Mise-en-abyme

Mise-en-abyme
Die Abbildung in der Abbildung

Der Begriff Mise en abyme (Altfranz. abyme, von griech. ἄβυσσος abussos: "ohne Boden, unendlich") stammt aus der Heraldik und bezeichnet ein Bild, das sich selbst enthält.

Darüber hinaus wird er für ein Erzählverfahren in der Epik und in der Dramatik gebraucht, das der mathematischen Rekursion entspricht. Diese Verwendung geht auf einen Tagebucheintrag von André Gide (Sommer 1893) zurück: „Es gefällt mir sehr, wenn der Gegenstand eines Kunstwerks im Spektrum seiner Charaktere ein weiteres Mal umgesetzt ist – ähnlich dem Verfahren, ein Wappen in seinem Feld wiederum abzubilden (mettre en abyme).“

Populäre Bild-Beispiele sind die historischen Werbeplakate von La vache qui rit oder des holländischen Droste-Kakaos. Ein bekanntes Textbeispiel ist das Kinderlied: „Ein Mops schlich in die Küche und stahl dem Koch ein Ei,/ da nahm der Koch den Löffel und schlug den Mops entzwei./ Da kamen viele Möpse und gruben ihm ein Grab/ und setzten ihm 'nen Grabstein, auf dem geschrieben stand:/ Ein Mops schlich in die Küche und stahl dem Koch ein Ei…/“

Inhaltsverzeichnis

Etymologie

Der Begriff lässt sich etymologisch auf zwei Wegen herleiten. Abyme beziehungsweise abîme ist zum einen ein Terminus technicus aus der Wappenkunde und bezeichnet das Wappenfeld im Wappen, also ein Wappen im Wappen. Abime, so geschrieben, bedeutet zum anderen Abgrund und mise en abyme so viel wie in den Abgrund (unendlicher Wiederholung) werfen.

Die Mise en abyme ist ein abbildendes oder narratives Verfahren, das in den Vanitas-Darstellungen des 16./17. Jahrhunderts häufig vorkommt und später von vielen Romantikern genutzt wird (siehe auch Metalepse).

Aspekte der mise en abyme

Im Folgenden werden verschiedene Definitionen oder Umschreibungen der mise en abyme vorgestellt:

Gero von Wilpert

Mise en abyme: (…), von A. Gide (Journal, 1893); Les faux-monnayeurs, 1925) eingeführte Bezeichnung für eine dem Spiel im Spiel des Dramas entsprechende Technik der Rahmenerzählung, bei der eine bzw. die gerahmte Binnenerzählung selbstreflexiv Widerspiegelung der (Rahmen-)Haupthandlung oder eines Teils derselben ist und diese wie zwischen zwei Spiegeln stehend unendlich fortsetzen kann.
Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 1955

Die mise en abyme also ist ein spezifisches Wiederholungsverfahren auf der narrativen Ebene, respektive der Ebene des discours.

Werner Wolf

Die mise en abyme ist die Spiegelung einer Makrostruktur eines literarischen Textes in einer Mikrostruktur innerhalb desselben Textes. Gespiegelt werden können Elemente der fiktiven histoire, Elemente der Narration, sprich Elemente der Vermittlungs- und Erzählsituation selbst, oder poetologische Elemente (allgemeiner Diskurs, über die Erzählsituation hinaus).
Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, 1993.

Wolf gibt als weitere Wiederholungsverfahren noch Variation und Symmetrie an. Voraussetzung für die mise en abyme ist, dass die Wiederholung sich auf einer anderen Ebene konstituiert als der ursprünglich gegebenen. Im Text muss es also eine Hierarchie von Erzählebenen (extra-, intradiegetisch etc.) geben.

Michael Scheffel

Viele der angegebenen Definitionen bestehen auf einer Unendlichkeit der Wiederholung, also auf der unendlichen Spiegelung. Michael Scheffel unterscheidet deutlich zwischen der einfachen und der unendlichen Spiegelung. Er richtet sich gegen einen inflationären Gebrauch des mise en abyme-Begriffs. Demnach ist für ihn nur die wörtliche Wiederholung der Rahmen- in der Binnengeschichte als mise en abyme zu bezeichnen. Damit verbunden ist oft das Motiv des Buchs im Buch: zum Beispiel eine Figur, die ihre eigene Geschichte liest bzw. ein Buch, das Elemente der Rahmenerzählung wiederholt. Oft sind die Figuren innerhalb einer solchen Konstruktion Schriftsteller, die zugleich als erzählte und als erzählende Figur verstanden werden.

Als Beispiel nennt er NovalisHeinrich von Ofterdingen: Im fünften Kapitel findet Heinrich bei einem Einsiedler ein Buch, das – wie Heinrich nur aus den Illustrationen des in einer ihm fremden Sprache geschriebenen Textes schließen kann – offensichtlich seine eigene Geschichte erzählt.

Brechung/Störung der Fiktion

Ein solches Erzählverfahren suggeriert nicht nur unendliche Wiederholungsschleifen, sondern auch eine Brechung der Fiktion. Die unendlichen Schleifen verweisen auf die eigene Fiktionalität. Scheffel erklärt deshalb die narrative Metalepse, die eben jene Durchbrechung der Fiktion bezeichnet, zur Voraussetzung für die mise en abyme. Es handelt sich dabei um eine Grenzüberschreitung zwischen dem Erzählen und dem Erzählten.

Ein plakatives Beispiel hierfür ist E. T. A. Hoffmanns Capriccio Prinzessin Brambilla: Darin erzählt der Fürst von Pistoja den anderen Figuren von einem „Capriccio, Prinzessin Brambilla geheißen, einer Geschichte, in der wir selbst vorkommen und mitspielen.“ Folglich liegt hier eine echte Reflexionsschleife vor, die quasi als Selbstentlarvung fungiert. Ein weiteres Beispiel ist Flann O’Briens At Swim-Two-Birds (1939): Hier findet sich eine Geschichte in der Geschichte, in der die Figuren ihren Autor vor Gericht verklagen.

Auch Werner Wolf behandelt in seinem Buch die mise en abyme als illusionsstörendes Erzählverfahren. Aber nach ihm ist sie keineswegs für sich allein illusionsstörend. Für ihn muss es nicht eine wörtliche Wiederholung sein, sondern es reicht eine sinngemäße. Dann könne die mise en abyme nicht nur plausibel und illusionskompatibel sein, sondern auch Verständnishilfe für den Leser werden. Obwohl sie in den Abgrund wirft, kann sie somit Licht ins Dunkel bringen, Rätsel der Rahmengeschichte nach Detektivmanier in der Binnengeschichte auflösen. Vor allem Spiegelungen von histoire-Elementen (mise en abyme fictionelle) seien oft illusionskompatibel, nämlich dann, wenn sie als Traum, Orakel oder Ähnliches auftreten. Zusätzliche Faktoren seien zur Illusionsstörung nötig. Einer dieser Faktoren ist zum Beispiel die Frequenz des Auftretens der mise en abyme und die Anzahl der Spiegelungsebenen. Ein anderer Faktor ist der Umfang des Spiegelungsinhalts: Einzelelemente der Geschichte in partiellen mises en abyme seien weniger illusionsstörend als umfangreiche und im Extremfall die ganze histoire umfassende Totalspiegelungen.

Generell aber wirkt eine mise en abyme alleine dadurch illusionsstörend, dass sie – wie Wolf sagt – die Konstruiertheit der Geschichte sichtbar werden lässt. Die wenn auch nur sinngemäße Wiederholung der mise en abyme offenbart eine formale Organisation von auffälliger Künstlichkeit. Wolf zieht das Fazit: „Die mise en abyme ist eine Technik, die auf histoire-Ebene zu empfindlichen Störungen der Illusion führen kann, aber nicht muss. Sie wirkt vor allem dann illusionsgefährdend, wenn sie einen sichtlichen Überschuss an Sinn und Ordnung innerhalb der histoire produziert, der aufgrund seiner Unwahrscheinlichkeit die Geschichte als glaubwürdige Wiedergabe einer Wirklichkeit und damit als illusionistisches Zentrum eines Textes entwertet.“

Metzler

Eine relativ neue Definition im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie fasst den Begriff der mise en abyme sehr weit und lässt typologische Differenzierungen der mise en abyme zu. Dort werden Ausprägungen der mise en abyme unterschieden:

  • in quantitativer Hinsicht:
    • eingelegte mise en abyme von geringem Umfang gegenüber gerahmter mise en abyme von großem Umfang
    • Einmalige gegenüber häufiger bzw. endloser mise en abyme
    • Partielle gegenüber totaler mise en abyme
  • in qualitativer Hinsicht:
    • wörtliche gegenüber transponierter, d.h. veränderter Spiegelungen
    • wahrscheinliche gegenüber unwahrscheinlicher bzw. paradoxer mise en abyme
  • nach Gegenstandsbereichen:
    • inhaltliche gegenüber formaler mise en abyme
  • in funktioneller Hinsicht:
    • metatextuelle Funktionalisierung und die pro- und retrospektiv wirkende mise en abyme, durch die (meist inhaltliche) Leerstellen der übergeordneten Ebene aufgefüllt oder Rätsel aufgedeckt werden (dies ist ein Sonderfall der implizit kommentierenden, sinnstiftenden und verdeutlichenden Funktion, die der mise en abyme oft, ähnlich einer Erzählinstanz oder als Einsatz von ihr, zukommt)
    • bei häufiger oder paradoxer Anwendung kann die mise en abyme auch illusionsdurchbrechend wirken (literarische Künstlichkeit)

Literatur

  • Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart 2004. ISBN 3-476-01889-X
  • Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Tübingen 1997.
  • Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Tübingen 1993.
  • von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 2001.

Weblinks

Siehe auch


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