Rosenthal-Effekt

Rosenthal-Effekt

Als Rosenthal-Effekt oder Pygmalion-Effekt (nach der mythologischen Figur Pygmalion) wird in der Sozialpsychologie das Resultat eines Versuchsleiter-Versuchspersonen-Verhältnisses bezeichnet, insbesondere des Lehrer-Schüler-Verhältnisses; man spricht hierbei auch vom Versuchsleiter(erwartungs)effekt oder Versuchsleiter-Artefakt. Dem Effekt nach sollen sich positive Erwartungen, Einstellungen, Überzeugungen sowie positive Stereotype des Versuchsleiters nach Art der „selbsterfüllenden Prophezeiung“ auswirken. In den klassischen Experimenten wurde der Effekt positiver Erwartungen auf die Leistungen bei Intelligenz-Tests untersucht.

Der Begriff Versuchsleiterartefakt ist mittlerweile in wissenschaftliche Standardliteratur und Sprachgebrauch eingegangen.[1][2][3][4]

In der Psychiatrie führte der Psychologe David Rosenhan zwischen 1968 und 1973 zu Rosenthal vergleichbare Experimente durch (Rosenhan-Experiment).[5]

Beispiel für den Effekt: Hat ein Lehrer bereits eine (vorweggenommene) positive Einschätzung der Schüler (etwa „der Schüler ist hochbegabt“), so wird sich diese Ansicht im späteren Verlauf auch bestätigen. Dieses wird dadurch ermöglicht, dass der Lehrer seine Erwartungen in subtiler Weise den Schülern übermittelt, z. B. durch persönliche Zuwendung, die Wartezeit auf eine Schülerantwort, durch Häufigkeit und Stärke von Lob oder Tadel oder durch hohe Leistungsanforderungen. Es handelt sich keinesfalls um eine absichtliche Handlung, sondern ist vielmehr unbewusst.

Inhaltsverzeichnis

Das klassische Experiment von Rosenthal

1965 untersuchten die US-amerikanischen Psychologen Robert Rosenthal und Leonore Jacobson Lehrer-Schüler-Interaktionen an zwei Grundschulen. Eine der Schulen war die Oak School, eine öffentliche Grundschule in einer mittelgroßen Stadt. Die Schule lag in einem Arbeiterviertel und der Großteil der Eltern waren un- oder angelernte Arbeiter. Ein Sechstel der Schüler waren mexikanischer Abstammung. Die Schule war, obwohl es sich um eine Grundschule handelte, dreizügig. Es gab einen mittleren, einen schnellen und einen langsamen Zug. Dies ist bei öffentlichen Grundschulen in den USA nicht selten.[6]

Die zweite Schule war die Crest School. Sie unterschied sich deutlich von der Oak School. Die Schüler der Crest School entstammten zum größten Teil der mittleren und oberen Mittelschicht. Sie waren bis auf wenige Ausnahmen weiß.[7] Zwischen beiden Schulen gab es einen IQ-Unterschied. Während in der Oak School ein durchschnittlicher IQ von 98 gemessen wurde, wurde in der Crest School ein durchschnittlicher IQ von 109 gemessen.[7] Der durchschnittliche IQ der Kinder im schnellen Zug der Oak School war ebenfalls 109.[8]

Den Lehrern an den Schulen wurde vorgetäuscht, dass ein wissenschaftlicher Test mit den Kindern durchgeführt würde. Dieser Test sollte angeblich Kinder identifizieren, die kurz vor einem intellektuellen Entwicklungsschub ständen. Dies träfe auf 20 Prozent der Kinder zu. In Wirklichkeit wurden 20 Prozent der Kinder willkürlich ausgewählt. Ein Unterschied zwischen den besonderen und den gewöhnlichen Kindern existierte somit nur im Bewusstsein der Lehrer.[9] Nach einem Jahr konnte festgestellt werden, dass die Kinder aus der Gruppe der „Aufblüher“ (orig. bloomer) ihren IQ viel stärker steigern konnten als Kinder aus der Kontrollgruppe. Der Effekt war bei Kindern der ersten und zweiten Klasse besonders stark.[10] Die größten IQ-Gewinne wiesen die Schüler des mittleren Zuges der Oak School auf.[11] Insgesamt konnten 45 Prozent der als „Aufblüher“ ausgewählten Kinder ihren IQ um 20 oder mehr Punkte steigern, und 20 Prozent konnten ihn gar um 30 oder mehr Punkte steigern.[12] Interessant war, dass die IQ-Steigerungen bei den Kindern am stärksten waren, die ein besonders attraktives Äußeres hatten.[13] Auffällig war weiterhin, dass der Charakter der so genannten Aufblüher von den Lehrern positiver beurteilt wurde.[14]

Rosenthal untersuchte auch Forscher, denen angeblich schlaue und dumme Ratten vorgeführt wurden. Das Ergebnis war, dass die eigentlich zufällig zugeordneten Ratten starke Unterschiede in erwarteter Form zeigten.[14] Rosenthal führte das auf stärkere Zuwendung zu den angeblich schlaueren Ratten zurück.

Versuch, die Studien zu replizieren, und Kritik

Rosenthals Ergebnisse konnten über viele Jahre und an vielen verschiedenen Schulen repliziert werden.[15] Dabei führten etwa 40 Prozent der Wiederholungen des Experiments zu den erwarteten Ergebnissen. Wenn die Lehrer die Kinder gut kannten (und sich schon eigene Vorurteile gebildet hatten), reduzierte sich der Erwartungseffekt.[14]

Nach Heinz Heckhausen tritt der Rosenthal-Effekt nur unter folgenden Bedingungen auf:

  1. der Schüler ist ein sogenannter „Leistungsverweigerer“ oder „Minderleister“, er leistet derzeit also weniger, als ihm seine Fähigkeiten erlauben,
  2. der Lehrer hat bislang die Fähigkeiten des Schülers unterschätzt,
  3. der Schüler hat die Einschätzung des Lehrers auch übernommen, also internalisiert.

Abgrenzung zu ähnlichen Effekten

Der Rosenthal-Effekt ist zu unterscheiden von ähnlichen selbsterfüllenden Prophezeiungen, wobei die Unterscheidung empirisch oft nicht sauber möglich ist (sofern die Effekte überhaupt messbar sind). Erfolgt die Verhaltensanpassung nicht im Rahmen einer asymmetrischen Beziehung zu einer konkreten, mit besonderer Autorität ausgestatteten Bezugsperson (z.B. Versuchsleiter, Vorgesetzter, Lehrer, Arzt), sondern in Reaktion auf allgemeine gesellschaftliche Vorurteile, spricht man vom Andorra-Effekt.

Ein Sonderfall des Rosenthal-Effekts, bei dem die durch die Erwartungen einer Autoritätsperson (Vorgesetzter) gesteigerte eigene Erwartung einer Person an sich selbst als entscheidender, vermittelnder Faktor betrachtet wird, wird als Galatea-Effekt bezeichnet. Bei einer negativen selbsterfüllenden Erwartung spricht man auch vom „Golem-Effekt“.

Als Hawthorne-Effekt wird eine Verhaltensänderung bezeichnet, die allein auf das Bewusstsein einer Versuchsperson zurückgeführt wird, im Rahmen einer Untersuchung oder eines Experiments unter Beobachtung zu stehen, ohne dass die Versuchsleiter ausdrücklich konkrete, gesteigerte Leistungsanforderungen oder andere Erwartungshaltungen an sie richten.

Neuere Ansätze, welche in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus (vor allem neuro-) wissenschaftlicher Untersuchungen rücken, führen (u.a.) die o.a. Phänomene auf die Wirkung aktiver (expliziter oder impliziter) Stereotype zurück.[16][17][18]

Pygmalion-Effekt nach Shaw

Unter Pygmalion-Effekt nach Shaw versteht man, wenn eine Person aus einer unteren Schicht für ein Mitglied der Oberschicht gehalten wird und entsprechend behandelt wird. Die Bezeichnung geht zurück auf das Theaterstück Pygmalion von George Bernard Shaw.

„Sehen Sie, wenn man davon absieht, was ein jeder sich leicht aneignet: sich anziehen, richtige Aussprache und so weiter, dann besteht der Unterschied zwischen einer Dame und einem Blumenmädchen wahrhaftig nicht in ihrem Benehmen, sondern darin, wie man sich gegen sie benimmt.“[19]

Siehe auch

Literatur

  • Robert Rosenthal, Leonore Jacobson: Teachers’ Expectancies: Determinants Of Pupils’ IQ Gains. In: Psychological Reports. Band 19, 1966, S. 115–118
  • Robert Rosenthal, Leonore Jacobson: Pygmalion in the classroom: Teacher expectation and pupils' intellectual development. Holt, Rinehart & Winston, New York 1968
  • Robert Rosenthal: Critiquing Pygmalion: A 25-year perspective. In: Current Directions in Psychological Science. Band 4, 1995, S. 171f.
  • J. Sterling Livingston: Motivation: Pygmalions Gesetz. In: Harvard Manager. 12. Jahrgang, 1990, S. 90–99

Quellen

  1. Jürgen Bortz ; Nicola Döring. Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. Springer, 4. Auflage 2006, Seite 82f. ÖNB-Signatur 1842400-C Neu L. Systematik SOZ20-17
  2. Manfred Bornewasser. Organisationsdiagnostik und Organisationsentwicklung. Dietrich von der Oelsnitz (Hrsg.), Jürgen Weibler (Hrsg.). Kohlhammer Stuttgart 2009, Seite 80. ISBN 978-3170200777
  3. Silke Grafe. Konzeption der empirischen Evaluation. In: Förderung von Problemlösefähigkeit beim lernen mit Computersimulationen. Klinkhardt 2008, Seite 208. ISBN 978-378151626-7
  4. Sierk Aurel Horn. Interkulturelle Kompetenz im Zugang zu japanischen Märkten. Gabler 2005, Seite 161. ISBN 978-3835000193
  5. Ian Needham: Pflegeplanung in der Psychiatrie. Recom, 3. Auflage 1996, Seite 73. ISBN 978-3897520349
  6. Rosenthal/Jacobson (1971): Pygmalion im Unterricht. Weinheim. Verlag Julius Beltz
  7. a b Rosenthal: Pygmalion. Seite 174
  8. Rosenthal: Pygmalion. Seite 175
  9. Rosenthal: Pygmalion. Seite 216
  10. Rosenthal: Pygmalion. Seite 217
  11. Rosenthal: Pygmalion. Seite 218
  12. Elliot Aronson, Timothy D. Wilson, Robin M. Akert: Sozialpsychologie. Pearson Studium, München 2008, Abbildung 3.6, S. 68
  13. Rosenthal: Pygmalion. Seite 122
  14. a b c Prof. Dr. E. Todt: Erziehungspsychologie für Studierende des Lehramtes Suggestion und Suggestibilität. Universität Gießen.
  15. E. Aronson, T. D. Wilson, R. M. Akert: Sozialpsychologie. Pearson Studium. 4. Auflage 2004. ISBN 3-8273-7084-1, S. 23
  16. M. Johns, T. Schmader, A. Martens: Knowing is half the battle: teaching stereotype threat as a means of improving women's math performance. In: Psychological Science. Band 16, März 2005, PMID: 15733195, S. 175–179
  17. M. Wraga, J. M. Shephard, J. A. Church, S. Inati, S. M. Kosslyn: Imagined rotations of self versus objects: an fMRI study. In: Neuropsychologia. Band 43, 2005, PMID 15949519, S. 1351–1361
  18. A. C. Krendl, J. A. Richeson, W. M. Kelley, T. F. Heatherton: The negative consequences of threat: a functional magnetic resonance imaging investigation of the neural mechanisms underlying women's underperformance in math. In: Psychological Science. Band 18, Februar 2008, PMID 18271865, S. 168–175
  19. George Bernard Shaw: Pygmalion. In: Klassische Stücke. Übersetzt von Siegfried Trebitsch. Suhrkamp Verlag, Berlin/Frankfurt 1950

Weblinks


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