- Naghol
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Die Lianenspringer von Pentecôte gehören zum Volk der Sa und gelten als indirekte Erfinder des modernen Bungee-Springens. Jedes Jahr zwischen April und Juni stürzen sie sich auf der zu Vanuatu gehörenden Insel Pentecôte von hohen Sprungtürmen in die Tiefe, nur gesichert durch Lianen. Die Sa gehören kulturell und phänotypisch zu den Melanesiern.
Das Turmspringen der Sa aus Pentecost ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, verläßliche Informationen über ein fremdes Kulturphänomen zu erhalten. Oft werden Erklärungsansätze für diese Veranstaltung angeführt, die von archaischen Initiationsriten oder männlichen Mutproben sprechen, ohne dass man sich die Mühe macht, den Einzelfall tatsächlich zu prüfen. Vieles wurde in der Populärdiskussion vereinfacht und undifferenziert dargestellt. Vieles war schlichtweg falsch.
Inhaltsverzeichnis
Naghol
Naghol ist der Name, unter dem das Springen allgemein bekannt ist. Woher kommt der Name Naghol? Zunächst müßte man sagen, dass Naghol ein Bislama-Wort und damit eigentlich ein falscher Begriff ist. In der Sprache der Sa selbst heißt die Veranstaltung schlicht gol. Wahrscheinlich leitet sich der Begriff gol vom Sa Wort kolan – „Spiel“– ab. Der Sprungturm selbst heißt tarbe (-gol), was wörtlich übersetzt soviel bedeutet wie „der Körper (tarbe) des Spiels (gol)“ oder „der Körper des Spielzeugs“. Die Bezeichnungen für die einzelnen Teilbereiche des Turmes orientieren sich an Bezeichnungen, die man auch für den menschlichen Körper verwendet. Betrachtet man den Turm von vorne, so sieht man mehrere übereinandergestaffelte Ebenen von Sprungbrettern, denen entsprechende Körperbereiche zugewiesen sind: Fuß, Knie, Unterleib, Brust, Brustwarze, obere Brust, unter den Armen, Kehle, Schulter, Kopf. Die Seiten des Turmes nennt man si gol (die Seiten des Spiels), die vier Ecken sin teban (zusammengebundene Ecken), die Rückseite alu gol (der Rücken des Spiels), das Innere des Turmes lon te gol (im Inneren des Spiels). Das Sprungbrett wird ba gol genannt (Frucht des Spiels). Die mittlere, größte der das Sprungbrett stützenden drei Abstrebungen beim gol abri heißt wichin (Penis), die beiden äußeren nennt man sinbwel ankennen (Schamlippen). Diese Verbindung zwischen Sprungturm und menschlichem Körper ist kein Zufall (s.u.)
Geschichte
Ein Mythos besagt, dass eine junge Frau aus Pentecost von ihrem eifersüchtigen Mann verfolgt wurde. Verzweifelt erklomm sie einen hohen Baum, doch er folgte ihr, bis sie die Spitze erreichte und da er ihr dicht auf den Fersen war, sprang sie in die Tiefe – in den vermeintlich sicheren Tod. Als ihr Mann das sah, sprang ihr hinterher, da er ohne sie nicht mehr leben wollte. Die Frau jedoch hatte ihn getäuscht und schnell Lianen um ihre Knöchel gebunden. Während ihr Mann starb, retteten sie diese Lianen.
Ablauf
Mehrere Wochen vor dem Tag des eigentlichen Springens wird ein 15 bis maximal 30 Meter hoher Turm aus Holz errichtet. Rückgrat des Turmes bildet ein Baum, meist eine Kokospalme, die von allen Ästen bzw. Wedeln befreit wird. Die Äste des Turmes werden durch Lianen und weichgeklopfte Rindenstreifen miteinander verbunden. Zur besseren Stabilität des Bauwerks werden zusätzlich Lianen zu umliegenden Bäumen gespannt. Beim Bau des Turmes dürfen keine Frauen zusehen oder teilnehmen. Am Tag vor dem Sprung befestigen die Springer ihre Plattformen im Turm. Dabei ist es keinesfalls so, dass die jüngeren Männer ausschließlich von unten und die älteren Männer ausschließlich von oben springen. Eine festgelegte Reihenfolge gibt es hier nicht!
Am den Tagen kurz vor dem Sprung bereiten die Springer ihre zwei Lianen vor, deren Dicke sich nach dem Gewicht der Springer bemisst. Lediglich die unteren vierzig Zentimeter werden kurz vor dem Sprung aufgefasert, damit sich die Fasern besser um die Knöchel binden lassen.
Am Tag des Sprunges sind auch die Frauen zugegen. Die Teilnehmer werden durch Gesänge und rhythmisches Stampfen angefeuert. Die Springer erklimmen daraufhin ihre Plattformen und binden die Lianen an diese sowie an ihren Fußknöcheln fest. Die Teilnehmer mit der niedrigsten Sprunghöhe beginnen und am Abschluss springt der Teilnehmer mit der höchsten Plattform aus maximal 30 Metern Höhe.
Die Behauptung, die Springer müssten am Ende des Sprunges möglichst mit dem Kopf auf dem Erdboden aufschlagen wird zwar immer wieder einmal vorgebracht, ist aber nicht belegt und wird auch von den Sa selbst zurückgewiesen.
Sinn
Man findet - ausgehend von einem Beitrag von Irving und Electa Johnson in einem Beitrag für National Geographic (1955) - Hinweise darauf, dass die Sprünge eine reiche Yamswurzel-Ernte garantieren sollen und auch ein Initiationsritual für junge Männer bilden. Diesen Aussagen wird unter anderem von Thorolf Lipp (siehe Literatur) klar und wohlbegründet widersprochen.
Gegen ein Initiationsritual sprechen mehrere Aspekte: es springen nicht nur junge Männer im typischen Initiationsalter, sondern auch ältere Männer, sodann ist eine Teilnahme am Sprung keine Pflicht und es werden auch keine sozialen Nachteile für diejenigen beobachtet, die nicht gesprungen sind.
Lipp stellt im Schlusswort seiner Studie fest, dass es sich beim dem Springen um ein "riskantes Spektakel" handelt, bei dem Männlichkeit dargestellt wird und das für die Teilnehmer Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg bietet. In neuerer Zeit kommt auch der wirtschaftliche Aspekt des Gol-Tourismus hinzu. Für weitergehende Deutungen muss auf die Literatur verwiesen werden.
Tourismus
Auch wenn TV Teams bis heute gerne so tun, als wären sie die einzigen Zeuge einer bislang so gut wie unentdeckten, absolut exklusiven Veranstaltung - Gol Tourismus gibt es schon seit spätestens den 50er Jahren.
Heute gibt es vor allem auf der leichter zugänglichen Westseite der Insel Pentecost in den Monaten zwischen Mai und Juni einen regen Gol Tourismus. Natürlich hat die "Authentizität" der Veranstaltung dabei praktisch von Anfang an gelitten, das gol ist heute weitestgehend folklorisiert und ökonomisiert. Eintrittsgelder sind mit etwa 100 Euro für einen einfachen Zuschauer und bis zu (ca.) 10.000 Euro für ein professionelles Filmteam (in Bunlap) nicht gerade günstig.
Literatur
de Burlo, Chuck ( 1996) Cultural resistance and ethnic tourism on South Pentecost, Vanuatu In: Butler, Richard und Hinch, Tom Tourism and Indigenous Peoples. London und Boston. International Thomson Business Press.
Jolly, Margaret (1994a) Women of the Place. Kastom, colonialism and gender in Vanuatu Chur, Harwood
Jolly, Margaret (1994b) Kastom as Commodity: The Land Dive as Indigenous Rite and Tourist Spectacle in Vanuatu. In: Lindstrom & White (eds.) Culture - kastom - Tradition. Developing Cultural Policy in Melanesia. Suva, Institute of Pacific Studies, University of the South Pacific.
Lipp, Thorolf (2008 ) Gol – das Turmspringen auf der Insel Pentecost in Vanuatu. Beschreibung und Analyse eines riskanten Spektakels. LIT Verlag, Münster, Wien (im Druck) Buch: 460 Seiten
Lipp, Thorolf (2008) Das Turmspringen der Sa in Vanuatu: Ritual, Spiel oder Spektakel? Eine dramatologische Perspektive.“ In: Willems, Herbert (Hg.) „Theatralisierungen und Enttheatralisierungen in der Gegenwartsgesellschaft.“ VS Verlag (im Druck).
Lipp, Thorolf (2005) Vom Ursprung. Arcadia Filmproduktion im Auftrag des Bayerischen Fernsehens Film: 45 Minuten
Muller, Kal (1970) Land Diving With the Pentecost Islanders In: National Geographic: December 1970 ( Vol 138, No.6: 796-817)
Muller, Kal (1971) Le saut du Gol dans le sud de l’ile Pentecôte aux Nouvelles-Hébrides. In: Journal de la Société des océanistes. XXVII (32): 219-233.
Weblinks
http://www.thorolf-lipp.de/research_fieldwork/index_Turmspringer.html
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