philosophische Lehren werden sowohl von westlichen als auch von muslimischen Forschern als weiterhin aktuell eingeschätzt. Während westliche Wissenschaftler ihn oft als Rationalisten in der Nachfolge von Aristoteles sehen, neigen muslimische Forscher eher dazu, ihn als Mystiker zu betrachten.
Werke
Ibn Sina schrieb seine frühesten Arbeiten in Buchara unter dem Einfluss von al-Farabi. Das erste, ein "Kompendium über die Seele" (Maqala fi ’n-nafs), ist eine kurze Abhandlung, die er den samanidischen Herrschern widmete und in der er sich mit neuplatonischem Gedankengut beschäftigte. Das zweite ist die „Philosophie für den Prosodisten“ (al-Hikma al-´Arudiya), in der er sich mit der Metaphysik des Aristoteles auseinandersetzt.
Nach seinem Aufbruch aus Buchara verfasste Ibn Sina weitere philosophische Werke, darunter das "Buch der Heilung" (arabisch: Kitab asch-Schifa), eine wissenschaftliche Enzyklopädie. Trotz des irreführenden deutschen Titels handelt es nicht hauptsächlich von Medizin. Die Bedeutung des arabischen Titels ist etwa „Angemessenheit“. Das Buch behandelt Arithmetik, Astronomie, Geometrie, Logik, Musik, Naturwissenschaften, Philosophie und Psychologie. Es wurde sowohl von hellenistischen Denkern wie Aristoteles und Claudius Ptolemäus als auch von muslimischen Wissenschaftlern wie al-Farabi und al-Biruni beeinflusst. Das zweite war das „Buch des Wissens für Ala ad-Daula“, in dem er seinem Gönner eine Zusammenfassung seiner Philosophie auf der Grundlage des „Buchs der Heilung“ bietet. Ein Teil dieses Werks erschien 1490 in Pavia.
Avicenna verfasste außerdem das „Buch der Ratschläge und Erinnerungen“ (Kitab al-Ischarat wa-t-tanibihat), ein Werk, das sein Denken über eine Vielzahl von logischen und metaphysischen Themen vorstellt. Ein anderes Werk ist „Das Urteil“ (al-Insaf), das sich von den anderen Arbeiten durch seine Radikalität und seine Vermischung von aristotelischem Gedankengut und Neuplatonismus unterscheidet. Sein letztes Werk ist „Die östliche Philosophie“ (al-Hikma al-maschriqiya), das er in den späten 1020ern schrieb; es ist weitgehend verloren.
Metaphysik
Die frühe islamische Philosophie, die sich noch eng am Koran orientierte, unterschied klarer als Aristoteles zwischen Wesen und Existenz. Ibn Sina entwickelte eine umfassende metaphysische Weltbeschreibung, indem er neuplatonisches Gedankengut mit aristotelischen Lehren verband. Das Verhältnis von Stoff und Form verstand er so, dass im Stoff (materia) die Möglichkeiten der Formen (essentiae) bereits enthalten sind. Gott sei notwendig an sich, alles andere Sein notwendig durch anderes. «Gott ist das einzige Sein, bei dem Essenz (Wesen) und Existenz (Dasein) nicht zu trennen sind und das daher notwendig an sich ist.» Alles andere Sein sei bedingt notwendig und lasse sich in Ewiges und Vergängliches unterteilen. Gott schuf durch seine geistige Tätigkeit die Weltschöpfung. Der Intellekt des Menschen habe die Aufgabe, den Menschen zu erleuchten. In der Frage der Ideen oder Allgemeinbegriffe vertrat Ibn Sina auf Platon aufbauend die These, dass diese ante rem (also vor der Erschaffung der Welt) bereits im Verstand Gottes sind, in re effektiv in der Natur zu finden sind und post rem auch in der menschlichen Erkenntnis. Mit dieser Unterscheidung zwischen ante rem, in re und post rem wurde Ibn Sina für den abendländischen Universalienstreit von großer Bedeutung. Ibn Sina bestritt die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Gottes Interesse an Einzelereignissen sowie eine Erschaffung der Welt in der Zeit.
Drei lateinische Fassungen der Metaphysik wurden 1493, 1495 und 1546 in Venedig gedruckt.
Logik
Ibn Sina widmete sich der Logik sowohl in islamischer Philosophie als auch in Medizin mit großer Hingabe und entwickelte sogar ein eigenes logisches System, das auch als „Avicennische Logik“ bezeichnet wird. So war Ibn Sina wohl einer der ersten, die es wagten, Aristoteles zu kritisieren und von ihm unabhängige Abhandlungen zu verfassen. Besondere Kritik erhielt die Schule von Bagdad von ihm, da sie sich zu sehr auf Aristoteles begründete. Er untersuchte die Theorien von Definition und Klassifikation, sowie die Quantifikation von Prädikaten und kategorische logische Aussagen. Den Syllogismen, d. h. den logischen Schlüssen bestehend aus zwei Prämissen und einer Konklusion (z. B. Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch – Daher ist Sokrates sterblich), gab er Veränderungsformen wie „immer“, „meistens“ oder „manchmal“ bei. Im Hypothetischen Syllogismus, ebenso bestehend aus drei Sätzen bei denen sowohl der erste als auch der zweite dieselbe Konsequenz haben (Wenn ich nicht aufstehe, verliere ich meine Arbeit. Wenn ich nicht arbeite, habe ich kein Geld – Daher habe ich kein Geld, wenn ich nicht aufstehe) entwickelte er eine neue Theorie, die die Basis zur Risikofaktoranalyse bildete. In der Frage der Induktion bzw. Deduktion war Ibn Sina gewissermaßen gespalten. Während er in der Philosophie sich auf die Deduktion verließ, d. h. von einem allgemein gültigen Satz auf Spezialformen schloss (z. B. Alle Menschen sind sterblich – Daher ist auch Sokrates sterblich), wendete er in der Medizin als einer der ersten die Methode der Induktion an. Er schloss von der Diagnose eines spezifischen Syndroms auf viele andere Syndrome. Damit begründete er eine neuartige wissenschaftliche Methode.
Theologie
Ibn Sina hatte in Buchara einen Großteil seiner Ausbildung für den Koran und die islamische Religion verwendet. Es heißt er habe bereits mit 10 Jahren den Koran auswendig gekannt. Zeitlebens war er ein frommer Muslim, der sich streng an die Scharia hielt. Er verfasste fünf Abhandlungen über verschiedene Suren, die generell voll Respekt sind. Nur seine philosophischen Tätigkeiten brachten ihn manchmal in Konflikt mit der islamischen Orthodoxie: Ausgehend von der Seelenlehre des Aristoteles differenzierte er die drei Seelenvermögen weiter aus und ordnete sie der Weltseele unter. Damit widersprach er zentralen Glaubensinhalten, was ihm die Feindschaft sunnitischer Theologen einbrachte. Wie die christlichen Scholastiker nach ihm versuchte Ibn Sina die griechische Philosophie mit seiner Religion, die Vernunft mit dem Glauben zu verbinden. So benutzte er philosophische Lehren um die islamischen Glaubenssätze wissenschaftlich zu unterlegen. Obwohl er sowohl Religion als auch Philosophie als zwei notwendige Teile der ganzen Wahrheit auffasste, argumentierte er, dass die islamischen Propheten mehr Bedeutung als die antiken Philosophen haben sollten.
Die lateinische Tradition
Der Kanon wurde um die Mitte des 12. Jahrhunderts von Gerhard von Cremona in Toledo ins Lateinische übersetzt. Indem Gerhard den Namenszusatz al-raïs mit princeps („Fürst“) und im Explicit des Kanons mit rex („König“) übersetzte, trug er zu der besonders in Italien seit dem 14. Jahrhundert verbreiteten Legende bei, dass Ibn Sina ein „Fürst von Cordoba“ oder von Sevilla gewesen sei. Daher erscheint ibn Sina in bildlichen Darstellungen oft mit Krone und Zepter. Etwa zur gleichen Zeit wie Gerhards Übersetzung entstand in der Übersetzerschule von Toledo eine dem Erzbischof Johannes von Toledo (1151–1166) gewidmete Übersetzung des Kitab al-Shifa, die zunächst durch den jüdischen Philosophen Abraham ibn Daud bzw. Avendauth (Avendarith israelita philosophus) aus dem Arabischen ins Spanische und dann durch Dominicus Gundisalvi aus dem Spanischen ins Lateinische übertragen wurde. Aus dieser Übersetzung hat besonders das sechste Buch über die Seele unter dem Titel Liber sextus naturalium die philosophischen Debatten der Scholastik seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachhaltig geprägt. Eine selbständige Übersetzung speziell des achten Buches über die Tiere wurde in der Zeit nach 1220 von Michael Scotus in Italien angefertigt und Friedrich II. gewidmet: ein in Melfi entstandenes, kaiserlich autorisiertes Exemplar ist im Kolophon auf den 9. August 1232 datiert.
Ibn Sinas Kompendium Danischnama-yi Alai wurde zwar nicht direkt ins Lateinische übersetzt, wurde jedoch indirekt einflussreich für die lateinische Tradition, nämlich dank der Verwendung durch Al-Ghazali als Vorlage für dessen Schrift Maqasid al-falasifa (Die Absichten der Philosophen, 1094), in der dieser seinem Angriff auf die Lehren Ibn Sinas, Alfarabis und anderer „Philosophen“ (Tahafut al-falasifa, Die Inkohärenz der Philosophen, 1095, lat. Destructio philosophorum) zunächst eine Darstellung von Grundbegriffen der Logik, Metaphysik, Theologie und Physik aus den Lehren dieser Philosophen vorhergeschickt hatte. Maqasid al-falasifa wurde bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Toledo ins Lateinische übersetzt, wohl von Dominicus Gundisalvi, und kursierte dann in einer der Handschriften unter dem Titel Liber Algazelis de summa theoricae philosophiae. Die lateinischen Leser kannten die Abhängigkeit von Ibn Sinas Danischnama-yi Alai nicht, sondern hielten das Buch für eine Darlegung genuiner Lehre Al-Ghazalis, was dann dazu führte, dass der letztere auch von solchen Autoren besondere Wertschätzung erfuhr, die mit der von ihm bekämpften Traditionslinie sympathisierten.[1]
Ibn Sina unrichtig zugeschrieben wurde eine unter dem Titel Liber Avicennae in primis et secundis substantiis et de fluxu entis oder auch De intelligentiis verbreitete, platonisierende Schrift des 12. Jahrhunderts, die unter anderem aus Dionysius Areopagita, Augustinus und Ibn Sina schöpft und jedenfalls von einem christlichen lateinischen Autor, wahrscheinlich Dominicus Gundisalvi, stammt. Ibn Sina zugeschrieben wurde ferner auch ein Liber de causis primis et secundis, der in der Nachfolge des pseudo-aristotelischen Liber de causis steht und ebenfalls im 12. Jahrhundert in Toledo entstand.
In der lateinischen Scholastik wurde Ibn Sina zu dem – nach Averroes – angesehensten Vertreter der Persischen Philosophie und Vermittler der aristotelischen Philosophie und Naturkunde. Seine Werke wurden nicht nur an den Artistenfakultäten und von Theologen wie Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, sondern seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert auch und besonders an den medizinischen Fakultäten, und dort dann sowohl unter medizinischen wie auch philosophischen Fragestellungen rezipiert, wobei besonders Montpellier in Frankreich und Bologna in Italien eine Schlüsselrolle spielten. In Montpellier gehörte der Kanon seit 1309 (und bis 1557) zum medizinischen Pflichtprogramm. In Bologna wurde die Rezeption maßgeblich von Taddeo Alderotti († 1295), Professor seit 1260, initiiert, dessen Schüler Dino del Garbo die Ansätze in Bologna, Siena, Padua und Florenz weiterführte. Dinos Schüler Gentile da Foligno wiederum, der vornehmlich in Siena und Perugia wirkte, verfasste den ersten annähernd vollständigen lateinischen Kommentar des Kanon, ein Unterrichtswerk, das dann bis ins 16. Jahrhundert große Wirkung entfaltete.
Neue lateinische Übersetzungen des Kanon und weiterer, bis dahin zum Teil unübersetzter Schriften Ibn Sinas fertigte Andrea Alpago († 1522) aus Belluno an. Alpago war rund dreißig Jahre lang als Arzt an der venezianischen Gesandtschaft in Damaskus tätig und studierte dort arabische Handschriften der Werke von Ibn Sina und Averroes und ihrer arabischen Kommentatoren. Seine Bearbeitung des Kanon, die 1527 erstmals im Druck erschien, entstand als kritische Revision und Glossierung der etablierten Übersetzung von Gerhard von Cremona. Sie wurde seit der Erstausgabe in mehr als 30 Neuauflagen und Neuausgaben gedruckt. Der Kanon blieb bis ins 17. Jahrhundert eines der Hauptwerke der medizinischen Wissenschaft.
Sonstige Rezeption
Dante
Dante Alighieri versetzt in seiner Göttlichen Komödie (Inferno 4,143) Ibn Sina zusammen mit seinen beiden muslimischen Glaubensbrüdern Averroes und Saladin in das "edle Schloss" (nobile castello) im Limbus der Hölle, wo ansonsten nur Personen der vorchristlichen heidnischen Antike, insbesondere Philosophen und Dichter der griechischen und römischen Welt, angesiedelt sind: er teilt dort mit ihnen das Schicksal, durch eine tugendhafte Lebensführung zwar der ewigen Verdammnis entgangen zu sein, da er sonst in einem der tieferen Kreise der eigentlichen Hölle zu strafen wäre, zugleich aber mangels Teilhabe am Sakrament der Taufe von der Erlösung ins Paradiso ausgeschlossen zu sein und deshalb einen Zustand ohne Strafe, aber in ewiger Gottesferne, erleiden zu müssen. Dass er und seine beiden Glaubensbrüder im Unterschied zu ihren heidnischen Leidensgenossen der vorchristlichen Zeit die christliche Lehre bereits kannten und sich zur Taufe hätten entscheiden können, ihr Beharren in einem anderen Glauben folglich auf eigener Wahl beruhte und sie trotzdem nicht mit ihren übrigen Glaubensbrüdern zur Strafe in einem tiefer gelegenen Kreis der Hölle verdammt sind, bringt die besondere Wertschätzung zum Ausdruck, die Dante ihnen entgegen brachte.
Büsten, Statuen und Portraits
Portraits Ibn Sinas befinden sich unter anderem in der Halle der medizinischen Fakultät der Sorbonne, auf dem tadschikischen 20-Somoni-Geldschein und im Mailänder Dom in einem Kirchenfenster, gestiftet Mitte des 15. Jahrhunderts von der Apothekerzunft Mailands.
Weiters befinden sich Statuen Ibn Sinas im tadschikischen Duschanbe und an seinem Geburtsort in Afschana bei Buchara im heutigen Usbekistan.
Belletristik
In der Moderne wird Avicenna auch in der Belletristik rezipiert. So studiert in Noah Gordons Bestseller Der Medicus der Protagonist des Romans bei Ibn Sina Medizin. Im historischen Roman Die Straße nach Isfahan von Gilbert Sinoué ist Ibn Sina die Hauptfigur; geschildert wird sein gesamter Lebensweg.
Ehrentaxon
Carl von Linné benannte ihm zu Ehren die Gattung Avicennia der Pflanzenfamilie der Akanthusgewächse (Acanthaceae).[2][3][4]
Ausgaben und Übersetzungen
- lateinisch (Renaissance)
- Liber canonis, Venedig 1507, Nachdruck Olms, Hildesheim 1964
- Liber Canonis, De medicinis cordialibus et Cantica, Basel 1556, Neudruck Teheran 1976 (die erstmals 1544 in Venedig gedruckte zweite Auflage der von Andrea Alpago überarbeiteten Fassung der mittelalterlichen Übersetzung von Gerhard von Cremona)
- lateinisch (modern)
- Avicenna Latinus, Louvain / Leiden 1968ff. (kritische Gesamtausgabe des lateinischen Avicenna; bisher erschienen:)
- Liber de anima seu sextus de naturalibus, hrsg. Simone Van Riet, 2 Bände, 1968-1972
- Liber de philosophia prima sive scientia divina, hrsg. Simone Van Riet, 3 Bände, 1977-1983, ISBN 2-8017-0084-3, ISBN 2-8017-0156-4; ISBN 2-8017-0211-0
- Liber primus naturalium, tractatus primus: De causis et principiis naturalium, hrsg. Simone Van Riet, 1992, ISBN 90-6831-453-X
- Liber primus naturalium, tractatus secundus: De motu et de consimilibus, hrsg. Simone Van Riet / Jules Janssens / André Allard, 2006, ISBN 978-2-8031-0231-0
- Liber tertius naturalium: De generatione et corruptione, hrsg. Simone Van Riet, 1987, ISBN 90-6831-096-8
- Liber quartus naturalium: De actionibus et passionibus qualitatum primarum, hrsg. Simone Van Riet, 1989, ISBN 90-6831-246-4
- Codices, hrsg. Marie-Thérèse d’Alverny, 1994, ISBN 2-8031-0124-6 (Beschreibung der lateinischen Handschriften)
- deutsch
- Das Buch von der Genesung der Seele. Eine philosophische Enzyklopädie Avicennas, übers. und erläutert von Max Horten, Bonn 1906, Nachdruck Minerva, Frankfurt a.M. 1960
- französisch
- Livre des definitions, übers. von Amélie-Marie Goichon, Kairo 1963 (kritische Ausgabe des arabischen Textes und Übersetzung)
- Livre des directives et remarques, übers. von Amélie-Marie Goichon, Beirut / Paris 1951
- La métaphysique du Shifā’, übers. von Georges C. Anawati, 2 Bände, Vrin, Paris 1978-1985, ISBN 2-7116-0041-6
- Lettre au vizir Abû Sa'd, übers. von Yahya Michot, Beirut 2000, ISBN 2-84161-150-7 (arabischer Text und Übersetzung)
- Réfutation de l’astrologie, übers. von Yahya Michot, Beirut 2006, ISBN 2-84161-304-6 (kritische Ausgabe des arabischen Textes und Übersetzung)
- Le livre de science, übers. von Muhammad Achena und Henri Massé, Paris 1955
- englisch
- Remarks and Admonitions. Part One: Logic, übers. von Shams Constantine Inati, Toronto 1984, ISBN 0-88844-277-7
- Avicenna’s Treatise on Logic. Part one of 'Danesh-Name Alai' (A Concise Philosophical Encyclopaedia) and autobiography, hrsg. und übers. von Farhang Zabeeh, ’s-Gravenhage 1971
- Avicenna’s Commentary on the Poetics of Aristotle, übers. von Ismail M. Dahiyat, Leiden 1974, ISBN 90-04-03962-7 (Übersetzung und Kommentar)
- The Life of Ibn Sina, übers. von William E. Gohlman, Albany (N.Y.) 1974, ISBN 0-87395-226-X (Autobiographie, nach Avicennas Tod von einem Schüler ergänzt)
- Avicenna’s Physics of the Healing, A Parallel English-Arabic Text in Two Volumes, Brigham Young University Islamic Translation Series, hg. und Übers. von Jon McGinnis, 2 Bände, Brigham Young University Press, Provo, UT 2010.
Digitalisate
- Libri quinque canonis medicinae: Erstdruck des arabischen Textes, Rom: Typographia Medicea, 1593 (Saab Medical Library, American University of Beirut, zuletzt aufgerufen am 24. Februar 2009)
- De anima (= Liber sextus naturalium): Pavia: Antonius de Carcano, 1486 (Google Books, zuletzt aufgerufen am 24. Februar 2009)
- De animalibus: Frühdruck der lateinischen Übersetzung von Michael Scotus, Venedig: Johannes et Gregorius de Gregorio, um 1500 (Google Books, zuletzt aufgerufen am 6. April 2010)
Literatur
- Marie-Thérèse d'Alverny, Danielle Jacquart: Avicenne en Occident. Vrin, Paris 1993.
- Ernst Bloch: Avicenna und die aristotelische Linke. Leipzig 1949.
- Lenn E. Goodman: Avicenna. Routledge, London/New York 1992, ISBN 0-415-01929-X.
- Dimitri Gutas: Avicenna and the Aristotelian Tradition. Brill, Leiden/Boston 1988, ISBN 90-04-08500-9.
- Constantin Sauter: Avicennas Bearbeitung der aristotelischen Metaphysik. Karachi 1966.
- Mazhar H. Shah: The general principles of Avicenna’s Canon of medicine. Freiburg 1912.
- Jules Janssens: An Annotated Bibliography on Ibn Sina (2 Bde.). Leiden 1991-99.
- Ibrahim Madkour: Avicenne en Orient et en Occident. Mideo, 1982.
- Hermann Ley: Ibn Sina. In: Philosophenlexikon. Dietz Verlag, Berlin 1982, S. 426–433 mit Bibliografie
- Michael Muthreich: Theoretische Grundlagen im Gottesbegriff bei Avicenna. Universität Gießen, Gießen 1999 (Dissertation).
- Gotthard Strohmaier: Avicenna. Beck, München 1999, ISBN 3-406-41946-1.
- Robert Wisnovsky: Avicenna’s Metaphysics in Context. Duckworth, London 2003, ISBN 0-7156-3221-3.
Weblinks
Commons: Avicenna – Sammlung von Bildern, Videos und AudiodateienCommons: The Canon of Medicine – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien- Literaturnachweise in der Literaturdatenbank der Regesta Imperii
- Literatur von und über Avicenna im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Werke von Avicenna im Gesamtkatalog der Wiegendrucke
- Sajjad H. Rizvi: Avicenna/Ibn Sina (CA. 980-1037) in der Internet Encyclopedia of Philosophy (englisch, inklusive Literaturangaben)
- Raul Corazzon: Avicenna on the subject and the object of metaphysics (Engl.)
- Ibn Sina auf muslimphilosophy.com, umfangreiche Sammlung von Links zu Texten der Werke und zu Beiträgen über Ibn-Sina (Engl.)
- George Sarton: A Guide to the History of Science. (PDF) Waltham MA 1952, Ibn Sina auf Seiten 28 und 203
- Nizar Samir Gara: Die Rezeption der Philosophie des Aristoteles im Islam als Beispiel die Rezeption der Seelenlehre des Aristoteles bei Ibn Sinas Buch. (PDF) (Ilm al-nafs: Die Wissenschaft der Seele), Diss. Heidelberg 2003
Einzelnachweise
- ↑ Robert Podkoński: Al-Ghazâlî's Metaphysics as a Source of Anti-atomistic Proofs in John Duns Scotus’s Sentences Commentary. In: Andreas Speer, Lydia Wegener (Hrsg.): Wissen über Grenzen: Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter. de Gruyter, Berlin 2006 (= Miscellanea mediaevalia, 33), S. 612–25, S. 618f.; Henry Lagerlund: Assimilation of Aristotelian and Arabic Logic up to the Later 13th Century. In: Dov M. Gabbay, John Woods (Hrsg.): Mediaeval and Renaissance logic, North Holland, Amsterdam / London 2008 (= Handbook of the History of Logic, Bd. 2), S. 281–345, S. 284f.
- ↑ Carl von Linné: Critica Botanica. Leiden 1737, S. 91
- ↑ Carl von Linné: Genera Plantarum. Leiden 1742, S. 44
- ↑ Umberto Quattrocchi: CRC World Dictionary of Plant Names: Common Names, Scientific Names, Eponyms, Synonyms, and Etymology. CRC Press Inc., 2000, S. 242. ISBN 0-8493-2676-1
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