Diegese

Diegese

Diegese (frz. diégèse, nach altgriech. διήγησις „Erzählung, Erörterung, Ausführung“) ist ein analytischer Begriff der Erzähltheorie. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf den Sachverhalt, ob etwas innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt ist.

Der Begriff ist eine Abwandlung der altgriechischen Diegesis, die eine erzählende Rede bezeichnet, im Gegensatz zur Mimesis. Die Diegese muss aber deutlich von der Diegesis unterschieden werden. Laut Genette ist „die Diegese (...) eher ein ganzes Universum als eine Verknüpfung von Handlungen. Sie ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt“. [1] Für Souriau beinhaltet sie „alles, was sich laut der (...) präsentierten Fiktion ereignet und was sie impliziert, wenn man sie als wahr ansähe.“ [2]

In der Kunstgeschichte wird der Begriff Diegese im Rahmen der Rezeptionsästhetik verwendet. Diegese gibt Auskunft auf die Frage, in welcher Art und Weise die Dinge und Personen der innerbildlichen Kommunikation zueinander in Beziehung treten (den Betrachter ein- oder aber scheinbar ausschließend). Sie gibt Auskunft über die Anordnung der Handlungsträger auf der Bildfläche und/oder im perspektivischen Raum, die Position, die sie zueinander und zum Betrachter einnehmen (→ deiktische Einrichtung des Werks).

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

1950 kreierte Anne Souriau im Rahmen einer Arbeitsgruppe zur Ästhetik am Institut der Filmologie an der Université de Paris einen Begriff, den ihr Vater Etienne zu Beginn des Semesters 1950/51 dann erstmals im Rahmen einer Vorlesung über Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie der akademischen Öffentlichkeit präsentierte.[3] Er lehnt sich an Platons Unterscheidung von Mimesis und Diegesis in dessen Werk Politeia an, unterscheidet sich aber deutlich davon. Diégèse bezeichnet nach Souriau das raumzeitliche Universum, welches ein erzählender Text, ein Drama oder ein Film eröffnen (l'univers d'une œuvre, le monde qu'elle évoque et dont elle représente une partie – „Das Universum eines Werks; die Welt, die es erzeugt und zu der es selbst gehört“).

Anne Souriau geht noch weiter und behauptet: „Das Wort Diegese betrifft alle Künste, in denen man etwas repräsentiert (Kino, Theater, gegenständliches Ballett, Literatur, Malerei und repräsentative Plastik, Programmmusik etc.)“[3]

Vor allem bei der Analyse von Filmmusik wird die Unterscheidung diegetisch-nichtdiegetisch (oder diegetisch-extradiegetisch) seither häufig verwendet (Klingt die Musik in der Handlung oder steht sie außerhalb?). Zum Beispiel: Eine Hintergrundmusik ist nichtdiegetisch, eine von sichtbaren Instrumenten gespielte (oder aus sichtbaren Lautsprechern klingende) Musik diegetisch.

Unterscheidungen dieser Art sind jedoch für alle Elemente einer Erzählung zentral: Dass ein Erzähler oder eine Kamera ein Detail aus einem Zusammenhang herausheben, hat nichts mit der erzählten Welt zu tun, sondern mit der Welt des Erzählers, der sich für etwas Bestimmtes interessiert und dies den Hörern, Lesern, Zuschauern weitervermittelt. Das Detail gehört zur erzählten Welt, seine Hervorhebung nicht. Jede Erzählung enthält diegetische und nichtdiegetische Bestandteile.

In der Intermedialitätsforschung wird die Unterscheidung diegetisch-nichtdiegetisch häufig mit der Unterscheidung „technisches Verfahren“-„menschliche Zutat“ gleichgesetzt, z. B. bei einem "nichtdiegetischen" Live-Kommentar zu einer „diegetischen“ Aufzeichnung. Dabei bleibt oft unberücksichtigt, dass technische Verfahren Konventionen von Beobachtern sind, die noch keine Informationen über ein Beobachtetes enthalten.

Der Erzähltheoretiker Gérard Genette hat den Begriff Diegese aufgenommen und weiterentwickelt.

Terminologie nach Genette

Diegetisch oder intradiegetisch ist nach Gérard Genette alles zu nennen, was zur erzählten Welt gehört. Ein Text kann mehr als eine diegetische Ebene haben, in der Regel benennt man mit Diegese jedoch die Elemente der Haupthandlung, sofern sich eine solche bestimmen lässt.

„Erzählebenen“ können aufeinander aufbauen, so dass eine Hierarchie entsteht. Um verschiedene Ebenen voneinander trennen zu können, führt Genette relationale Begriffe ein:

  • Die der Diegese vorgelagerte Erzählebene, also zum Beispiel Rahmenhandlungen, nennt er extradiegetisch.
  • Die eigentliche Diegese oder Erzählung, die Ebene auf der die Figuren handeln, nennt Genette zur besseren Unterscheidung intradiegetisch.
  • Wenn wiederum in die Intradiegese Erzählungen eingelagert werden, spricht man von Binnen-Erzählungen; Genette nennt diese Ebene metadiegetisch.

Auch die verschiedenen "Erzählerpositionen" macht Genette an ihrem Verhältnis zur Diegese fest.

  • Ist der Erzähler gleichzeitig eine (Neben-)Figur der Handlung, nennt er die Erzählerposition homodiegetisch.
  • Ist der Erzähler sogar Protagonist der Handlung, ist die Erzählposition als Sonderfall der homodiegetischen Position autodiegetisch zu nennen.
  • Kommt der Erzähler in der Handlung selbst nicht vor, ist seine Position als heterodiegetisch zu bezeichnen.

Die Bezeichnungen der Erzählebenen und der Erzählerpositionen sind unabhängig voneinander. Eine Figur kann auf verschiedenen Ebenen auch unterschiedliche Erzählpositionen einnehmen: Ein Erzähler, der auf der extradiegetischen Ebene autodiegetisch erzählt, also eine Geschichte berichtet, in der er selbst die Hauptperson ist, kann innerhalb dieser erzählten Geschichte, der Diegese, wiederum eine Geschichte berichten (metadiegetisch), in der er aber nicht vorkommt, also auf intradiegetischer Ebene ein heterodiegetischer Erzähler sein.

Terminologie nach Souriau

Laut Souriau steht die Diegese bzw. das Diegetische als eigene Dimension des filmischen Universums neben:

  • dem Afilmischen (die "unabhängig von den kinematographischen Tatsache" existierende Wirklichkeit)
  • dem Profilmischen (die gefilmte "objektive Wirklichkeit")
  • dem Filmographischen ("alle Aspekte des fertig gezogenen Filmstreifens")
  • dem Filmophanischen ("alles, was sich während der audiovisuellen Projektion des Films ereignet")
  • dem Kreatoriellen ("alles, was die Hervorbringung des Werks betrifft")
  • dem Leinwandlichen ("alle Aspekte, die auf der Leinwand während der Projektion zu beobachten sind")
  • sowie dem Spektatoriellen ("alles, was sich subjektiv im Geist des Zuschauers ereignet").[4]

Verwandte Theorien

Eine ähnliche Theorie zur Differenzierung der Handlungsrahmen, die er „frames“ nennt, hat der amerikanische Soziologe Erving Goffman um etwa 1960 entwickelt. Er trennt jedoch nicht zwischen Fiktion und Alltagserfahrung und behandelt jedes Außerplanmäßige als etwas, was nicht zur Diegese gehört. Dementsprechend wird seine Theorie eher von der Soziologie aufgegriffen, obwohl Goffman zahlreiche Beispiele aus Literatur oder Film verwendet. (Siehe auch: Vierte Wand)

Einzelnachweise

  1. Gérard Genette: Die Erzählung, Fink Verlag, München 1998, S. 201f.
  2. Etienne Souriau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie in: Montage/AV, 6/2/1997, S. 156
  3. a b Etienne Souriau gibt in seinem Aufsatz von 1951, in dem er den Terminus erstmals erwähnt, keine Hinweise auf dessen Ursprung. (Etienne Souriau: Vocabulaire d'esthétique, Paris: Presses universitaires 1990, S.581).
  4. Etienne Souriau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie in: Montage/AV, 6/2/1997, S. 156f

Literatur

  • Etienne Souriau: „La structure de l’univers filmique et le vocabulaire de la filmologie“, in: Revue internationale de Filmologie, H. 7-8 (1951), S. 231-240 - Dieser Text ist 1997 als Nachdruck (auf Deutsch) in der montage/av erschienen und als PDF herunterzuladen: http://www.montage-av.de/a_1997_2_6.html
  • Etienne Souriau (und Anne Souriau): Vocabulaire d'esthétique. Quadrige, Paris 2004, ISBN 2130544010
  • Gérard Genette: Die Erzählung. Hrsg. von Jochen Vogt. UTB, Stuttgart 1998, ISBN 3825280837
  • Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3518279297
  • Wolfgang Kemp: „Kunstwerk und Betrachter: der rezeptionsästhetische Ansatz“, in: „Kunstgeschichte - Eine Einführung“, Berlin 2003, ISBN 3496012617

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