- Neue Vahr Süd
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Neue Vahr Süd ist ein Roman von Sven Regener, erschienen 2004. Der Titel bezieht sich auf das Neubaugebiet Neue Vahr Süd im Osten Bremens.
Das Buch spielt vom 30. Juni 1980 bis Mitte November des gleichen Jahres und erzählt die Vorgeschichte von Frank Lehmann, der Hauptfigur in Regeners Roman Herr Lehmann.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Frank Lehmann, den zu dieser Zeit noch niemand Herr Lehmann nennt, muss seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr in der Pionierkaserne Dörverden ableisten. Aus ihm selbst weitgehend unbegreiflichen Gründen hat er es verschlafen, den Kriegsdienst zu verweigern. Seine Eltern nutzen seine erste Woche in der Kaserne dazu, Franks Zimmer für das Hobby des Vaters umzuräumen. Daraufhin zieht Frank in eine Wohngemeinschaft mit Studenten, „Organisierten“ bzw. Ex-Organisierten und Punks im Ostertorviertel in Bremen.
Erzählerische Intention
Der Roman ist in zwei Bücher unterteilt. Franks groteske, tragisch-komischen Erlebnisse in der Kaserne, in seiner WG, bei seinen Eltern und mit den Mädchen werden in diesem Roman beschrieben. Dabei beweist Regener ein Gespür für Situationskomik und schreckt auch vor slapstickartig-humoresken Szenen nicht zurück, die letztlich allerdings immer in der lakonisch-schwebenden Grundstimmung eingebettet bleiben. Er stattet seinen Protagonisten mit den Eigenschaften eines zunächst naiv erscheinenden, trockenen Humors und eines voluntaristischen Pragmatismus aus. Sie helfen ihm, im Zusammenleben mit teils absonderlichen Mitmenschen und in den absurden Verhältnissen des Militärs die innere Balance nicht zu verlieren.
Erstes Buch „Grundausbildung“
Im ersten Buch agiert die Figur „Frank Lehmann“ meist passiv. Die Geschehnisse um ihn herum, wie etwa die Umfunktionierung seines Zimmers in der elterlichen Wohnung in eine TV-Werkstatt oder seinen gescheiterten Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, nimmt Frank hin, registriert und kommentiert sie, weigert sich aber, eigenständig Lösungen zu finden für diese alltäglichen Probleme, die sich bei ihm auftürmen.
„Frische Luft, dachte er, das haben sie einem immer erzählt, geh doch mal an die frische Luft, aber was man da eigentlich machen soll, das haben sie einem nie gesagt, dachte er, während er die Treppen hinaufstieg, na ja, dachte er, frische Luft werde ich jedenfalls genug haben bei der Bundeswehr.“
– NVS, S. 10
„Frank war es sehr recht, daß sie das tat. Das bringt jetzt nichts, dachte er, wenn einen am Tag vor dem Bund noch die Haare fremder Frauen berühren, am Ende verliebt man sich noch, und dann ist das extra bitter, dachte er.“
– NVS, S. 19
Zweites Buch „Feierliches Gelöbnis“
Mädchen erklären ihm, dass er nicht der Typ ist, auf den sie alle sehnsüchtig gewartet haben, die Vorgesetzten in der Kaserne geben ihm zu verstehen, dass sie es sind, die (scheinbar) am längeren Hebel sitzen. Keine guten Aussichten. Im zweiten Buch hat Frank zwar Pläne, seine Probleme anzupacken und Ordnung in sein Leben zu bringen (beispielsweise doch noch eine Freundin zu finden usw.), aber er wirft sofort die Flinte wieder ins Korn, wenn nicht gleich alles so läuft, wie er es sich vorstellt. Dann allerdings entdeckt Frank, dass man, wenn man sich gegen die Obrigkeit auflehnen und gegen sie protestieren will, nicht immer nur Randale machen muss. (Der im Roman beschriebene Protest gegen das öffentliche Gelöbnis im Weserstadion ist ein Ausdruck dieser Auflehnung.) Auch Franks Haltung – passiv, ein bisschen „vertrottelt“, sich uninteressiert gebend – kann Vorgesetzte unter Umständen zur Raserei bringen. Franks mutigste Tat bei seinem „passiven Widerstand“ – er führt absichtlich mit Schnaps und Pillen die eigene Ohnmacht herbei und erzwingt so sein Ausscheiden aus dem Grundwehrdienst.
„Der Major hatte eine besonders lange Ansprache zu halten bezüglich der Vorkommnisse am Tag zuvor, insbesondere die Verletzung von Hauptfeldwebel Hildebrand betreffend, und er hatte damit gerade erst angefangen, als Frank sich plötzlich sehr, sehr komisch fühlte, wie in Watte gepackt, und er dachte noch […] daß es vielleicht doch ein Problem war, wenn man in der ersten Reihe stand, weil man dann keinen hatte, gegen den man fallen konnte und der einen auf diese Weise beim Fallen ein bißchen bremsen könnte, und dann wunderte er sich noch darüber, wie sorglos er diesen Gedanken verfolgte […] und dann hörte er den Major nur noch aus weiter Ferne sprechen, erste Reihe hin oder her, dachte er, der ist ganz schön weit weg, und dann war auch schon alles vorbei.“
– NVS, S. 566
„Neue Vahr Süd“ – (k)ein Roman über das Erwachsenwerden
Das Werk Neue Vahr Süd ist ein eher untypischer „Heranwachsender“-Roman, da der Erzähler im Unklaren lässt, ob Frank in diesen Monaten wirklich erwachsen wird oder nicht. Zum Schluss verlässt Frank Bremen und macht sich auf nach Berlin. Bremen, das ist die Vergangenheit, die Kindheit. Diese ist für immer beendet, das weiß auch Frank. Die Autobahn von Bremen nach Berlin ist das Symbol für Franks weiteren Lebensweg. Frank geht nicht hoffnungslos nach Berlin. Er erinnert sich an die Worte seines einstigen Fahrlehrers.
„Wenn Sie auf die Autobahn wollen […] dann müssen Sie auch ordentlich auf die Tube drücken, sonst können Sie es auch gleich ganz lassen.“
– NVS, S. 581
Was Frank allerdings als Erwachsenen in seinem weiteren Leben und in der neuen Welt „Berlin“ erwartet, das ist offen. Eines weiß Frank jedoch: erwachsen zu sein bedeutet, sich nicht treiben zu lassen. Erwachsen zu sein bedeutet, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.
„Sie erreichten den Beschleunigungsstreifen, und Frank drückte ordentlich auf die Tube.“
– NVS, S. 582
Frank ist zwar in diesem Augenblick guter Dinge. Ob er aber seinen Platz im Leben finden wird, ob er überhaupt dazu in der Lage ist, erwachsen zu werden, wird in „Neue Vahr Süd“ nicht beantwortet.
Anmerkung zum Inhalt und zur Textualität
Die im Buch beschriebene Randale beim öffentlichen Gelöbnis im Weserstadion fand tatsächlich statt, allerdings nicht am 5. November, sondern am 6. Mai 1980. Es gab damals rund 260 Verletzte sowie einen Sachschaden von ungefähr einer Million D-Mark. Geprägt war der Tag von dem Slogan „Der sechste Mai geht nicht vorbei!“, den Bremer Autonome danach mehr als zehn Jahre aufrecht erhielten und häufig an Mauern sprühten.
Der Roman „Neue Vahr Süd“ ist nach den alten Rechtschreibregeln geschrieben, da Sven Regener der Meinung ist, was 1980 spielt, das sollte auch in der damals üblichen Orthographie ausgedrückt werden.
Auffälliges Stilmittel ist der innere Monolog: Regener verwendet den Ausdruck „dachte er“ auf den 616 Seiten des Buches insgesamt 890 Mal.
Verfilmung
Hermine Huntgeburth verfilmte Neue Vahr Süd nach einem Drehbuch von Christian Zübert für die ARD. Frederick Lau übernahm die Rolle des Frank Lehmann. Gedreht wurde der Film in Köln, Mechernich und Bremen.[1] Die Uraufführung fand am 1. Oktober 2010 beim Filmfest Hamburg statt. Am 1. Dezember 2010 war die Fernseh-Erstausstrahlung im Hauptabendprogramm des Ersten.
Literatur
Die hier zitierten Seitenangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe:
- Sven Regener: Neue Vahr Süd. Frankfurt/Main, Berlin, 2004, ISBN 3821807431
Weblinks
Einzelnachweise
Kategorien:- Literarisches Werk
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