Osmanisches Kalifat

Osmanisches Kalifat
Johann Baptista Homann Imperium Turcium (Osmanisches Reich) um 1700

Das Osmanische Kalifat (1517-1924) ist die längste und letzte große Periode eines gemeinsamen geistlichen Führers aller sunnitischen Moslems.

Übergang des Kalifats auf die Osmanen

Das Osmanische Kalifat versuchte nach den Umayyaden (661-750) und den Abbasiden (750-1517) die dritte unter den Sunniten allgemein anerkannte Kalifen-Dynastie zu sein. Anfangs hatte es zwischen 632, dem Todesjahr Mohammeds, und 661 die vier so genannten „rechtgeleiteten Kalifen“ gegeben.

Wann dieses osmanische Kalifat tatsächlich begann, ist allerdings nicht ganz klar. Nach späterer offizieller osmanischer Geschichtsdarstellung begann dieses Kalifat der Osmanen bereits 1517, als der osmanische Sultan Selim I. Syrien und Ägypten eroberte und das dortige Sultanat der Mamluken beseitigte. In deren Hauptstadt Kairo hatten seit 1261/62 - quasi als Marionetten der Mamluken - auch Titular-Kalifen aus der 1258 in Bagdad von den Mongolen gestürzten Abbasiden-Dynastie residiert.

Sultan Selim, so die osmanische Darstellung, habe nach 1517 den letzten in Kairo ohne eigentliche Machtbefugnisse amtierenden abbasidischen Kalifen al-Mutawakkil III. (1508-1516, erneut 1517) dazu gebracht, ihm offiziell das Kalifat zu übertragen. Falls dem so gewesen sein sollte, hätte dieser Schritt in der herausragenden militärischen Machtstellung des Osmanischen Reiches, die es unter allen islamischen Staaten zwischen dem 16. und frühen 18. Jahrhundert zweifellos besaß, seine entscheidende Rechtfertigung gehabt, denn eine genealogische Abkunft vom Propheten konnten die Osmanen schlecht für sich reklamieren. Ohne eine öffentlichkeitswirksame Proklamation oder Zeremonie, die dann auch in nichttürkischen Chroniken Widerspiegelung gefunden hätte, wäre eine solche Übertragung jedoch sinnlos gewesen, von einer solchen öffentlichen Proklamation berichten jedoch auch türkische Quellen nicht.

Sicher scheint zu sein, dass der letzte Abbasiden-Kalif 1517, nachdem Ägypten vom osmanischen Sultan erobert worden war, von Kairo nach Istanbul verbracht wurde, wo sich seine Spur in den Folgejahren (spätestens nach 1543) jedoch ebenso verliert wie die der Abbasiden überhaupt. Der Transfer des Kalifen nach Istanbul könnte als Gefangenschaft, aber auch als anfängliche Absicht der Osmanen gedeutet werden, ihn auf ähnliche Weise als Titular-Kalifen zu benutzen, wie dies die Mamluken bisher in Kairo getan hatten. Allerdings wurde diese Absicht dann offenbar früher oder später fallengelassen.

Repräsentanz und politischer Nutzen

Den Titel „Kalif“ haben die osmanischen Sultane seit Selim I. nicht ausdrücklich geführt. Sie scheinen aber schon im 16. Jahrhundert den in diese Richtung weisenden Titel eines „Befehlshabers der Gläubigen“ und eines „Nachfolgers des Propheten als Beherrscher der Welt“ angenommen zu haben; der Scherif von Mekka hatte Selim I. außerdem bereits 1517 den Ehrentitel eines „Beschützers der Heiligen Städte von Mekka und Medina“ verliehen. Diese drei Titel zählten seither an prominenter – aber nie an erster – Stelle zur großen Herrschertitulatur der osmanischen Sultane.

Dem Abendland gegenüber trat der osmanische Sultan Abdülhamid I. erstmals 1774 in den Verhandlungen zum Friede von Küçük Kaynarca als Kalif auf - mit dem Anspruch, als Oberhaupt der gesamten sunnitischen Welt respektiert zu werden, und um so zu beeindrucken. Der „Befehlshaber der Gläubigen“ musste jedoch einen Frieden unterzeichnen, der ihn zunächst faktisch zum Vasallen der russischen Zarin machte. Immerhin aber wurde ihm formal das Recht zugestanden, auch Beschützer der Muslime in Russland und der Muslime auf der Krim zu sein.

Erst 1876 wurde der Anspruch auf das allislamische Kalifat in der neu eingeführten, 1878 faktisch suspendierten und 1908 wieder in volle Gültigkeit gesetzten, Verfassung des Osmanischen Reiches offiziell festgeschrieben. Die Sultane Abdülhamid II. (1876-1909) und Mehmed V. (1909-1918) versuchten diesen Anspruch dann auch im politischen Alltag geltend zu machen: Der erste wollte den Kalifentitel als islamischen Integrationsfaktor für das vom Zerfall bedrohte Reich nutzen, der zweite als propagandistisches Motiv zur Entfachung eines pro-osmanischen islamischen Aufstands in den Kolonialreichen der Kriegsgegner im Ersten Weltkrieg. Beides hatte eher geringen Erfolg; vor allem der im Ersten Weltkrieg erfolgte Aufruf des osmanischen Sultan-Kalifen an alle Muslime zum Dschihad gegen die Mächte der Entente (Frankreich, Großbritannien, Russland) zeigte kaum Wirkung.

Angesichts der insgesamt nachrangigen Bedeutung des Kalifentitels für die Osmanen mutet es ironisch an, dass ausgerechnet dieser Titel der letzte sein sollte, der ihnen verblieb. Als die regierenden Nationalisten unter Kemal Atatürk 1922 das osmanische Sultanat in der neugebildeten verkleinerten Türkei abschafften und den letzten Sultan Mehmed VI. (1918-1922) ins Exil schickten, ließen sie gleichzeitig seinen Cousin und Thronfolger Abdülmecit II. von der türkischen Nationalversammlung zum Kalifen wählen und noch knappe eineinhalb Jahre mit rein religiösen Funktionen amtieren. Dieses spirituelle Kalifat der Osmanen dauerte bis zum März 1924, als es durch Gesetz[1] des türkischen Parlaments auf Initiative Atatürks offiziell wieder abgeschafft wurde und der amtierende Kalif – ein persönlich hochgebildeter und geachteter Gelehrter – wenige Tage später Istanbul verlassen musste.

Einzelnachweise

  1. Gesetz Nr. 431 vom 3. März 1924, RG Nr. 63 vom 6. März 1924.

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