Georgi Plechanow

Georgi Plechanow
Georgi W. Plechanow um 1895

Georgi Walentinowitsch Plechanow (russisch Георгий Валентинович Плеханов, wiss. Transliteration Georgij Valentinovič Plechanov; * 29. Novemberjul./ 11. Dezember 1856greg. in Gudalowka, heute zur Oblast Lipezk; † 30. Mai 1918 in Terijoki, damals zu Finnland gehörend, heute Selenogorsk) war ein russischer Journalist und Philosoph, der die Erfahrungen des Scheiterns der russischen volksschwärmerischen und sozialrevolutionär-terroristischen Bewegung, der Narodniki, und den westeuropäischen Marxismus verband.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Anhänger der Narodniki

Plechanow entstammte einer Familie des mittleren russischen Landadels, schloss sich aber schon in seiner Jugend der revolutionären Bewegung an. 1876 war er als 20-jähriger Student Redner bei der ersten russischen Arbeiterdemonstration, bei der rote Fahnen gezeigt wurden. Zunächst stand er den Narodniki nahe, distanzierte sich aber bald von deren gewaltsamen Terrormethoden. In der Gruppe „Schwarze Umteilung“ verfolgte er agarsozialistische Ziele. Im Unterschied zu anderen Narodniki verwies der junge Plechanow in seinen ersten theoretischen Schriften auf die Bedeutung der mit der Bauernschaft eng verbundenen städtischen Arbeiter, die wie die Bauern noch an den alten Gemeindeidealen festhielten.[1]

Exil und die Gruppe Befreiung der Arbeit

1880 ging er ins Exil in der Schweiz, wo er bis zur Oktoberrevolution blieb. Im Exil wurde er von der marxistischen Literatur Westeuropas reichlich beeinflusst.

Er wurde der geistige Vater und erste Parteiführer der russischen Sozialdemokratie, an deren Gründung 1883 in Genf er teilnahm. Die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ (Освобождение труда), die von Plechanow, Pawel Borissowitsch Axelrod, Wera Iwanowna Sassulitsch, L. Deutsch und W. Ignatow gegründet wurde, zielte, sozialistische Literatur Europas ins Russische zu übersetzen und die Narodniki in Russland zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang schrieb Plechanow eigene theoretische Schriften, in denen er auf die Entwicklung des Kapitalismus in Russland und die führende Rolle der Arbeiterklasse in der Befreiungsbewegung hinwies. Ihm zufolge müsste die russische Arbeiterklasse zuerst den Europäisierungsprozess Russlands, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Peter dem Großen eingeleitet wurde, zum Abschluss bringen und um die politische Freiheit kämpfen, bevor sie den Sozialismus anstreben konnte.[2]

Seine Schrift Sozialismus und politischer Kampf (1883) stellte eine völlig neue Konzeption in der Geschichte der russischen sozialistischen Bewegung dar. In dieser Schrift wies Plechanow darauf hin, dass die Dorfbevölkerung wegen der rückständigen Verhältnisse nicht nur weniger als das Industrieproletariat fähig zur politischen Initiative, sondern auch weniger aufnahmebereit für die revolutionären Ideen war.[3] Deswegen musste das Industrieproletariat die führende Rolle übernehmen und für die Demokratie und den Sozialismus kämpfen. Um die Macht zu ergreifen, musste die Arbeiterklasse ihre eigene politische Partei gründen, anstatt ihre Energie hinter den Verschwörungsstrategien der Narodniki zu verbrauchen. Das aber setzte eine aufgeklärte Arbeiterklasse voraus. Unter den Bedingungen Russlands, wo es weder eine moderne Wirtschaft noch ein organisiertes Proletariat gab, könnte eine revolutionäre Diktatur der Intelligenz, was die Narodniki zielten, fatale Folgen haben. Sie könnte die Gesellschaft zu einem patriarchalischen und autoritären Kommunismus führen, wobei eine sozialistische Kaste die nationale Produktion leiten wird.[4] Die Grundkonzeption dieser Schrift fand ihren Ausdruck in der achtziger Jahren in zwei Programmentwürfen für eine sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands.

In seinen weiteren theoretischen Schriften wies er wiederholend auf den kapitalistischen Fortschritt in Russland hin und machte darauf aufmerksam, dass diese Entwicklung zwangsläufig eine starke Arbeiterbewegung verursachen wird. In seiner Schrift Unsere Meinungsverschiedenheiten (1885) kritisierte er scharf die Narodniki und zeigte statistisch , dass die unumkehrbaren kapitalistischen Wirtschaftsverhältnisse die Dorfgemeinde zum Untergang führen. Was zu tun nach Plechanow war, so schnell wie möglich eine revolutionäre Arbeiterpartei aufzubauen.[5] Die Arbeiterpartei könnte für ihn nur in engem Zusammenhang mit dem internationalen Sozialismus entwickeln. Er nahm mit anderen russischen Sozialisten am Gründungskongress der Zweiten Internationale in Paris teil, wo er gegen die Narodniki erklärte: "Die revolutionäre Bewegung wird in Rußland als Arbeiterbewegung triumphieren, oder sie wird nie triumphieren."[6]

Der zweite Teil der Unseren Meinungsverschiedenheiten trug den Titel Zur Geschichte der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung. An diesem Werk wurde nach Lenin „eine Generation russischer Marxisten erzogen“. Plechanow wies in diesem Buch hin, dass Russland den Weg der kapitalistischen Entwicklung nicht mehr verlassen kann, den es nach 1861 betreten. Die Dorfgemeinde, die Marx eine Möglichkeit zum Sozialismus sah, mussten also Plechanow zufolge durch den Kapitalismus zerfallen werden. Wer das Land befreien konnte, waren nicht die Bauer, sondern die Arbeiterbewegung im Bündnis mit anderen revolutionären Sozialschichten.

International wurde Plechanow durch seine Arbeiten zum historischen Materialismus bekannt.

Menschewiki

Er war namentlich für Lenin, dem er 1900 in der Schweiz erstmals begegnete, theoretische Vater- und Freund-Figur, bis beide auch persönlich die Spaltung in gemäßigte, politisch reformistische Menschewiki und radikale Bolschewiki (später Kommunisten) vollzogen. Plechanow stellte sich dabei auf die Seite einer russischen Sozialdemokratie nach westeuropäischem Vorbild, verlor jedoch rasch in beiden Gruppen an Bedeutung.

Zusammen mit Axelrod gehörte er zu den ersten Kritikern des Ökonomismus:

„Wir lehnen uns nicht gegen die Agitation aus ökonomischen Anlässen auf, sondern gegen die Agitatoren, die die wirtschaftlichen Zusammenstöße zwischen Arbeitern und Unternehmern nicht wahrzunehmen wissen, um das politische Bewußtsein des Proletariats zu entwickeln.“[7]
Grab auf dem Wolkowo-Friedhof, St. Petersburg

Die russische Revolution von 1905 bis 1907, die folgende konterrevolutionäre Ära und der erste Weltkrieg spitzten die politische Situation und die theoretischen Fragen so zu, dass Plechanow, der kurz zuvor nach Russland zurückgekehrt war, bei den revolutionären Massen 1917 unbekannt und politisch einflusslos war. Nach Ausbruch der Oktoberrevolution musste er vor den Bolschewiki nach Finnland ausweichen, wo er einige Monate später an Tuberkulose starb.

Selbst im Leninismus galt Plechanow trotz der politischen Diskriminierung aber weiter als Autorität.

Werk

Schriften

  • N. G. Tschernischewsky, 1984, Stuttgart: Dietz
  • Henrik Ibsen, 1908, Stuttgart: Singer
  • Kunst und Literatur, 1955, Berlin: Dietz
  • Sozialismus und politischer Kampf, 1980, Frankfurt [Main]; Gelsenkirchen: VTK, ISBN 3-88599-000-8
  • Anarchismus und Sozialismus, 1995, Köln: ISP, ISBN 3-929008-87-4
  • Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung, 1975, Frankfurt am Main: Verlag Marxistische Blätter, ISBN 3-88012-337-3
  • Kunst und gesellschaftliches Leben, 1975, Berlin: Dietz
  • Beiträge zur Geschichte des Materialismus, 1975, Berlin, Bonn- Bad Godesberg: Dietz
  • Die Grundprobleme des Marxismus, 1975, Moskau: Verlag Progress
  • Zu Hegels sechzigstem Todestag, 1978, Düsseldorf: Edition Kultur u. Klasse im Arbeiterkulturverl.
  • Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, 1982, Berlin: Dietz
  • Eine Kritik unserer Kritiker, 1982, Berlin: Dietz
  • 1917 - zwischen Revolution und Demokratie : eine Auswahl von Artikeln und Reden aus den Jahren 1917 und 1918, 2001, Berlin: Berliner Debatte. ISBN 3-931703-81-9
  • Die Revolutionen 1917, 1997, Berlin: BasisDr., ISBN 3-86163-090-7

Übersetzungen

Literatur

  • Petra Dießner: Lenins Marxismusverständnis - seine Auseinandersetzung mit Plechanows Anwendung des Marxismus auf Rußland, 1985, Leipzig, Univ., Sekt. Marxist.-leninist. Philosophie, Diss. A, 1985.
  • Vera Aleksandrovna Fomina: Die philosophischen Anschauungen G. W. Plechanows, 1957, Berlin: Dietz
  • Predrag M. Grujic´: Čičerin, Plechanov und Lenin : Studien zur Geschichte des Hegelianismus in Russland, 1985, München: Fink, ISBN 3-7705-1753-9
  • Gruppe Revolutionärer Weg: Plechanow-Lenin, über einige Angriffe auf den Leninismus, Frankfurt (Main): Gruppe Revolutionärer Weg
  • Detlef Jena: Georgi Walentinowitsch Plechanow: Historisch-politische Biographie, 1989, Berlin: Dt. Verl. d. Wiss., ISBN 3-326-00325-0
  • Michail Jowtschuk; Irina Kurbatowa, Georgi Plechanow: Eine Biographie, 1983, Berlin: Dietz.
  • Richard Lorenz: Georgi Walentinowitsch Plechanow. In: Walter Euchner (Hg.) Klassiker des Sozialismus, München, 1991, C. H. Beck, S. 251-263, ISBN 3-406-35089-5
  • László Sziklai: Zur Geschichte des Marxismus und der Kunst, 1978, Budapest: Akadémiai Kiadó.
  • Johannes Ch. Traut: Plechanov und das russische Volkstümlertum, München, Univ., Sozialwiss. Fak., Diss. A, 1983.
  • Thies Ziemke: Marxismus und Narodničestvo: Entstehung und Wirken der Gruppe "Befreiung der Arbeit", 1980, Frankfurt am Main, Bern, Cirencester/U.K.: Lang, ISBN 3-8204-6681-9

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Richard Lorenz: „Georgi Walentinowitsch Plechanow“. In: Walter Euchner (Hg.) Klassiker des Sozialismus, München, 1991, C. H. Beck, S. 251-263, ISBN 3-406-35089-5, zit. S. 252
  2. Richard Lorenz: ebd, S. 253
  3. G. V. Plekhanov: Socialism and the Political Struggle, [1]
  4. G. V. Plekhanov: ebd.; Richard Lorenz: ebd, S. 254
  5. G. V. Plekhanov, Our Differences, [2]; Richard Lorenz: ebd, S. 256
  6. Richard Lorenz: ebd, S. 256
  7. Richard Lorenz: ebd, S. 257

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