- Pierre-Robin-Sequenz
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Klassifikation nach ICD-10 Q87.0 Angeborene Fehlbildungssyndrome mit vorwiegender Beteiligung des Gesichtes ICD-10 online (WHO-Version 2011) Die Pierre-Robin-Sequenz (auch Pierre-Robin-Syndrom) ist eine angeborene Fehlbildung beim Menschen. Sie ist charakterisiert durch drei Symptome
- kleiner Unterkiefer, fliehendes Kinn (Mikrogenie, mandibuläre Retrognathie)
- in den Rachen verlagerte Zunge mit teilweiser Behinderung der Luftwege (Glossoptose)
- U-förmige Gaumenspalte (in 60 % bis 80 % der Fälle)
Sie entsteht durch eine embryonale Entwicklungsstörung.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte/Entdeckung
Die Pierre-Robin-Sequenz wurde 1923 von dem Pariser Zahnarzt Pierre Robin (1867–1950) erstmals beschrieben. Sie ist nach ihm benannt.
Ursache, Entstehung
Die Ursache, ihre auslösenden Faktoren (Ätiologie) und die Entstehung, der Verlauf (Pathogenese) dieses Symptomkomplexes sind bis heute nicht vollständig geklärt. In einigen Fällen wird durch ein gehäuftes familiäres Vorkommen eine Vererbung angenommen. Es wurden chromosomale Veränderungen beobachtet.
Es gibt äußere Ursachen, wie teratogene Substanzen, wie Vitamin A-Überdosierung, Rauchen der Mutter in der Schwangerschaft, Alkoholmissbrauch, Krankheiten der Mutter während der Schwangerschaft (bakterielle oder virale Erkrankungen), die zur Pierre-Robin-Sequenz beitragen.
Rein mechanisch wirkenden Faktoren wie Fruchtwassermangel oder ungewöhnliche Kopfhaltung des Embryos werden ebenfalls für die Pierre-Robin-Sequenz verantwortlich gemacht. Es gibt unterschiedliche Auffassungen über die primäre Ursache.
Eine Erklärung nimmt an, dass durch den verkleinerten Unterkiefer die Zunge nach hinten und nach oben gedrängt wird. Dadurch soll das Verschmelzen der Gaumenfortsätze des linken und des rechten Oberkieferwulstes während der Embryonalentwicklung verhindert werden und eine Gaumenspalte entstehen.
Eine andere Erklärung sieht die primäre Ursache in einer Störung der Zungenentwicklung. Die verzögerte Zungenentwicklung verhindert die Streckung des Unterkiefers und bewirkt die Mikrogenie. Die Pierre-Robin-Sequenz kann in Verbindung mit anderen Fehlbildungen auftreten:
- Stickler-Syndrom: Bindegewebserkrankung, Kurzsichtigkeit, Netzhautablösung, Hörverlust, Gelenkbeschwerden. Etwa 30 % aller PRS-Patienten sind vom Stickler-Syndrom betroffen. Bei zwei bisher bekannten Genmutationen kann das Stickler-Syndrom durch einen Bluttest nachgewiesen werden, es gibt aber mindestens eine weitere, bisher unbekannte Genmutation, die für Stickler verantwortlich gemacht wird.
- Mikrodeletionsyndrom 22q11 (auch Velocardiofaziales Syndrom, Shprintzen-Syndrom): Herzfehler
- fetales Alkoholsyndrom
- Treacher-Collins-Syndrom: schräg liegende Augen, fehlgebildete/fehlende Ohren
- Weissenbacher-Zweymüller-Phänotyp: angeborene Skelettanomalien, Minderwuchs
Auftrittshäufigkeit
Die Auftrittshäufigkeit ist niedrig und liegt ungefähr bei einem Kind unter 8.000 bis 30.000 Geburten, je nachdem, ob man übergeordnete Syndrome mit einbezieht. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen (= Gynäkotropie). Das Verhältnis Mädchen zu Jungen ist ungefähr 3 : 2.
Auswirkungen und Probleme
Eine Pierre-Robin-Sequenz kann vielfache Auswirkungen haben:
- Beeinträchtigung der Atmung: Durch die Rückverlagerung der Zunge sind die Luftwege möglicherweise behindert. Es können schon kurz nach der Geburt Erstickungsanfälle mit lebensbedrohlicher Atemwegsverlegung durch die Zunge auftreten. Auch kann die Zunge während des Schlafes zurückfallen, die Atemwege verschließen und zu Sauerstoffmangel führen. Eine Rückenlagerung des Säuglings soll vermieden werden. Eine Intubation und in seltenstens Fällen operative Eingriffe sind eventuell nötig: Luftröhrenschnitt und Fixierung der Zunge.
- Ernährungsstörungen, Saug- und Schluckstörungen: Die Ernährung ist oft ein Problem. Insbesondere das Stillen gestaltet sich schwierig. Durch die zurückverlagerte Zunge verschluckt sich das Kind häufig, Luft wird geschluckt und häufiges Aufstoßen oder Erbrechen ist die Folge. Die Koordination von Schlucken und Saugen ist manchmal gestört. Bei Gaumenspalten kommen noch die typischen Probleme dieser Fehlbildung dazu (kein oder unzureichendes Saugvakuum, Gefahr der Aspiration von Nahrung). Eine mangelnde Gewichtszunahme ist oft die Folge. Eine Sondenernährung kann in manchen Fällen nötig werden. Die Gaumenplatte und spezielle Fütterhilfen (Fingerfeeding, spezielle Sauger: [Haberman Feeder]] oder Playtex Drop-Ins) ermöglichen aber meistens eine orale Ernährung.
- Sprechprobleme: durch die Gaumenspalte und die zurückverlagerte Zunge kann die Balance zwischen nasalem und oralem Resonanzraum gestört sein. Es entsteht ein hypernasaler Stimmklang.
- Wachstumsstörungen des Mittelgesichts: durch den fehlenden Druck der Zunge auf den Gaumen und auch durch Narbenzug nach Gaumenspaltenverschluss kann es zu Wachstumsstörungen mit Rückverlagerung des Oberkiefers kommen.
- Ohr-Erkrankungen: Durch die Gaumenspalte können Ergüsse und Ohrinfektionen die Folge sein und Hörprobleme auftreten.
- Zahnfehlstellungen
- Durch ev. persistierende fehlerhafte und/oder nasale Aussprache können psychosoziale Probleme auftreten.
Behandlung
In den Spaltzentren führt ein interdisziplinäres Team, in dem Vertreter aus der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Kieferorthopädie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie, Kinderheilkunde und Logopädie vertreten sind, die Behandlung durch.
- Geburt in einem Krankenhaus der Maximalversorgung, falls die Gesichtsfehlbildung pränatal bekannt ist.
- Von Geburt an konsequentes Freihalten der Atemwege: in leichteren Fällen durch Bauchlagerung (Zunge fällt durch Schwerkraft nach vorn), ansonsten mit Hilfe der sog. Tübinger Gaumenplatte oder durch operative Verfahren (Unterkiefer-Drahtextension, Knochendistraktion)
- In den ersten Lebenswochen konsequentes Monitoring der Vitalfunktionen, vor allem nachts, um Atemaussetzer sofort zu erkennen, ggf. Heimmonitoring.
- Versorgung der Gaumenspalte, also Anpassung einer Mund-Nasen-Trennplatte (eventuell mit Sporn ("Tübinger Platte") in den ersten Lebenstagen, Operation der Gaumenspalte zum üblichen Zeitpunkt. Dies ist bei Pierre-Robin-Kindern abhängig davon, ob die Gefahr von Atemaussetzern durch Zurückfallen der Zunge auch ohne Gaumenplatte (mit Sporn) gebannt ist. Dies ist meist nach einigen Lebensmonaten durch Wachstum des Unterkiefers der Fall und sollte mittels Schlaflabor/Polysomnographie abgeklärt werden.
- Sicherstellung einer ausreichenden Gewichtszunahme des Säuglings, eventuell ist zeitweise eine zusätzliche Ernährung mittels Magensonde nötig, weitere Hilfen können sein: Fingerfeeding und spezielle Sauger (Haberman Feeder oder Playtex Drop-Ins). Stillen ist aufgrund der Anatomie sehr selten möglich, deshalb ist es sinnvoll Muttermilch per Milchpumpe abzupumpen.
- Überwachung der Mittelohrbelüftung, bei Bedarf Einlegen von Paukenröhrchen, um eine normale Hör- und damit Sprachentwicklung zu ermöglichen.
- Funktionskieferorthopädische Behandlung zur Korrektur des Unterkiefers (Gaumenplatte)
- Orofaziale Regulationstherapie nach Castillo Morales zur Reorientierung der Zungenfunktion und als Unterstützung bei der oralen Nahrungsaufnahme
- Humangenetische sowie augenärztliche Untersuchung zwecks Diagnose bzw. Ausschluss des Stickler-Syndroms (sinnvoll im Alter von etwa 1 Jahr)
- Sprachtherapie (Logopädie), Sprachentwicklungsförderung nach Padovan (neurofunktionelle Reorganisation)
Siehe auch
Literatur
- Shprintzen R J: The implications of the diagnosis of Robin sequence. Cleft Palate Craniofacial Journal 1992 May;29(3):205-9. PMID 1591252
- Zschiesche S: Kieferorthopädische Behandlungsmöglichkeiten von Säuglingen mit Pierre-Robin-Syndrom. Fortschritte der Kieferorthopädie 41: 474–480, 1980
Weblinks
- emedicine 'Pierre Robin Malformation' (englisch): [1]
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