Naturalistisches Theater

Naturalistisches Theater

Der Naturalismus ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Epoche oder Strömung in der Theatergeschichte, die von Frankreich, Deutschland und Russland ausging. Oft wird er oberflächlich als ein „Wie-im-Leben“-Stil charakterisiert. Er hat eine literarische, eine ausstattungstechnische und eine schauspieltechnische Komponente.

Inhaltsverzeichnis

Literatur

Von der Seite der Theaterliteratur ist der Naturalismus ein Versuch, die Menschen und ihre Umgebung glaubwürdig, und das heißt vor allem „ungeschönt“ darzustellen. Dies betraf hauptsächlich Figuren der unteren Gesellschaftsschichten. Dazu wurde auf Verse verzichtet und Umgangssprache (etwa Dialekt) verwendet. Es wurden scheinbar banale Themen mit gesellschaftskritischen Zielsetzungen auf die Bühne gebracht.

Die Romantheorie von Émile Zola gab dazu einen wesentlichen Anstoß (vgl. Naturalismus (Literatur)). Die genaue Menschenbeobachtung sollte zu einer präzisen Wiedergabe ihrer Lebensumstände und ihres Verhaltens führen. Der Naturalismus führte mit Vorliebe das Leben der Unzufriedenen oder Unterprivilegierten vor. Anton Pawlowitsch Tschechow, Maxim Gorki, Gerhart Hauptmann oder Henrik Ibsen haben naturalistische Theaterstücke verfasst.

Ausstattung

In Bezug auf die Ausstattung versucht der Bühnennaturalismus eine Illusion mit möglichst realistischen, nicht bloß gemalten oder angedeuteten Bühnenbildelementen und Kostümen zu schaffen. Vor allem im populären Pariser Theater und in der von dort ausgehenden Großen Oper waren die technischen Möglichkeiten enorm vergrößert worden. Die gemalten Elemente der Dekoration wichen den „praktikablen“ (etwa Türen, Fenster oder Schränke, die sich öffnen ließen).

Diesen erweiterten Möglichkeiten begegnete die Forderung nach historischer und lokaler „Treue“ der Wiedergabe. (Im 18. Jahrhundert war dagegen noch in der Mode der Gegenwart Theater gespielt worden, gleich woher das Stück stammte, und das wesentliche Unterscheidungsmerkmal bildete die Standeszugehörigkeit der Figuren.) Die Meininger Tourneetruppe bemühte sich etwa um historisch getreue Kostüme.

Detaillierte Zimmerdekorationen mit allen üblichen Einrichtungsgegenständen waren auf den Bühnen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beliebt (vgl. die Zimmerbilder in der ersten Jahrhunderthälfte). Die Öffnung zum Zuschauerraum wird dadurch eine genau definierbare transparente, aber undurchlässige Vierte Wand. Voraussetzung dazu war eine differenzierte Theaterbeleuchtung, wie sie erst durch Gaslicht und elektrisches Licht (bei mittlerweile völliger Verdunkelung des Zuschauerraums) möglich wurde.

Schauspiel

Was die Schauspieler betrifft, bemüht sich der Naturalismus, das Bühnenspiel durch Erinnerungsübungen an das „wirkliche“ menschliche Verhalten anzunähern. Einerseits geschieht dies über die Beobachtung von Menschen, die sich in ähnlichen Situationen wie die gespielte Rolle befinden; andererseits über die Erinnerung an eigene Erlebnisse. Diese beiden Näherungsweisen können sich ergänzen oder widersprechen.

Das Publikum wird im naturalistischen Theater zwar wahrgenommen, aber nicht mehr direkt ins Spiel mit einbezogen, wie es vor allem im populären Theater mit Beiseitesprechen oder Extempores üblich war. Dieser Stil bedingte eine wesentlich längere Probezeit als bisher und vergrößerte die Bedeutung des Regisseurs.

Der erste Schauspiellehrer, der sich auf Naturbeobachtungen stützte, war François Delsarte. Der Begründer der naturalistischen Schauspieltechnik war Konstantin Stanislawski mit seinem Moskauer Künstlertheater. Obwohl Stanislawski seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend angefeindet wurde und sich selbst von einem Abbild-Naturalismus distanzierte, blieb seine Schule maßgeblich für die deutsche und osteuropäische Schauspielerausbildung und schuf wesentliche Anregungen für das US-amerikanische Filmschauspiel (siehe Lee Strasberg und das Method Acting).

Literatur

  • Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. Bd. 8–10: Naturalismus und Impressionismus, Salzburg: Müller 1968–1974.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Theater der Späten Neuzeit — Das Theater der Späten Neuzeit beschreibt die Entwicklung des Theaters nach der Romantik bis in die Gegenwart. Der Aufbau eines modernen Theaters weicht nur gering von antiken Vorbildern ab. Der Inhalt orientiert sich stark an den Strömungen des… …   Deutsch Wikipedia

  • Theatergeschichte — Die Geschichte des Theaters ist die Geschichte von der Aufführung szenischer Darstellungen im Theater. Idealtypus des antiken griechischen Theaters Inhaltsverzeichnis 1 Einführung 2 …   Deutsch Wikipedia

  • Geschichte des Theaters — Die Geschichte des Theaters ist die Geschichte von der Aufführung szenischer Darstellungen im Theater. Idealtypus des antiken griechischen Theaters Inhaltsverzeichnis 1 Einführung …   Deutsch Wikipedia

  • Emil Meßthaler — Emil Meßthaler, auch Messthaler (* 20. Juni 1869 in Landshut; † 7. Januar 1927 in München) war ein deutscher Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Schriften 3 Literatur …   Deutsch Wikipedia

  • Zola und der Naturalismus: Die Wissenschaft als Vorbild —   Der Naturalismus war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine ebenso bedeutende wie umstrittene literarische Bewegung. Als ihr wichtigster Vertreter gilt Émile Zola. Doch wie keine Strömung aus dem Nichts entsteht oder für sich genommen… …   Universal-Lexikon

  • Gerhart Hauptmann — Gerhart Johann Robert Hauptmann (* 15. November 1862 in Ober Salzbrunn in Schlesien; † 6. Juni 1946 in Agnetendorf/Agnieszków in Schlesien) war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller. Er gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des… …   Deutsch Wikipedia

  • Rose Bernd — Daten des Dramas Titel: Rose Bernd Gattung: Naturalistisches Drama Originalsprache: Deutsch Autor: Gerhart Hauptmann Ura …   Deutsch Wikipedia

  • Freie Volksbühne Berlin — Volksbühne in Berlin, 1930 Die Freie Volksbühne Berlin e. V. ist die traditionsreichste Besucherorganisation in Berlin. Inhaltsverzeichnis …   Deutsch Wikipedia

  • Kunstbegriff — Sebastiano Ricci: Allegorie der Künste 1690–1694 Das Wort Kunst bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist (Heilkunst, Kunst der freien Rede). Im engeren… …   Deutsch Wikipedia

  • Kunstfertigkeit — Sebastiano Ricci: Allegorie der Künste 1690–1694 Das Wort Kunst bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist (Heilkunst, Kunst der freien Rede). Im engeren… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”