Sokratische Wende

Sokratische Wende

Als Sokratische Wende wird eine grundlegende Verschiebung des Hauptinteresses der antiken Philosophie bezeichnet, eine Zäsur, die man mit dem Leben und Wirken des griechischen Philosophen Sokrates verbindet. Im Grunde geht es dabei um eine Abwendung von der Naturbetrachtung zu Gunsten der Betrachtung der menschlichen Angelegenheiten.

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Allgemein

Während die „vorsokratischenPhilosophen sich vor allem mit Themen der Physik und der Ontologie beschäftigten, also etwa mit der Frage nach dem Grundstoff der Welt oder dem Urgrund alles Seienden, steht seit Sokrates vor allem die Ethik im Zentrum des Interesses der antiken Philosophie, also die Frage nach der sittlich optimalen Gestaltung des menschlichen Lebens. Mit dieser Wendung widmet sich das philosophische Nachdenken über die Welt fortan den menschlichen Dingen, u.a. den Regeln und Vorstellungen, welche das menschliche Gemeinwesen, die Polis, betreffen, weshalb die Betrachtung der „politischen“ Dinge (griechisch Πολιτικά, Politiká, davon dt. „Politik“) schon mit Sokrates, aber spätestens seit Platon, das Hauptthema der antiken Philosophie darstellt.

Die Neuorientierung war notwendig geworden, weil die philosophische Denk- und Lebensweise Konflikte mit den tradierten und religiös überlieferten Wertvorstellungen der Zeitgenossen hervorgerufen hatte, wodurch die Selbstvergewisserung und Rechtfertigung der Philosophie für ihren Fortbestand unerlässlich wurde.[1] (Aristophanes hat diesen Widerstreit zwischen Philosophie und althergebrachten Meinungen und Vorstellungen der Gesellschaft in seiner Komödie „Die Wolken“ äußerst humorvoll und eindrücklich illustriert.) Für die meisten „nach-sokratischen“ Philosophenschulen, vor allem für die Stoa und den Epikureismus, steht das Streben nach dem größtmöglichen Glück (Eudämonismus) im Vordergrund des Interesses philosophischer Reflexion. Eine gewisse Übergangsposition nehmen dabei die Sophisten ein.

Sokrates selbst wird von Platon als eine Person dargestellt, die an der außermenschlichen Natur ausgesprochen wenig interessiert war.

Der römische Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero prägte das Diktum, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt:

Ab antiqua philosophia usque ad Socratem numeri motusque tractabantur... Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo ...[2]
„Von der antiken Philosophie bis Sokrates wurden Zahlenverhältnisse und Bewegungsgesetze behandelt... Sokrates aber rief als Erster die Philosophie vom Himmel auf die Erde...“

Zu Sokrates heißt es heute:

„Die sokratische Wende kann als der Urknall der Ethik verstanden werden. Zum allerersten Mal kommt bei dem Athener Steinmetzsohn und überzeugten Querulanten Sokrates nachweisbar die Vorstellung auf, dass eine Handlung nicht nur deshalb als gut anzusehen sei, weil die Tradition oder der Gebrauch oder die gesellschaftliche Vereinbarung (Konvention) sie als gut bestimmt.“ [3]

„Politisch“

Nach Heinrich Meier muss die sokratische Wende als eigentlicher Begründungsakt der Philosophie in Gestalt der politischen Philosophie verstanden werden:

„Die Philosophie bedarf der Politischen Philosophie nicht nur im Hinblick auf ihre politische Verteidigung, sondern vor allem mit Rücksicht auf ihre rationale Begründung. Die Politische Philosophie nimmt die theologisch-politischen Ansprüche auf, denen sich das philosophische Leben konfrontiert sieht. Sie rückt diejenige Lebensweise ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, an der die eigene Antwort auf die Frage nach dem Richtigen zuschanden werden könnte. Sie wendet sich den Geboten und Verboten zu, die die Philosophie nötigen, ihr Recht mit Gründen zu behaupten – wenn anders sie nicht auf die Spitze einer bloßen Dezision oder auf einen Akt des Glaubens gestellt werden soll. Denn die Philosophie vermag ihr Recht und ihre Wahrheit nur zu begründen, wenn sie die Meinungen und Einwände in die philosophische Untersuchung miteinbezieht, die unter Berufung auf eine menschliche oder übermenschliche Autorität gegen die Philosophie erhoben werden oder gegen sie erhoben werden können. Daß die Philosophie in diesem Verstande politisch werden muß, um eine philosophisch tragfähige Grundlage zu erhalten, ist die entscheidende Einsicht, die in der Sokratischen Wende beschlossen liegt.[4]

Heinrich Meier: Warum Politische Philosophie?

Siehe auch

Quellennachweis

  1. Vergleiche hierzu das Zitat von Meier weiter unten.
  2. Marcus Tullius Cicero: Tusculanae disputationes, V 10, 11.
  3. http://freiheitblog.wordpress.com/2007/11/14/a-i-was-ist-ethik/
  4. Heinrich Meier: Warum Politische Philosophie?, S. 22f. Hervorhebung im Original.

Literatur

  • Heinrich Meier: Warum Politische Philosophie? Stuttgart/Weimar, Metzler Verlag, 2000, 40 S. Chinesisch 2001. Amerikanisch 2002. Französisch 2006. Spanisch 2006. Japanisch 2009.

Weblinks


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