Kollektivschuldthese

Kollektivschuldthese

Kollektivschuld bedeutet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem einzelnen Täter (oder Tätern) zugeordnet wird, sondern einem Kollektiv, allen Angehörigen seiner Gruppe, z. B. seiner Familie, seines Volkes oder seiner Organisation.

Im politischen Sprachgebrauch der deutschen Rechten sind die Begriffe Kollektivschuld und Kollektivschuldthese politische Schlagwörter geworden. Sie beziehen sich als Fremdbezeichnung auf die (tatsächliche oder angebliche) Behauptung einer Kollektivschuld aller Deutschen an den Verbrechen des Nationalsozialismus.

Inhaltsverzeichnis

Ethik und Recht

Die Annahme der Kollektivschuld wird mit einer moralischen Verantwortung durch die Zugehörigkeit zu der Gruppe begründet, nicht durch die individuelle Schuldzurechnung. In westlichen Gesellschaften ist dies nicht mit der Moral und dem Gesetz zu vereinbaren. So beruht z. B. das moderne Strafrecht in europäischen Staaten auf dem Grundsatz einer individuellen Verantwortlichkeit. In vielen Teilen der Welt und früher auch in Europa hingegen ist kollektivistisches Denken weit verbreitet, nach dem der Einzelne Teil eines Kollektivs (Familie, Klan, Volk) ist und für Taten z.B. von Familienangehörigen bestraft werden kann.

Kollektivhaftung

Im Unterschied zur Kollektivschuld gibt es den juristischen Begriff Kollektivhaftung die dem Mitglied einer Gruppe die Haftung für die Schäden auferlegt, welche Organe der Gesamtheit durch ihr Handeln verursacht haben. Mit Kollektivhaftung wird z. B. im Völkerrecht die Haftung eines Staates für Schäden völkerrechtswidrigen Handelns seiner Organe begründet. Hierher gehört auch die Verpflichtung zu Reparationszahlungen eines im Krieg unterlegenen Gegners, der den älteren völkerrechtlichen Anspruch auf Tributzahlungen abgelöst hat.

Kollektivschulddebatte für Krieg und Judenmord

Während 1946 noch 78 Prozent der Bevölkerung der Westzonen die ersten Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg als „fair“ empfanden, war diese hohe Zustimmungsquote nach Umfragen amerikanischer Demoskopen 4 Jahre später auf 38 Prozent gesunken. Die Internierungspraxis der Alliierten, die erzwungene Konfrontation mit den Hinterlassenschaften der Konzentrationslager, die Entnazifizierung von früheren Vertretern des NS-Regimes, die Strafverfahren vor zivilen und militärischen Gerichten wurden zunehmend als Siegerjustiz empfunden. Die Nürnberger Prozesse, in denen jeweils ausgewählte Spitzenrepräsentanten des NS-Regimes verurteilt worden waren, galten als inszenierte „Stellvertreterprozesse“, in denen eine „Kollektivschuld“ der Deutschen bewiesen werden solle. Auf dem Hintergrund eines diffusen Gefühls von Komplizenschaft wurde eine Entlastung aller Deutschen von einem „Kollektivschuldvorwurf“ gefordert, den es in der Realität von Seiten der Alliierten kaum gab. Nur Hitler, die NS-Führung bzw. die gesellschaftliche Eliten sollten für Krieg und Völkermord verantwortlich gewesen sein, nicht das gesamte deutsche Volk.

siehe auch: Zustimmung zum Nationalsozialismus).

Die Kollektivschuld-These konnte auch in apologetischer Form verwendet werden. Einige NS-Verbrecher haben sie zur persönlichen Entlastung angeführt, die Verantwortung habe also nicht bei ihnen selbst, sondern bei allen gelegen.

Individuelle Schuld

"Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll mit der Begründung, dass sie Verbrechen gegen den Frieden begangen hätten. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen, und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt."
(aus dem Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen die I.G. Farben. Anmerkung: Mit den Deutschen waren alle Staatsangehörigen des Dritten Reiches gemeint)

Eine weitere These ist die Theorie von der alleinigen Verantwortlichkeit Hitler bzw. der NSDAP-Führung und der SS. Das habe angeblich einen Befehlsnotstand begründet. Hierauf beriefen sich später viele Täter zur Rechtfertigung ihrer Verbrechen.

Kollektive Verantwortung

Benjamin Sagalowitz schrieb 1950 in einem Reisebericht für den Jüdischen Weltkongress:

Die Antwort auf die entscheidende Frage, ob irgendeine Aussicht auf eine echte Änderung in Verhalten und Standpunkt des deutschen Volkes besteht, ist eng mit dem Problem der Kollektivschuld verknüpft, d. h. mit Deutschlands Haltung zu seiner Nazi-Vergangenheit. Eine klare Definition des Begriffes „Kollektivschuld“ ist unentbehrlich, wenn man das Für und Wider dieser Frage einschätzen will. Wenn Juden über Deutschlands Kollektivschuld reden, meinen sie die Verantwortung der deutschen Nation als solcher für die Verbrechen, die in ihrem Namen vom Naziregime verübt wurden. Es geht also um die historische Schuld Deutschlands als einer kollektiven politischen Einheit. […] Etwas ganz anderes ist es festzustellen, ob eine „Solidarschuld“ vorliegt, d. h., ob man jeden einzelnen Deutschen der Naziverbrechen für schuldig halten sollte – aus dem einfachen Grund seiner Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Dies ist weder die Auffassung der Juden noch die der Alliierten. Die unterschiedlichen Kriegsverbrecherprozesse sind ein ausreichender Beweis, dass nur die aufgrund einer persönlichen Schuld Verurteilten […] bestraft werden.[1]

Sagalowitz argumentierte, dass alle Welt auf die Verantwortung der USA, Großbritanniens, der Sowjetunion oder Israels verwiese, wenn es z. B. um das Schicksal der arabischen Flüchtlinge aus Palästina oder um die Teilung Deutschlands gehe; in dieser Weise gebe es auch eine Verantwortung Deutschlands. Auch Leo Baeck unterschied politische Schuld von strafrechtlicher Schuld, er sprach von der Gesamtverantwortung Deutschlands.

Moralische Mitschuld

Ralph Giordano wollte 1947 nicht von „Kollektivschuld“ sprechen. Es habe eine Minderheit von Deutschen gegeben, die ihrem Gewissen und nicht dem Führer gefolgt sei. Die Mehrheit habe jedoch kein Recht, sich dadurch entlastet zu fühlen und von deren Anständigkeit zu profitieren, besonders weil sie sich auch heute noch von dieser Minderheit distanziere.[2] Giordano sah die Hauptschuld der Millionen in ihrem Schweigen dem Unrecht gegenüber, dem sie täglich, stündlich überall begegneten. Bereits 1945 schrieb der Frankfurter Rabbiner Leopold Neuhaus in der Frankfurter Rundschau[3] zum Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht, dass sich diejenigen, die zugesehen und die Zerstörung hätten geschehen lassen, mitschuldig gemacht hätten. Eine Rolle in der Diskussion um die Kollektivschuld spielte auch das Nutznießertum, das als Mitschuld begriffen wurde. Zwar gab es nach dem Krieg vielfach auch Verständnis und Hilfsbereitschaft für die Juden, aber es fehlte zunächst der Wille zur Wiedergutmachung und in Tausenden von Fällen versuchten Deutsche, Besitz zu behalten, der Juden gestohlen worden war.

Aufgrund der besonderen Verantwortlichkeiten gegenüber den Opfern der NS-Zeit, die die heutige Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich als Nachfolgestaaten des Großdeutschen Reiches trifft, finden nicht nur in beiden Staaten jährliche Gedenkfeiern statt, sondern wurden in der Vergangenheit so manches Unrecht durch finanzielle Leistungen und Rückgaben von Kunstwerken auszugleichen versucht. Bis Ende 2005 zahlte Deutschland 63,224 Milliarden Euro Entschädigungsleistung durch die deutsche Wiedergutmachungspolitik, die jeweils sehr unterschiedliche Kaufkraft aus den verschiedenen Zeiträumen ist dabei noch nicht berücksichtigt.

Beispiele aus der Religion

  • Aus dem Alten Testament ist die Vorstellung bekannt, dass eine Gruppe vom Unglück heimgesucht wird, weil einzelne ein Vergehen oder Verbrechen begangen haben.

Beispiele aus der Geschichte

  • In der Endphase des Nationalsozialismus wurde mit dem Begriff "Sippenhaftung" eine Form der Kollektivschuld eingeführt, mit dessen Hilfe man durch Inhaftierung von Familienangehörigen und Zwangseinweisung und Umbenennung von Kindern Generäle oder Kommandanten zu erpressen suchte, nicht zu kapitulieren.
  • Josef Stalin machte in der Sowjetunion die Bürger deutscher Abstammung für den Krieg mit dem Großdeutschen Reich mitverantwortlich und ließ sie in einer Art Sippenhaftung nach Sibirien verschleppen; viele verloren dabei ihr Leben. Diese Art Sippenhaftung oder Kollektivschuldhaftung gab es auch in den Vereinigten Staaten und vielen weiteren Staaten, die Kriegsgegner Hitlers waren.

Verweise

Interne Verweise

Literatur

  • Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung. Piper, München 1979, ISBN 3-492-00491-1.
  • Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. Beck, München 2005, ISBN 3-406-52954-2.
  • Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr. In: Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften II. GS Band 9.2, Frankfurt am Main 1997.
  • Tobias Ebbrecht und Timo Reinfrank: Deutsche Schuld und die Störenfriede der Erinnerung. In: gruppe offene rechnungen (Hrsg.): THE FINAL INSULT. Das Diktat gegen die Überlebenden. Deutsche Erinnerungsabwehr und Nichtentschädigung der NS-Sklavenarbeit. Münster 2003, ISBN 3-89771-417-5.
  • Jan Friedmann und Jörg Später: Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte. In: Ulrich Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Wallstein, Göttingen 2002, ISBN 3-89244-609-1, S. 53–90.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Jael Geis: Übrig sein – „Leben danach“. Philo, Berlin, o.J., ISBN 3-8257-0190-5, S. 290.
  2. Jael Geis, aaO, S. 295.
  3. Rabbiner Neuhaus:In memoriam..., FR vom 9. November 1945

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