Harry Lime

Harry Lime

Harry Lime ist der Name der Titelfigur in dem Roman The Third Man (1949; dt. Der dritte Mann) des britischen Schriftstellers Graham Greene (1904–1991). Parallel zum Roman entstand der gleichnamige Film Noir-Klassiker von Carol Reed (1906–1976). Schauplatz des Films ist die geteilte Stadt Wien nach dem Zweiten Weltkrieg, wo Harry Lime durch das städtische Kanalisationssystem die Sektorengrenze überwindet.

Gelegentlich findet man die Interpretation, der eigentliche dritte Mann sei ein ominöser Joseph Harbin (man beachte den „sprechenden“ Namen: Harbin = Stadt in der abgelegenen, mithin unauffindbaren Mandschurei), der zum Zeitpunkt der Filmhandlung allerdings bereits verschollen ist und dessen Leiche später aus dem mit „Harry Lime“ gekennzeichneten Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof exhumiert wird.

Akzeptiert man diese Lesart, so wäre der titelgebende „Dritte Mann“ allerdings nicht viel mehr als ein besonders kunstvoll ausgearbeiteter MacGuffin. Bereits in den 1950er Jahren setzte sich aber die noch immer gebräuchliche Gleichsetzung von Harry Lime und „drittem Mann“ durch.

Inhaltsverzeichnis

Harry Lime im Roman und Spielfilm Der dritte Mann von 1949

Im Film kommt ein Kunstgriff des Autors noch wesentlich mehr zum Tragen als im Roman: Harry Lime, die eigentliche Hauptfigur, um dessen mysteriösen (und, wie sich herausstellt, vorgetäuschten) Tod sich die gesamte Handlung dreht, tritt in der ersten Hälfte überhaupt nicht auf. Dieser dramaturgische Kniff erinnert stark an die ganz ähnliche Vorgehensweise Edmond Rostands in seinem berühmten Schauspiel Cyrano de Bergerac (1897), in dem der an sich omnipräsente Titelheld ebenfalls erst nach geraumer Zeit seine Auftrittsszene hat.

Enorm gesteigert wird die Wirkung dieser Idee durch die beeindruckende schauspielerische Leistung des Darstellers des Harry Lime, nämlich Orson Welles (1915–1985). Letzterer wurde mit dem Film schließlich so stark assoziiert, dass Der dritte Mann häufig fälschlicherweise für eine Regiearbeit Welles' gehalten wird.

Laut Aussagen vieler Beteiligter war die persönliche Mitwirkung von Welles an der Gestaltung „seiner“ Auftritte ungewöhnlich stark; das bekannteste Beispiel hierfür ist Limes – spontan improvisierterMonolog während der Filmsequenz unter dem Riesenrad im Wiener Prater:

„In Italy, for thirty years under the Borgias, they had warfare, terror, murder, bloodshed – they produced Michelangelo, Leonardo da Vinci and the Renaissance. In Switzerland, they had brotherly love, five hundred years of democracy and peace, and what did that produce? The cuckoo clock.“

(In Italien unter den Borgias gab es dreißig Jahre Krieg, Terror, Mord und Blutvergießen – diese schufen Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz gab es brüderliche Liebe, fünfhundert Jahre Demokratie und Frieden, und was kam dabei heraus? Die Kuckucksuhr.)

Die ebenfalls sehr prägnante Filmmusik, komponiert und eingespielt von dem Wiener Zithervirtuosen Anton Karas (1906–1985) – und hieraus das zum Welterfolg gewordene „Harry-Lime-Thema“, das im Film die Funktion eines Leitmotivs übernimmt – ist ein weiterer Faktor, der der Figur des Harry Lime zum Status einer Ikone der Popkultur verhalf. Dass er dies knapp sechzig Jahre nach seinem legendären Ableben noch immer ist, beweist nicht zuletzt die nach ihm benannte dänische Alternative-Band.

Welles' Radiohörspiele der fünfziger Jahre

Vollends Teil der im engeren Sinne „populären“ Kultur wurde Harry Lime zu Beginn der 1950er-Jahre. Der notorisch in Geldnöten steckende Welles erwirkte bei Greene die Erlaubnis, um die Figur herum eine Hörspielserie zu produzieren, die heute meist unter ihrem US-amerikanischen Titel The Lives of Harry Lime bekannt ist. Der ursprüngliche Titel bei der BBC lautete The Adventures of Harry Lime, und die Serie musste beim Export in die USA einige (allerdings weitestgehend geringfügige) Kürzungen hinnehmen.

Mit seiner markanten (und damals unter Radiohörern außerordentlich beliebten) Stimme erzählt Welles in insgesamt 52 Episoden von den Abenteuern des „dritten Mannes“ in den Jahren und Jahrzehnten vor seinem unrühmlichen Ende in der Kanalisation von Wien. Die psychologische Disposition des kriminellen Globetrotters Harry Lime muss, wenn man Welles' Darstellung folgt, vor seiner Zeit in der Viersektorenstadt Wien erheblich weniger düster und menschenverachtend gewesen sein.

In den USA und Großbritannien lief die Serie – zuletzt nicht mehr besonders erfolgreich und von Welles bereits wieder ad acta gelegt – zwischen 1951 und 1953.

Unter Old-Time-Radio-Fans erfreuen sich heutzutage noch die beiden Folgen A Ticket To Tangier und The Dead Candidate besonderer Beliebtheit. Erstere ist eine mit Welles'schen Mitteln angelegte Hörspiel-Adaptation der Krimis der Schwarzen Serie, letztere eine überspannte Burleske, deren in einer fiktiven Bananenrepublik angesiedelte Handlung Welles später in seinem Roman Une grosse légume weiterverarbeitete. Außerdem finden wir in der Folge Man Of Mystery die erste Skizze zu Welles' Filmklassiker Mr. Arkadin (deutsch auch unter dem Titel Herr Satan persönlich) von 1955.

Das „Weiterleben“ der Lime-Figur nach Welles

Angeregt durch den weltweiten Erfolg des Films (und – zumindest teilweise – inspiriert von den Hörspielen) produzierte die BBC seit 1959 eine Fernsehserie, in der der englische Schauspieler Michael Rennie (1909–1971) die Rolle des Harry Lime verkörperte. Die Serie lief bis zum Jahre 1965 im britischen Fernsehen, konnte aber weder an die ästhetischen Vorgaben noch an den künstlerischen oder auch nur kommerziellen Erfolg des Spielfilm-Originals anknüpfen.

Dennoch gelang es den Briten immerhin, alle 77 Folgen beim US-Fernsehsender NBC unterzubringen, was ein wenig erstaunt, da im Vereinigten Königreich selbst nur 73 Episoden gesendet wurden. Doch war die Serie von Anfang an stark im Hinblick auf den amerikanischen Markt produziert worden, was sich auch daran zeigt, dass ein großer Teil der Dreharbeiten in den 20th Century Fox-Studios in Kalifornien erledigt wurden.

Darüber hinaus ist eine weitere „Entschärfung“ der Harry Lime-Figur zu konstatieren. Der Lime des Greene-Romans war in seiner Konzeption gelegentlich als „anti-amerikanische Propaganda“ empfunden worden. Im Film wird diese Perspektive schlicht durch die Besetzung der Rolle mit Orson Welles verschoben. Dieser jedoch verkörperte immerhin seit der Ausstrahlung seiner Hörspieladaptation von H. G.Wells' Roman „Krieg der Welten“ (auf CBS Radio am 30. Oktober 1938) ein amerikanisches enfant terrible. Als nun die Fernsehserie durch die Besetzung mit Rennie aus Lime einen im Grunde biederen – und im Grunde britischen – Geschäftsmann machte, waren die sowohl bei Greene wie auch bei Welles immer vorhandenen politischen Untertöne (diese mal offensichtlich kritisch, dann wieder eher satirisch) endgültig einem apolitischen Harry ad usum Delphini gewichen.

Selbst gegenüber dem slightly dated period charm (Peter Bogdanovich) der Welles'schen Hörspiele, die oft in der für diesen Künstler charakteristischen Weise genialisch zusammenimprovisiert waren und vor inhaltlichen Kruditäten und dramaturgischen Fehlern gelegentlich strotzten, nehmen sich die Folgen der späteren Fernsehserie vergleichsweise bescheiden aus.

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