Vorsokratiker

Vorsokratiker

Als Vorsokratiker werden seit der deutschen Romantik diejenigen Philosophen der griechischen Antike bezeichnet, die vor Sokrates lebten beziehungsweise von dessen Philosophieren noch nicht beeinflusst waren. Mit den Vorsokratikern begann etwa zwischen 600 und 400 v. Chr. die abendländische Philosophie.

Inhaltsverzeichnis

Begriff und Grundthemen der Philosophie

Der Ausdruck Vorsokratiker hat sich aus dem im Mittelalter gebräuchlichen lateinischen Ausdruck ante Socratem entwickelt. Er ist nicht vor dem 18. Jahrhundert belegt[1] und wurde im 19. Jahrhundert geprägt. Diese Epoche der Antiken Philosophien wurde auch erste[2] oder vorattische Periode genannt. Erst Schleiermacher unterscheidet zwischen einer vorsokratischen und einer nachsokratischen Periode der Philosophie. Die Bezeichnung Vorsokratiker wurde durch Diels' Werk Die Fragmente der Vorsokratiker festgeschrieben und im 20. Jahrhundert fester Bestandteil philosophiehistorischer Einteilungen.

Die Einteilung in Vorsokratiker gründet auf dem Gedanken, dass, wie Cicero es in Worte fasst, Sokrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt hat,[3] also der Sokratischen Wende. Gemeint ist, dass statt eines metaphysischen Prinzips der Mensch in den Mittelpunkt der Philosophie gerückt wurde. Die Grenzziehung zwischen den philosophischen Schulen auf dieser Grundlage ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Der wichtigste Grund besteht darin, dass der Weg von der Kosmologie bzw. Ontologie zur praktischen Philosophie nicht zuerst von Sokrates beschritten wurde, sondern bereits von den Sophisten. Mit diesen verband Sokrates so viel, dass er konsequenterweise zu ihnen zu zählen ist. Freilich trat er als geistesgeschichtliche Gründerfigur aus deren Mitte hervor. Auch wird durch diese Einteilung fälschlich der Eindruck erweckt, dass diese Philosophen einerseits als einheitliche Gruppe identifiziert werden könnten und sie alle vor Sokrates gelebt hätten. Zudem beinhaltete die Bezeichnung ursprünglich eine Abwertung, denn ihr zufolge sind es „nur“ Vorläufer. Aus diesen Gründen wird in heutigen Darstellungen der frühen Philosophie der Griechen oft auf den Begriff der Vorsokratiker verzichtet.

Von den wenigsten der Vorsokratiker sind die genauen Lebensdaten bekannt. Daher wird von ihnen in der Regel die so genannte Blütezeit benannt, das heißt die ungefähre Zeit ihres Wirkens. Keine ihrer Schriften ist im Urtext bekannt. Ihr Denken wird daher aus Fragmenten und Doxographien, also Zitaten, Berichten und Referaten, anderer späterer Autoren, erschlossen. Daraus ergeben sich vielfältige philologische und hermeneutische Probleme.

Die Vorsokratiker beschäftigten sich vor allem mit Naturphilosophie, Theogonie sowie Kosmogonie und formulierten die Grundfragen der Philosophie. Eine zentrale Frage, die – ähnlich den modernen Kosmologen – vor allem die älteren Vorsokratiker beschäftigte, war die nach der ἀρχή (arché), dem Urgrund, dem Urprinzip oder Urstoff, aus dem alles entstanden sei. Gleichwohl waren sie allesamt keine reinen Naturforscher, sondern beschäftigten sich auch mit Ethik, Religion oder der „Bestimmung des Menschen“.

Die vorsokratischen Philosophen

Die einzelnen Philosophen beziehungsweise ihre Schulen werden in der Regel aufgrund geographischer oder inhaltlicher Aspekte unterteilt, wobei die Zuordnung einzelner Philosophen oft fließend ist. Eine umfassende Liste der zu den Vorsokratiker, bzw. deren Umfeld zu zählenden Personen findet sich bei Hermann Diels.[4] Im Folgenden werden die Vorsokratiker aufgegliedert, ihre philosophischen Ansichten skizziert und die jeweils hervorgetretenen Persönlichkeiten benannt.

Die Sieben Weisen

Solon wird der Spruch „Erkenne dich selbst!“ zugeschrieben

Die Ursprünge der griechischen Philosophie liegen im Dunkeln. Die ersten Überlieferungen stammen von den sieben Weisen. Sie werden als der Beginn der antiken griechischen Philosophie angesehen. Allerdings waren nicht alle sieben Weisen auch Philosophen. Es waren nicht einmal nur sieben, verschiedene Quellen sprechen von jeweils anderen sieben Weisen, insgesamt werden 22 genannt. Die meisten Quellen nennen allerdings übereinstimmend Thales von Milet, Bias von Priene, Solon von Athen und Pittakos von Mytilene. Von den sieben Weisen sind Sprüche überliefert wie beispielsweise: „Erkenne Dich selbst“, „Ehre den Älteren“, „Halte Maß“, „Den rechten Augenblick erkennen“ und „Die meisten sind schlecht“.[5]

Milesier (ältere ionische Naturphilosophie)

Neuzeitliches Phantasiebild des Thales

Der griechisch besiedelte kleinasiatische Ostrand der Ägäis wurde zum Ausgangsbereich der antiken Naturphilosophie. Diese setzten dem mythisch geprägten Weltbild der Orphiker, der homerischen und hesiodischen Epen eine naturphilosophische Welterklärung entgegen. Das frühe Zentrum der griechischen Philosophie war die ionische Stadt Milet an der Westküste Kleinasiens.

Gemeinsames Motiv der milesischen Philosophen war die Suche nach einem Urstoff (Arché), aus dem letztlich die Welt bestünde und aus dem die Entstehung der Welt erklärt werden könne. Thales und später ihm folgend Hippon aus Samos nahmen als Urstoff das Wasser an. Sein Schüler Anaximander postulierte stattdessen das ἄπειρον (Apeiron), wörtlich das „Grenzenlose“ oder „Unendliche“. Eine Art unausgeprägte Materie, aus der heraus der Gegensatz von Warm und Kalt entstanden sei, aus dem alles weitere hervorgehe. Alle Dinge kehrten wieder in das Apeiron zurück, indem sie vergingen. Anaximanders Schüler Anaximenes wurde wieder konkreter und nahm als Urstoff die Luft an. Viele Kontroversen haben sich darüber entsponnen, in welchem Sinne der Begriff des Apeiron zu deuten [6] und damit auch zu übersetzen sei. Festzuhalten ist, dass zwischen dem Wasser des Thales und der Luft des Anaximenes das Apeiron nicht als eine überlegene Abstraktionsform sinnlicher Substanz gemeint gewesen wäre,[7] es wurde durchaus stofflich gedacht.

Pythagoreer

Pythagoras, Detailansicht aus Raphaels Die Schule von Athen

Pythagoras von Samos gründete im 6. Jahrhundert v. Chr. in der griechischen Kolonie Kroton, dem heutigen Crotone in Süditalien, die philosophische Gemeinschaft der Pythagoreer. Anstatt nach einem mehr oder weniger materiellen Urstoff zu suchen - wie die ionischen Denker - untersuchten die Pythagoreer die Eigenschaften von Zahlen, ihre Beziehungen und die von ihnen gebildeten Muster. Dabei gingen sie davon aus, dass die Grundprinzipien des Universums an Maß, Zahl und Proportion abzulesen seien und so durchschaubar würden. Ein oft genanntes Beispiel ist der Ton einer schwingenden Saite eines Musikinstruments. Durch Veränderung der Saitenlänge in mathematischen Proportionen ergeben sich harmonische Tonveränderungen. Die Pythagoreer nahmen an, dass die Gegensätze im Kosmos durch Harmonie zusammengehalten werden. Das Verhältnis der Zahlen zu physischen Objekten wurde in der pythagoreischen Tradition ontologisch unterschiedlich aufgefasst; das Spektrum der Deutungen reichte von einer Prinzipbestimmung durch das Zahlenverhältnis bis zu der Ansicht, dass die Welt tatsächlich aus materiellen Zahlen bestehe.[8]

Pythagoras gilt als der abendländische Begründer der Zahlentheorie und der Entdecker der musikalischen Harmonielehre. Die Erzählung von Damon und Phintias, aus der Schiller den Stoff zur Bürgschaft entnahm, und der Bericht, dass Platon, der am Hof des Tyrannen Dionysios II. von Syrakus in Schwierigkeiten geraten war, die Erlaubnis zur Abreise einer Intervention des Pythagoreers Archytas verdankte,[9] verdeutlichen die Bedeutung der Freundestreue bei den Pythagoreern. Der Pythagoreismus entwickelte sich zu einer der einflussreichsten Größen im griechischen Denken.[10] Das pythagoreische Denken beeinflusste insbesondere Platon und Euklid. Die heutige naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt durch Zahlen und Formeln hat hier einen Vorläufer. Es waren Pythagoreer wie Philolaos und Hiketas, die als erste die Erdrotation annahmen und das damals herrschende geozentrische Modell des Universums ablehnten (allerdings ohne es durch ein heliozentrisches Weltbild zu ersetzen). Auf ihre Auffassungen griff Kopernikus zurück, als er in antiken Quellen nach Belegen für eine frühe Ablehnung des geozentrischen Weltbildes suchte.[11]

Eleaten

Parmenides von Elea

Die Eleaten, deren Schule in der antiken Hafenstadt Elea an der westitalienischen Küste beheimatet war, waren Philosophen, die die Lehre von der Einheit und Unveränderlichkeit des Seienden vertraten und die Existenz der Vielheit, der Bewegung und des Werdens ableugneten. Einer der prägenden Gegensätze der antiken Philosophie war der zwischen den Lehren der Zeitgenossen Heraklit und Parmenides. Parmenides hielt alles Werden für Schein, die wirkliche Welt selbst (aletheia) war für ihn und für die von ihm begründete eleatische Schule ein unvergängliches und unveränderliches Sein. Ob Parmenides und Heraklit voneinander wussten, ist unbekannt. Zur eleatischen Schule zählen auch Zenon von Elea, der vor allem für seine Paradoxa bekannt ist, und Melissos von Samos. Fälschlicherweise wird die Gründung der Schule oft Xenophanes von Kolophon zugeschrieben. Dieser hat sich zwar in Elea aufgehalten, wird aber heute nicht mehr zu den Eleaten gezählt. Xenophanes ist vor allem bekannt für seine Kritik an den Göttervorstellungen seiner Zeitgenossen – er vertrat das Konzept eines obersten, nicht anthropomorphen Gottes, ohne die Existenz untergeordneter Götter zu bestreiten (Henotheismus, nicht Monotheismus). Mit dem vielzitierten Satz: „Wenn die Pferde Götter hätten, sähen diese wie Pferde aus“ und ähnlichen Äußerungen wandte er sich gegen anthropomorphe und kulturspezifische Göttervorstellungen.

Heraklit

Heraklit, Detailansicht aus Raphaels Die Schule von Athen

Mit Heraklit erreichte die vorsokratische Philosophie ihren ersten Höhepunkt.[12] Gebürtig aus Ephesos ist er formell zu den ionischen Philosophen zu zählen. Seine Denkform wurde als polar[12], dialektisch und paradox bezeichnet. Die von ihm gewählten Worte haben eine „doppelwendige Gravitation“[13]. Die von Heraklit überlieferten literarischen Bruchstücke sind sentenzenähnliche Sätze, die sich als Gnome zeigen. Unter Berücksichtigung seines bereits in der Antike gebräuchlichen Beinamens „der Dunkle“ legt dies nahe, dass Heraklit eine Art Rätselsprache verwendete.

Kennzeichnend für seine Philosophie ist die verborgene Einheit von Gegensätzen, die Identität im Gegensatz. Heraklit führt an, dass dasselbe sich übergangslos als ein anderes zeigt, seine Aspekte völlig wechselt, beziehungsweise ganz verschieden, ja entgegengesetzt aussieht. Zur Verdeutlichung knüpft er in seinen Texten an zeitliche Sukzessionen, insbesondere an plötzliche, jähe Umschläge der Phänomene an. In Heraklits Augen zeigt sich hieran, dass das andere schon immer mit da, auch ohne die Veränderung mitgegenwärtig ist. So betont er den konstitutiven Charakter der jeweils gegenläufigen Kräfte. Durch diese Betrachtungen richtet sich der Blick Heraklits sowohl auf den Kosmos und seine Objekte, als auch auf den Menschen, sein Bewusstsein, sein Denken und seine Sprache. Dem ständigen Wechsel des Werdens liegt nach Heraklit die eine und ewige Gesetzmäßigkeit zugrunde, die er logos nennt. Er ist das eigentlich Beständige. Das „Feuer“ ist das eigentliche Symbol dieses Prinzips. Es ist nicht wie in der älteren ionischen Philosophie als Grundstoff, sondern als das feinste, das geistähnlichste zu sehen. Es stellt die universale Struktur alles Seins dar, letztendlich das eigentliche Rätsel des Denkens selbst. Weitere Symbole sind der „Blitz“ für den plötzlichen Umschlag, der „Streit“ oder „Krieg“ für das Weltprinzip des Spannungsverhältnisses der gegensätzlichen Kräfte und der „Traum“ für den allgemeinen Unverstand. Insgesamt folgen aus seinen Grundgedanken Ansätze zu verschiedenen philosophischen Disziplinen. Heraklit begründete keine eigene Schule. Seine Philosophie wurde aber bereits in der Antike, beispielsweise von Kratylos, den Platon hörte, aufgegriffen und hat spätere Philosophen bis in unsere Zeit beeinflusst. Die Hochschätzung seiner Lehre erneuerten besonders Hegel, Nietzsche und Heidegger.

Atomisten (jüngere ionische Naturphilosophen)

Leukipp von Abdera

Bei der Deutung des Ursprungs und der Zusammensetzung der Dinge denken die Atomisten als notwendiges Letztes kleine Teilchen. Damit wurde in erneuter Ausarbeitung des arché-Gedankens der Urstoff abstrakt, nämlich als feine unsichtbare Materie bestimmt, die denkerisch zu erfassen ist. Dieser allen mechanischen oder materialistischen Weltanschauungen (siehe beispielsweise die Korpuskeltheorie) zugrundeliegende Gedanke, ist klar zuerst von den Atomisten ausgesprochen worden. Begründer der Schule sind Leukipp aus Milet und sein Schüler Demokrit von Abdera. Wesentlich ist einerseits die Behauptung, dass der materielle Teilungsprozess an Körpern von endlicher Größe seine untere Grenze findet und andererseits daraus folgend, dass das Leere ein innerer Aufbaumoment der Körperwelt ist. In Vermittlung der Gegensätze der eleatischen und heraklitischen Philosophie setzen die Atomisten anstelle des unveränderlichen Seins die ursachlosen und ewigen Atome, anstelle des Nichtseins die Leere, anstelle der Unbeweglichkeit die Bewegung und anstelle der Einheit die Vielheit. Diese Theorie macht das Weltgeschehen verständlich, ohne auf metaphysische Annahmen zurückgreifen zu müssen. Bei den Atomisten sind bereits Ansätze zu Theorien des Stoßes, der Massenanziehung, des Kausalgesetzes, des Prinzips der Erhaltung der Materie und der Erhaltung der Kraft, Wirkung und Gegenwirkung und dem Entropiegesetz zu erkennen. Hier wurde insbesondere die wissenschaftliche Methode des Modells begründet. Weitere Vertreter der Atomistik waren Nessas, Metrodoros von Chios, Diogenes von Smyrna, Anaxarchos aus Abdera, Hekataios von Abdera, Apollodoros von Kyzikos, Nausiphanes von Teos, Diotimos, Bion von Abdera, Bolos von Mendes. Die Grundgedanken der Atomisten sind von Platon und Epikur[14] aufgenommen worden.

Andere Philosophen der Vorsokratik

Empedokles schließt sich mit seiner Lehre unter Einschluss von heraklitischen, eleatischen und pythagoreischen Aspekten an die milesische Naturphilosophie an. Indem er die Gedanken seiner Vorgänger zusammenführt und den Urstoff Erde hinzufügt formulierte er die Vier-Elemente-Lehre. Mit Anaxagoras gelangte die ionische Aufklärung nach Athen und verbreitete sich dort auch durch seine Schüler Archelaos und Metrodoros. Wie Anaximenes hielt wiederum Diogenes von Apollonia die Luft allein für den Grundstoff der Welt.

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Sophisten

Die Sophisten sind die letzten Vorsokratiker. Sie sahen als die arché nicht die Umgebung des Menschen, sondern seine Kultur und letztendlich ihn selbst. Sie boten konkrete Konzepte für ein erfolgreiches und gelingendes Leben an, indem sie zeitgemäß praktisches und theoretisches Wissen vermittelten. In ihren eigenen Worten lehrten sie arete. Inhaltlich unterscheiden sich die Lehren der einzelnen Sophisten so stark, dass man von einer einheitlichen Sophistik nicht sprechen kann. Folgendes kann aber über sie als Gemeinsames benannt werden: es waren Fachleute, wandernde Lehrer, also umherziehende Fremde ohne Bürgerrecht, die Wissensvermittlung als Geschäft betrieben. Bei ihnen wird der Mensch als einzelnes Individuum selbst zum Erklärungsprinzip, was sich im Homo-Mensura-Satz des Protagoras ausdrückt. Sie betonen in der Naturrechtslehre den Gegensatz zwischen Natur und Konvention[15] und die Sinne des Einzelnen als Grundlage der Erkenntnis. Gleichwohl ihre überlieferten Leitsätze oft unbestimmt und vage sind, wirkten sie in Ausübung ihrer Tätigkeit aufklärerisch[16] und entlarvend.[17] Allerdings ging es ihnen im Ergebnis um den Sieg im Wort- und Rechtsstreit, nicht um Erkenntnis der Wahrheit. Ein berühmtes Beispiel gibt die Geschichte „Protagoras contra Euathlus“.[18] Ein weiterer Hauptvertreter der Sophisten ist Gorgias, der in einer Schrift beweist, dass nichts existiert oder selbst wenn etwas existierte, es nicht erkennbar wäre oder selbst wenn etwas erkennbar wäre, es nicht mitgeteilt werden könnte. Bei ihnen spielte die Bezahlung eine wichtige Rolle.[19] Aufgrund ihrer Wandertätigkeit waren sie Kosmopoliten. Die Sophisten wurden und werden kontrovers bewertet. Die negative Einschätzung geht bis auf Platon,[20] wenn nicht schon auf Sokrates selbst zurück, der ihnen verderbliche Scheinhaftigkeit, Relativismus und Skeptizismus vorwarf. Eine Aufwertung erfuhren sie im 19. Jahrhundert, beispielsweise durch Hegel.[21] Heute hat sich wiederum das Urteil Platons in den Vordergrund geschoben.[22] Als gesichert gilt, dass die Sophisten durch ihre Tätigkeit an der Auflösung der traditionellen Werte der Gesellschaft mitwirkten. Ob es sich um Aufklärer oder käufliche Relativisten handelte, kann nicht entschieden werden. Zu den Sophisten zählen auch Alkidamas und Lykophron aus Chalkis.

Rezeption

Die Wirkungsgeschichte der Vorsokratiker ist vielschichtig, wandlungsreich und wenig kontinuierlich.

In der Antike, angefangen bei Platon, respektive Sokrates, über die hellenistischen Schulen bis zum Neuplatonismus und der römischen Zeit, fanden die Vorsokratiker in großem Umfang Beachtung. Nach dem Mittelalter wurden die antiken Texte, die noch bekannt beziehungsweise in Klosterbibliotheken, im arabischen Kulturkreis und Byzanz bewahrt worden waren, durch Werke von Bracciolini, Stephanus, Erasmus und Fabricius gesammelt. Die erste Vorsokratiker-Ausgabe erscheint 1573.[23] Die Texte der frühen Philosophen wurden in Handbüchern, wie zum Beispiel das von Johann Jakob Brucker[24], schlicht wiederholt, bis mit Schleiermacher[25] und Hegel das Studium der Vorsokratiker in der Neuzeit beginnt. Deren Popularität wächst ab dem 18. Jh. stetig und erreicht erstmals mit Nietzsche[26] eine Zentralposition. Im 20. Jahrhundert erhält die Rezeption durch die klassische Altertumswissenschaft, insbesondere die Philologie, durch die religionsgeschichtliche Schule, die Heidegger Schule und die philosophische Hermeneutik wichtige Impulse.

Die Wahrnehmung der Vorsokratiker ist bis in die Philosophie des 20. Jahrhunderts selektiv und voraussetzungsreich. Sie bieten späteren Philosophen eine Projektionsfläche. Dies gründet darin, dass unter den Vorsokratikern eine Vielzahl von Philosophen zu finden sind, die sehr unterschiedliche und teils gegensätzliche Standpunkte vertreten. Zudem wirkt sich aus, dass ihre originalen Werke nicht oder nur fragmentarisch erhalten sind. Die vorhandenen Textstellen wurden genutzt um Gedanken zu aktualisieren, Vermittlungen herzustellen oder Alternativen zu entwickeln. Hierbei sind den Vorsokratikern nicht selten Ansichten beigelegt und untergeschoben worden, die von ihnen nicht oder nicht so vertreten wurden. Einige wurden zu zentralen Gestalten gemacht, andere rückten dagegen überhaupt nicht ins Blickfeld. Insgesamt werden die Vorsokratiker heute nicht mehr mit der Intention studiert, bei ihnen den Ursprung der abendländischen Rationalität und Kultur zu entdecken. Denn auch die Vorsokratiker schöpften bereits aus dem Wissen früherer Zeiten, Kulturen und Völker. Das vereinfachte Schema, das griechische Denken habe sich entfaltet, indem es vom Mythos zum logos fortschreite[27] wird heute entgegengehalten, dass bereits der Mythos sich selbst schon als logos, und der Logos noch als Mythos zeigt. Die Vorsokratiker haben eine komplexe Zwischenstellung. Sie kanalisierten Überkommenes und entwickelten es weiter. Hierbei transportierten sie auch vorhandene metaphysische Ideen und mythisch-religiös Ansichten. Auf der Grundlage ihrer arché-Forschung entwickelten sie beispielsweise die Begriffe der Welt, des Seins, des Werdens, der Zahl und des logos.

In der Gegenwart ist die frühe Philosophie der Griechen so aktuell wie kaum zuvor. Neben den bereits ausgeführten Grundlegungen der Vorsokratiker für späteres Denken ist zum Beispiel Xenophanes Kritik der anthropomorphen Gottesvorstellung in der Religionskritik, Empedokles Lehre von Liebe und Hass in der Psychoanalyse und die zenonschen Paradoxien in Physik, Mathematik und Philosophie präsent. Die Gedanken der Vorsokratiker wirken über Dichter und Schriftsteller wie Hölderlin[28] und Beckett, Gesellschaftskritiker wie Marx[29] und Philosophen wie Popper[30] in alle Lebensbereiche des Menschen. So unterschiedliche Denker wie Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche oder der Astronom Carl Sagan bezogen sich positiv auf die Vorsokratiker in bewusster kritischer Abgrenzung von den nachsokratischen Philosophen Platon und Aristoteles.

Siehe auch

Ausgaben und Übersetzungen (chronologisch)

  • Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg. und Übers.): Die Fragmente der Vorsokratiker Griechisch/Deutsch. 3 Bände, Berlin 1912, Nachdruck Weidmann, Zürich 1996, ISBN 3-296-12201-X, ISBN 3-296-12202-8 und ISBN 3-296-12203-6 (erste umfangreiche Sammlung der Fragmente und Zeugnisse im Originaltext mit Teilübersetzung)
  • Wilhelm Capelle (Übers.): Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenberichte. Kröner, Stuttgart 1935, ISBN 3-520-11908-0 (Kröners Taschenausgabe. Bd. 119) (erste umfangreiche Übersetzung auf der Textgrundlage von Diels/Kranz)
  • Fritz Jürß, Reimar Müller, Ernst Günther Schmidt (Übers.): Griechische Atomisten: Texte u. Kommentare zum materialistischen Denken der Antike. Reclam, Leipzig 1973 (umfangreichste kommentierte Sammlung zur Atomistik)
  • Jaap Mansfeld (Hrsg. und Übers.): Die Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch. Reclam, Stuttgart 1983/1986 (handliche Auswahl von Fragmenten mit knapper Einführung zu jedem Philosophen)
  • Geoffrey Stephen Kirk, John E. Raven, Malcolm Schofield (Hrsg. und Übers.): Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare. Ins Deutsche übersetzt von Karlheinz Hülser. Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 978-3-476-01834-2 (zweisprachige Auswahl mit hilfreichen Erläuterungen)
  • Thomas Schirren, Thomas Zinsmaier (Hrsg. und Übers.): Die Sophisten. Griechisch/Deutsch Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-15-018264-2 (umfangreichste kommentierte Sammlung zur Sophistik)
  • Jochen Althoff, Dieter Zeller (Hrsg. und Übers.): Die Worte der Sieben Weisen. Griechisch/Deutsch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, ISBN 978-3-534-19505-3 (umfangreichste kommentierte Sammlung zu den Anfängen)
  • Laura Gemelli (Hrsg. und Übers.): Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch. Artemis & Winkler, Düsseldorf (aktuell umfangreichste Sammlung der Fragmente und Zeugnisse der Vorsokratiker im Originaltext mit neuer Übersetzung aller Texte, Kurzbiographien sowie philologischem und historischem Kommentar)

Literatur

Philosophiebibliographie: Antike – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema

  • Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt. Beck, München 1994, ISBN 3-406-38535-4
  • Hans-Georg Gadamer: Der Anfang der Philosophie. Reclam, Stuttgart 1996, ISBN 978-3-15-009844-8
  • Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-009756-8
  • Hans-Georg Gadamer: Griechische Philosophie I-III (= Hans Georg Gadamer, Gesammelte Werke Bände 5-7). Tübingen 1999, ISBN 3-16-147182-2
  • Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie. Von Hesiod bis Parmenides. Schwabe, Basel und Stuttgart 1968
  • Theodor Gomperz: Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie. 3 Bände, 4. Auflage, de Gruyter, Berlin 1925
  • Christoph Horn, Christof Rapp: Wörterbuch der antiken Philosophie. 2. Auflage, Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-56846-6 (Erläuterung zahlreicher Begriffe)
  • Diogenes Laertius: Leben und Lehre der Philosophen, übersetzt und herausgegeben von Fritz Jürß, Stuttgart 1998, ISBN 3-15-009669-3
  • Anthony A. Long (Hrsg.): Handbuch frühe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten. Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01852-0
  • Ralf Ludwig: Die Vorsokratiker für Anfänger. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2002, ISBN 3-423-30858-3 (kompakte Einführung unter Angabe der grundlegenden Literatur)
  • Christof Rapp: Vorsokratiker. Beck, München 2007, ISBN 3-406-38938-4 (sehr gut lesbare Einführung mit Literaturempfehlungen, Zeittafel)
  • Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Suhrkamp, Frankfurt 1978, ISBN 3-518-27818-5 (Tübinger Vorlesungen Bd. 1)
  • Moth Stygermeer: Während Sokrates schweigt. Der zweite Anfang der Philosophie in Platons Dialog Sophistes, Tenea, Berlin 2005, ISBN 3-86504-149-3, S. 27–54 (entwickelt neue Sicht auf Thales aus einer Theorie des Anfangs der Philosophie)
  • Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Die Philosophie der Vorsokratiker. Der Anfang der abendländischen Metaphysik. Königshausen & Neumann, Würzburg 1992, ISBN 3-88479-706-9

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Johann August Eberhard: Allgemeine Geschichte der Philosophie, Halle 1796, S. 47.
  2. Aristoteles, Metaphysik I 3 9830b 1f.
  3. Cicero, Tusculanae disputationes V 10.
  4. Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg. und Übers.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Band 3, Berlin 1960, S. 491 ff.
  5. Fragmente der Vorsokratiker, Snell 107, Diogenes Laertios 1,87 und 88. Jochen Althoff, Dieter Zeller: Die Worte der sieben Weisen, Darmstadt 2006.
  6. Gustav Kafka: Die Vorsokratiker, München 1921, S. 17.
  7. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999, S. 168.
  8. Aristoteles, Metaphysik XIII 6 1080b 17.
  9. Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen VIII 79.
  10. Wiebrecht Ries: Die Philosophie der Antike, Darmstadt 2005, S. 26.
  11. Nikolaus Kopernikus: De Revolutionibus Orbium Coelestium, Nürnberg 1543, hier: Widmungsbrief (Vorrede) an Papst Paul III.
  12. a b Wiebrecht Ries: Die Philosophie der Antike, Darmstadt 2005, S. 29.
  13. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999, S. 61.
  14. Hans Joachim Krämer: Platonismus und hellenistische Philosophie, Berlin 1972, S. 231
  15. Wiebrecht Ries: Die Philosophie der Antike, Darmstadt 2005, S. 47.
  16. Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1975, S. 261.
  17. Volker Steenblock: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002, S. 36.
  18. Protagoras contra Euathlus von Wolfgang Lenzen
  19. Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen IX 52; Platon, Menon 91d.
  20. Platon, Menon 91c; Sophistes 232c.
  21. G.W.F. Hegel: Die Sophisten. In: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Hamburg 1989, S. 110-127.
  22. Ernst R. Sandvoss: Geschichte der Philosophie, München 2001, S. 289.
  23. Henri Estienne, Joseph Justus Scaliger: Poesis philosophica, Genf 1573.
  24. Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae, Leipzig 1742–1744.
  25. Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, S. 188.
  26. Friedrich Nietzsche: Die vorplatonische Philosophie. In: Nietzsche: Werke, Berlin 1995, S. 207-362.
  27. Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1975.
  28. Helmut Hühn: Mnemosyne: Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken, Stuttgart 1997, S. 122.
  29. Karl Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie. In: Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband I, S. 257-373.
  30. Karl Popper: Back to the Pre-Socratics (1958). In: Popper: Conjectures and Refutations, 1972, S. 136-165.

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