Moderne Sage

Moderne Sage

Moderne Sagen (englisch urban legends, urban myths), auch Großstadtlegenden, moderne Mythen, Wandermärchen oder -sagen, verwandt mit Ammenmärchen und Schauermärchen, sind mehr oder weniger skurrile Anekdoten, die meist mündlich, inzwischen häufig auch per E-Mail (oft als Hoax), weitergegeben werden und deren Quelle sich in aller Regel nicht mehr zurückverfolgen lässt. In seltenen Fällen werden sie auch, bedingt durch unzureichende Recherche, als Nachrichten in den Medien verbreitet (Zeitungsente).

Die Protagonisten moderner Sagen sind normalerweise nicht namentlich bekannt. Allerdings wird oft berichtet, dass die jeweilige Geschichte dem Freund eines glaubwürdigen Bekannten passiert sei. Daher stammt (v. a. in den USA) auch die Bezeichnung „FOAF tales“: „Friend of a friend tales“.

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Der Begriff Moderne Sage wurde unter anderem von Rolf Wilhelm Brednich als Bezeichnung für ein Phänomen eingeführt, das zuvor im englischsprachigen Raum von Linda Dégh und Jan Harold Brunvand im Rahmen volkskundlicher Erzählforschung untersucht worden war. Brunvand hatte dafür den Ausdruck Urban Legend (Städtische Sage) verwendet, um diesen Typus von Erzählungen von den klassischen Erzählformen abzugrenzen, die im eher ländlichen Milieu angesiedelt waren. In seinem 1981 erschienenen Buch The Vanishing Hitchhiker: American Urban Legends & Their Meanings (Der verschwundene Anhalter: Amerikanische Großstadtlegenden und deren Bedeutung) benutzte er eine Sammlung dieser Geschichten, um zwei Aussagen zu machen:

  1. Sagen, Legenden, Mythen und Folklore kommen nicht nur bei so genannten primitiven oder traditionellen Gesellschaften vor und
  2. durch das Untersuchen solcher Sagen kann man viel über urbane und moderne Kultur lernen.

Der oft verwendete Begriff Mythos kann problematisch sein, wenn man Mythen als Erzählungen von Menschen und Göttern auffasst. In den meisten „Urbanen Mythen“ spielt Göttliches bzw. spielen Götter keine Rolle, wie beispielsweise bei dem Montauk Monster. Noch deutlicher werden die Probleme bei der direkten Übersetzung des im Englischen üblichen Begriffs urban legends als „moderne Legenden“ o. Ä., da hier die von der klassischen Definition („Lebensbeschreibung eines Heiligen“) abweichende Verwendung von Legende eher umgangssprachlich und (z.B. in Abgrenzung von Gerücht und Sage) unscharf ist.

In der modernen Erzählforschung bevorzugt man den Ausdruck „Sage“, weil die modernen wie auch die traditionellen Sagen (im Gegensatz zum Beispiel zum Märchen) einen Wahrheitsanspruch stellen. Alternativ dazu haben sich weitere Bezeichnungen gebildet, die zum Teil das Phänomen der Tradierung solcher Sagen mit in den Blick nehmen. Neben dem erwähnten FOAF ist das auch nasty legends („Fiese Sagen“); dieser Begriff nimmt Bezug auf den oft brutalen, schwarzhumorigen Aspekt moderner Sagen.

Typen

Modernisierte Volkssagen

Manche der modernen Sagen sind schon jahrhundertealt, bekamen ein modernes Gewand und werden so als heutzutage stattfindende Ereignisse wieder glaubwürdig. Sie kreisen oft um die klassischen Themen Tod, Krankheit, Krieg oder Wahnsinn.

Kriminalsagen

Sie beschreiben oft den enormen Erfindungsreichtum von Kriminellen und warnen vor den Folgen von Leichtgläubigkeit oder Unachtsamkeit.

Rachegeschichten

Rache ist ein häufiges Motiv in Urban Legends. Diese Geschichten beschreiben meist Umstände, die im wirklichen Leben als Selbstjustiz verboten wären. Sie spiegeln das Gefühl wider, das Rechtssystem sei nicht gerecht und man sei letztlich auf sich allein gestellt. Meist zeigen sie daher eine deutliche Sympathie für den Sich-Rächenden.

Angstgeschichten

Angstgeschichten spiegeln beispielsweise Ängste vor der immer raffinierter und undurchschaubarer gewordenen Technik. Sie handeln oft von Alltagsgeräten, von denen angeblich ungeahnte Gefahren ausgehen – nicht nur, aber vor allem bei unsachgemäßer Anwendung. Sie werden oft Personen zugeschrieben, die als minder geschickt im Umgang mit Neuem gelten, wie z. B. alte Damen oder naive junge Mädchen. Diese Sagen existieren oft parallel als Witz (dann ohne Wahrheitsanspruch und mit deutlich formulierter Pointe). Klassisches Beispiel ist das Haustier in der Mikrowelle mit folgendem Gerichtsprozess.

Die moderne Angst, undurchsichtigen politischen oder wirtschaftlichen Mächten ohnmächtig ausgeliefert zu sein, hat zahlreiche moderne Sagen entstehen lassen. Häufig beschreiben sie angebliche Manipulationen des Militärs oder großer Konzerne aus den Vereinigten Staaten. Beispiele sind Chemtrail, Iss-Popcorn-trink-Cola-Studie, Hängolin. Diese Sagen sind eng verwandt mit der Verschwörungstheorie.

Angst vor Fremden thematisieren zahlreiche Sagen, die gegen soziale oder ethnische Minderheiten gerichtet sind. So gibt es vielfache Versionen von Geschichten über unappetitliche Essenzusätze wie Hundefutter oder Sperma in Speisen von Restaurants ausländischer Küche. Diese Sagen werden zum Teil gezielt als Mittel der Diskriminierung, Ausgrenzung und Diffamierung von Bevölkerungsgruppen missbraucht. (Derartige Geschichten werden aber auch über Fastfood-Restaurants erzählt – hier kann ebenfalls eine – allerdings nicht ausländerfeindliche – Diskreditierungsabsicht vermutet werden).

Ebenso zahlreich sind die Sagen, die im Ausland spielen und die Ängste vor fremden Sitten und Unsitten spiegeln. Seltsame Essensgewohnheiten, Diebstähle, verschwundene Reisebegleiter und Lynchjustiz an unschuldigen Touristen sind Beispiele hierfür. Auch Sagen mit gefährlichen exotischen Tieren, gefährlichen Insektenstichen etc. sind häufig.

Zuletzt sind außerdem verstärkt Sagen aufgetreten, in denen die Angst vieler Menschen vor islamistisch motiviertem Terrorismus deutlich wird. In den Geschichten treten meist seriös wirkende Personen aus islamischen Ländern in Erscheinung, die einem Einheimischen gegenüber konkrete Anschlagspläne enthüllen. Oft wird von den Fremden, ohne weitere Erklärung, nur eindringlich dazu aufgefordert, sich in einem bestimmten Zeitraum nicht an einem bestimmten Ort aufzuhalten. Die nahe liegende Schlussfolgerung, was wohl hinter dieser Warnung steckt, bleibt dem jeweiligen Zuhörer überlassen, was die Angst machende Wirkung der Sage verstärken kann.

Sagen zur Volksart

Eine Sage kann auch eine angebliche Eigenheit eines Volkes oder einer anderen Gruppe illustrieren. So besagt die Mariakaakje-Beratung, der niederländische Ministerpräsident habe nach dem Zweiten Weltkrieg die amerikanischen Marshallplan-Entscheider in seine bescheidene Privatwohnung eingeladen, so dass diese den Eindruck bekamen, in den Niederlanden sei das amerikanische Geld gut aufgehoben. Meist sind die Handelnden in solchen Sagen aber namenlos.

Berühmte moderne Sagen bzw. Legenden und weitere Beispiele

  • Die Geschichte von George Turklebaum (in anderen Quellen und Versionen hat er einen anderen Namen), der in New York fünf Tage lang tot an seinem Schreibtisch gesessen haben soll, ohne dass es seinen Kollegen auffiel, schaffte es bis in die Londoner Times, den Guardian und die BBC.
  • Die Geschichte von einem Mann auf einer Geschäftsreise, der von einer Frau verführt wurde und am nächsten Morgen aufwachte und bemerkte, dass eine seiner Nieren zur Transplantation entfernt worden war.
  • Die Geschichte, dass die NASA für eine Million US-Dollar einen speziellen Kugelschreiber namens Space Pen entwickeln ließ, der auch im Weltall unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit zuverlässig funktioniert, während die Sowjetunion der Einfachheit halber einen Bleistift benutzte.
  • Das Krokodil im Abwassersystem von New York brachte es zu einigen Kinderbüchern und Verfilmungen wie z. B. Der Horror-Alligator (1980).
  • An Halloween soll es in den USA Menschen gegeben haben, die Äpfel, in denen Rasierklingen versteckt waren, an kleine Kinder verteilten.
  • Eine Berliner Legende sind die erfundenen Ereignisse um die tatsächliche Sprengung des Nord-Süd-Tunnels der Berliner S-Bahn im Jahr 1945, wo auch heute noch wahrheitswidrig von „Tausenden“ Ertrunkenen in der S-Bahn geschrieben und gesprochen wird.

Fernsehshows

Da sehr viele moderne Sagen existieren, gibt es inzwischen Fernsehshows, die sich mit deren Inhalt beschäftigen. Die beiden berühmtesten sind wohl die MythBusters und die Big Urban Myth Show. Bei Mythbusters werden vor allem technische Dinge überprüft („Wurde wirklich mal jemand geköpft, weil er in einen Deckenventilator gesprungen ist?“), bei der Big Urban Myth Show werden oft Polizei- und Feuerwehrakten durchsucht („Hat echt mal jemand den Tempomat in seinem Wohnmobil eingeschaltet und ist dann nach hinten gegangen, um sich einen Kaffee zu kochen?“). Man kann übrigens nicht geköpft werden, wenn man in einen Deckenventilator springt, und der Polizei liegen keinerlei Hinweise vor, dass jemals jemand den Tempomaten mit einem Autopiloten verwechselt hat.

Institutionen und Personen

Es gibt eine vielbesuchte englischsprachige Usenet-Newsgroup namens news:alt.folklore.urban (deutscher Ableger: news:de.alt.folklore.urban-legends), in der über diese Geschichten diskutiert wird. Die FAQ dieser Newsgroup fasst zusammen, welche der Geschichten wahr sind und welche nicht, sofern diese feststellbar sind.

Eine andere Quelle ist Virus Myths, eine weitere die Darwin Awards, die jedes Jahr einige Geschichten als besonders fragwürdig herausstellen, während eigentlich die bestätigten Geschichten für die Award-Seite die zentralen Elemente sind. Auch diverse Vertreter der Skeptikerbewegung setzen sich neben anderem mit einzelnen solchen Themen auseinander, sofern sie ihrem Anspruch auf eine ernsthafte Beleg- oder Widerlegbarkeit hinreichend entsprechen.

Schließlich gibt es Hoaxbusters, einen vom amerikanischen Energieministerium angebotenen Dienst, der sich um alle Arten von Hoaxes kümmert, die über Computer verteilt werden.

Es gibt eine Reihe bekannter Aufdecker urbaner Legenden, die sich durch die Aufklärung verschiedener Legenden einen Namen gemacht haben:

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Datenbanken

Sonstiges


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