Hundertster Affe

Hundertster Affe
Japanmakaken

Das Prinzip des „hundertsten Affen“ („The Hundredth Monkey Phenomenon“ oder „The Hundredth Monkey Effect“) ist ein moderner Mythos, der ab 1979 als Beispiel für kollektives Bewusstsein verbreitet wird, aber auf falsch wiedergegebenen wissenschaftlichen Quellen zum Kollektiv- und Lernverhalten beruht.

Inhaltsverzeichnis

Mythos

Im Jahre 1958 beobachteten Wissenschaftler auf der japanischen Insel Kōjima eine Gruppe Affen.[1] Schließlich beginnen die Forscher, den Tieren als Nahrung Süßkartoffeln zu geben. Nach und nach verbreitet sich unter den Tieren die Fähigkeit, die Kartoffeln vor dem Verzehr zu waschen. Bis eines Tages ein weiterer Affe das Waschen erlernt.

Was dann angeblich geschah, beschreibt 1979 der Botaniker und New-Age-Autor Lyall Watson so: „Mit dem Hinzukommen dieses hundertsten Affen überschritt die Zahl jedoch offenbar eine Art Schwelle, eine bestimmte kritische Masse, denn schon am Abend desselben Tages tat es fast der gesamte Rest der Herde. Und nicht nur das: das Verhaltensmuster scheint sogar natürliche Barrieren übersprungen zu haben und – ähnlich wie Glyzerinkristalle in hermetisch verschlossenen Reagenzgläsern – auch in Kolonien auf anderen Inseln sowie bei einem Trupp … auf dem Festland spontan aufgetreten zu sein.“[2]

Der „Selbstentwicklungs“-Guru[3] Ken Keyes griff die Geschichte 1983 auf und erklärte, wie das geschehen konnte: „Wenn eine kritische Anzahl ein bestimmtes Bewusstsein erreicht, kann dieses neue Bewusstsein von Geist zu Geist kommuniziert werden.“[4] Der hundertste Affe soll also eine Art paranormalen Lernvorgang ausgelöst haben. Watson schlussfolgerte noch radikaler: „Wenn nur genug von uns etwas für wahr halten, dann wird es für alle wahr.“[5] Eine Erklärung für das Phänomen sollen die von Rupert Sheldrake beschriebenen morphogenetischen Felder liefern. Darunter versteht er feine unsichtbare Energiefelder, durch die Lebewesen miteinander verbunden seien und die energetische Information transportiert würden.[6] Seine Hypothesen werden von den meisten Forschern allerdings der Pseudowissenschaft zugerechnet.

Watson brauchte weniger als zwei Seiten Text, Keyes genügt eine halbe, um das angebliche Rätsel zu schildern. Damit war der Mythos geboren. Insbesondere durch das in mehr als 1 Millionen Exemplaren vertriebene Buch von Keyes verbreitete sich der Mythos weltweit und wird bis heute als naturwissenschaftliche Tatsache in der Esoterik- und Selbstverwirklichungsliteratur verwendet.[7]

Kritik

„Watson hat die von ihm zitierten wissenschaftlichen Aufsätze entweder nicht richtig gelesen oder verzerrt wiedergegeben“,[8] so urteilte der Philosophiedozent und Skeptiker Ron Amundson und nannte diese Mischung aus freier Improvisation von Fakten und Anklängen von Verschwörungstheorie „die klassische pseudowissenschaftliche Vorgehensweise“. Auch Masao Kawai, Leiter der japanischen Verhaltensforscher, die die Affenpopulation mehrere Jahrzehnte lang untersucht hatten, bezeichnete Watsons Darstellungen der Studienergebnisse mehrfach als falsch.[9]

Watson berichtet in seinem Buch selbst, wie er zu seiner Interpretation der Geschichte kam: Da die Wissenschaftler sich bis heute nicht ganz sicher seien, was passiert sei, müsse er sich die Vorgänge „aus persönlichen Anekdoten und … kursierenden Geschichten zusammenreimen“ und sei gezwungen, „die Details zu improvisieren“. Vor allem, weil „diejenigen, die die Wahrheit ahnen, zögern, sie publik zu machen, aus Angst, der Lächerlichkeit anheim zu fallen.“[10][11] 1986 erkannte er in einer Antwort auf Amundson die naturwissenschaftliche Kritik an seiner Darstellung an, bezeichnete seine These als bloße Metapher und betonte stattdessen ihre soziokulturelle Relevanz als Strategie für sozialen Wandel.[12] Aber auch im sozialwissenschaftlichen Kontext blieb seine These umstritten. Die Psychologin Maureen O’Hara wies auf den Zusammenhang der Verbreitung von „überindividuellen“ Meinungen und totalitären Ideologien hin: Die Ersetzung des eigenen Denkens der Individuen durch ein kollektives Bewusstsein bedeute das Ende des Meinungspluralismus und damit eine Verschiebung der Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens.[13] Und für Elaine Myers ist „Der hundertste Affe“ nicht mehr als ein Beispiel für die Propagierung eines Paradigmenwechsels.[14]

Dennoch hegen selbst Kritiker wie Amundson durchaus Sympathie für einige Verbreiter dieses Mythos.[15] Ken Keyes eigentliches Thema ist die atomare Abrüstung und das Ziel des Hundredth Monkeying Inner Aid Project[16] ist – so allgemein das auch klingen mag – „to bring benefit to all of world society without prejudice or bias“ („Wohltaten zu bringen für Alle auf der Welt, ohne Vorurteile“).

Hintergründe

Bei den Affen, die ein solches Verhalten gezeigt haben sollen, handelt es sich um Japanmakaken, die seit den frühen 1950er Jahren von japanischen Forschern studiert wurden. Nachdem die Wissenschaftler begonnen hatten, ihnen Süßkartoffeln zu geben, wurden in der Population Verhaltensänderungen sichtbar. Hatte zunächst ein einzelnes Jungtier begonnen, die schmutzigen Kartoffeln zu waschen, verbreitete sich diese Technik bald unter den anderen Jungtieren, dann allmählich auch unter einigen älteren Affen. Schließlich konnte dieses Verhalten auch in Kolonien außerhalb der Insel beobachtet werden – ein waschender Affe war hinübergeschwommen.[1] „Monkey see, monkey do“.[17]

Das war für die Forscher insofern ein erstaunlicher Vorgang, als üblicherweise Jungtiere ihr Verhalten von Älteren lernen und nicht umgekehrt. Für einen „plötzlichen Lernsprung“ gibt es in den Forschungsberichten keinen Beleg. Das für die Mythologen so wichtige Jahr 1958 ist für die Wissenschaftler zwar auch ein Wendepunkt, aber nur als Übergang von der Innovationsphase (vor 1958) zur Phase der Normalität (nach 1958)[1][18]: Die Jungtiere waren mittlerweile erwachsen geworden und so lernten wieder die Jungtiere ihr Verhalten von den Alten wie vorher. In den Quellen findet sich auch eine Angabe darüber, wie viele Mitglieder der Affenstamm auf Koshima hatte: 1962 waren es 59 Tiere. Es hat also auch nominal nie einen „hundertsten Affen“ gegeben.[1]

Einzelnachweise

  1. a b c d Masao Kawai: On the Newly-Acquired Pre-Cultural Behavior of the Natural Troop of Japanese Monkeys on Koshima Islet. In: Primates 6 (1965), S. 1–30; vgl. Ron Amundson: Der hundertste Affe. In: Gero von Randow (Hrsg.): Mein paranormales Fahrrad. Reinbek 1993, S. 37–46.
  2. Lyall Watson: Lifetide. N.Y. 1979, zit. nach Ron Amundson: Der hundertste Affe. In: Gero von Randow (Hrsg.): Mein paranormales Fahrrad. Reinbek 1993, S. 38.
  3. s. en.wiki und Maureen O’Hara: Of Myths and Monkeys: A Critical Look at Critical Mass]. In: Ted Schultz (Hrsg.): The Fringes of Reason.. N.Y. 1989, (Einleitung).
  4. Ken Keyes: Der hundertste Affe. o. O. 1983, o. Pag.
  5. Lyall Watson: Lifetide. N.Y. 1979, S. 148
  6. Rupert Sheldrake: A New Science of Life. Los Angeles 1981; dt.: Das schöpferische Universum. Die Theorie des morphogenetischen Feldes. München 1983.
  7. Drunvalo Melchizedek: The Ancient Secret of the Flower of Life Light. 2 Bde. Flagstaff 1999/2000; Christopher Penczak: Inner Temple Of Witchcraft: Magick, Meditation and Psychic Development. Woodbury 2002; Owen Waters: The Shift: The Revolution in Human Consciousness. Delaware 2005; Chris Fenwick: The 100th human. New Kingstown 2006; Richard Moss: The Mandala of Being: Discovering the Power of Awareness. Novato 2007; Christopher Penczak: Ascension Magick: Ritual, Myth & Healing for the New Aeon. Woodbury 2007.
  8. Ron Amundson: Der hundertste Affe. In: Gero von Randow (Hrsg.): Mein paranormales Fahrrad. Reinbek 1993, S. 42f.
  9. Markus Pössel, Ron Amundson: Follow-Up – Senior Researcher Comments on the Hundredth Monkey Phenomenon in Japan. In: Skeptical Inquirer 20 (3) 1996, S. 51f.
  10. dt. nach Ron Amundson: Der hundertste Affe. In: Gero von Randow (Hrsg.): Mein paranormales Fahrrad. Reinbek 1993, S. 38
  11. Das Originalzitat: : “one has to gather the rest of the story from personal anecdotes and bits of folklore amongst primate researchers, because most of them are still not quite sure what happened. And those who do suspect the truth are reluctant to publish it for fear of ridicule. So I am forced to improvise the details“ (Lyall Watson: Lifetide. N.Y. 1979, S. 148.)
  12. Lyall Watson: Lyall Watson responds – to criticism of the hundredth monkey theory of telepathic group mind – letter to the editor. In: Whole Earth Review 52, Autumn, 1986.
  13. Maureen O’Hara: Of Myths and Monkeys: A Critical Look at Critical Mass. In: Whole Earth Review, Autum 1986, passim.
  14. Elaine Myers: The Hundredth Monkey Revisited – Going Back to the Original Sources Puts a New Light on this Popular Story. In: In Context 9 (1985), S. 10.
  15. Ron Amundson: Der hundertste Affe. In: Gero von Randow (Hrsg.): Mein paranormales Fahrrad. Reinbek 1993, S. 45f.
  16. Hundredth Monkeying Inner Aid Project-Website.
  17. So fasste das AFU and Urban Legend Archive den Lernvorgang 1999 kurz zusammen.
  18. Masao Kawai et al.: Long-term Studies of the Old World Monkeys Pre-cultural Behaviors Observed in Free-ranking Japanese Monkeys on Koshima Islet over the Past 25 Years. In: Primate Report 32 (1991), S. 143–155.

Literatur

Verhaltensbiologische Studien
  • Kinji Imanishi: Social Behavior in Japanese Monkeys. In: Charles A. Southwick (Hrsg.): Primate Social Behavior. Van Nostrand, Toronto 1963.
  • Masao Kawai: On the Newly-Acquired Behavior of the Natural Troop of Japanese Monkeys on Koshima Island. In: Primates 4, 1963, S. 113–115.
  • Syunzo Kawamura: Subcultural Propagation Among Japanese Macaques. In: Charles A. Southwick (Hrsg.): Primate Social Behavior. Van Nostrand, Toronto 1963.
  • Masao Kawai: On the Newly-Acquired Pre-Cultural Behavior of the Natural Troop of Japanese Monkeys on Koshima Islet. In: Primates 6, 1965, S. 1–30.
  • Atsuo Tsumori: Newly Acquired Behavior and Social Interactions of Japanese Monkeys. In: Stuart Altman (Hrsg.): Social Communication Among Primates. University of Chicago Press, Chicago 1967.
  • Masao Kawai et al.: Long-term Studies of the Old World Monkeys Pre-cultural Behaviors Observed in Free-ranking Japanese Monkeys on Koshima Islet over the Past 25 Years. In: Primate Report 32, 1991, S. 143–155.
Interpretation durch Watson, Keyes u. a.
Kritik an Watsons These

Weblinks


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