Soziale Kunst

Soziale Kunst

Die Bezeichnung Kunst im Sozialen geht sowohl zurück auf anthropologische Konzepte der Anthroposophie, die Rudolf Steiner unter dem Begriff der sozialen Dreigliederung entworfen hat, als auch auf Entwicklungen in der bildenden Kunst[1], die in der jüngeren Geschichte vor allem durch Joseph Beuys und seinem erweiterten Kunstbegriff geprägt sind. Der Begriff Kunst wird hier auf die Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen und sozialer Beziehungen bezogen.

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Rudolf Steiner hat nach dem ersten Weltkrieg die Dreigliederung des sozialen Organismus als ein Leitbild für die gesellschaftliche Entwicklung eingeführt. Er unterschied dabei die gesellschaftlichen Bereiche Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben, denen die Ideale der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entsprechen[2].

Joseph Beuys knüpft an den Begriff der sozialen Dreigliederung an und bringt ihn in einen Zusammenhang mit einem erweiterten Kunstbegriff: „Es bleibt im Grunde dabei, dass es sehr wichtig ist, diesen Kunstbegriff zu entwickeln, wo jeder lebende Mensch ein Gestalter einer lebendigen Substanz werden kann. Das ist der soziale Organismus."[3] Er sieht in dem Bild der Dreigliederung und seiner Verknüpfung mit den Idealen der französischen Revolution gleichzeitig etwas „Therapeutisches“, durch das der soziale Organismus herauskommt „aus den ganzen Verfilzungen, Verknotungen und Fehlstellungen“[4]. Davon ausgehend entwickelt Joseph Beuys das Bild einer neuen Gesellschaft [5] als soziale Plastik, deren Gestaltung er als soziale Kunst ansieht. So betrifft die Kunst im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffes soziale Systeme und die gesellschaftlichen Entwicklungen[6]. Künstlerisches Wirken bezieht Beuys „auf alles Gestalten in der Welt. Und nicht nur auf künstlerisches Gestalten, sondern auch auf soziales Gestalten, [...] oder auf andere Gestaltungsfragen und Erziehungsfragen.“ [7]

In der zeitgenössischen Kunst gibt es Tendenzen, die einer "Kunst im Sozialen" verwandt sind. Für solche Strömungen der bildenden Kunst steht nicht das Produkt, sondern die Handlung, die Bewegung, das Performative und die Inszenierung im Vordergrund, die den Rezepienten in die Entstehung des Werkes einschließen: „Statt Werke zu schaffen, bringen die Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind.“[8] Diese Entwicklung wird in den 1960er Jahren eingeleitet vom Performative Turn, dem in den 1990er Jahren der von der Bildwissenschaft so bezeichnete Iconic Turn[9] (Ikonische Wende) folgte. Mit dieser Entwicklung wird das an die traditionellen Künste gebundene Kunst- und Bildverständnis auf kommunikative und soziale Prozesse erweitert. Sie hat ihre Vorläufer bereits in der Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts, als Alexander Rodtschenko proklamierte: „Arbeite fürs Leben und nicht für Paläste, Kathedralen, Friedhöfe und Museen. Arbeite mitten in allem und mit jedem.“[10]

Praxis

Als Kunst im Sozialen verstehen sich verschiedene Formen pädagogischer, therapeutischer[11] oder politischer Praxis. Sie haben in der Regel anthropologische oder kunstgeschichtliche Hintergründe:

  • Die Gründung der Waldorfschulen stehen mit anthropologischen Annahmen Rudolf Steiners in Zusammenhang. In ihnen vermitteln die Lehrer nicht nur Wissen, sondern widmen sich im umfassenden Sinne der Förderung und Erziehung der Schüler. Die Ausbildung umfasst dabei - dem anthroposophischen Menschenbild folgend - die Entwicklung der intellektuell-kognitiven („Denken“), der künstlerisch-kreativen („Fühlen“) und der handwerklich-praktischen („Wollen“) Fähigkeiten der Schüler. Erziehung wird hier als soziale Kunst aufgefasst: „Alles das, was wir künstlerisch vollbringen können“, so Rudolf Steiner, “es wird doch erst ein Höchstes, wenn wir es einlaufen lassen können in die größte Kunst…in der uns unvollendet der lebendige Mensch übergeben ist, den wir zu einem gewissen Grade künstlerisch, erzieherisch, zum vollendeten Menschen machen sollen“[12].
  • Auf die Förderung des Menschen im Sinne einer sozialen Kunst geht der Impuls des Ehepaars Rose-Maria und Siegried Pütz zurück, 1967 in Ottersberg eine „Freie Kunststudienstätte“ für das „Soziale Wirken der Kunst“ zu gründen. Hier werden die Studiengänge „Kunsttherapie“ und später „Theaterpädagogik“ eingeführt, die ihren Blick auf gesellschaftliche Randbereiche richten [13]. Inzwischen ist die Kunststudienstätte als Fachhochschule die weltweit größte Ausbildungsstätte für Kunsttherapie und staatlich anerkannt. Seit 2007 sind hier die Studiengänge „Kunst im Sozialen. Kunsttherapie“ und „Theater im Sozialen“ eingeführt.
  • Als Kunst im politischen Raum ist die Bewegung für direkte Demokratie zu verstehen, die auf das Wirken von Joseph Beuys zurückgeht. 1971 wird in Düsseldorf die „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ gegründet, die u.a. zur Gründung des Projektes Omnibus für direkte Demokratie führt, das sich vor dem Hintergrund des erweiterten Kunstbegriffes die Propagierung der direkten Demokratie durch Volksabstimmung zur Aufgabe gemacht hat.

Literatur

  • Joseph Beuys: Jeder Mensch ein Künstler – Auf dem Weg zur Freiheitsgestalt des sozialen Organismus (FIU-Verlag), ISBN 3-928780-52-2
  • Joseph Beuys: Ein kurzes erstes Bild von dem konkreten Wirkungsfelde der sozialen Kunst, Wangen 1987 (FIU-Verlag), ISBN 3-926673-02-8
  • Horst Bredekamp: Kunst als Medium sozialer Konflikte: Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution, Frankfurt am Main 1975
  • Volker Harlan, Rainer Rappmann, Peter Schata: Soziale Plastik – Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976 (Achberger Verlagsanstalt), ISBN 3-88103-065-4
  • Volker Harlan: Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Joseph Beuys, Stuttgart 1986 (Urachhaus), ISBN 3-87838-482-3
  • Stella Rolling, Eva Sturm (2002) Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum, darin: Zwischen Agitation und Animation. Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts, S. 128 ff. Wien: Turia und Kant

Siehe auch

Weblinks


Quellen

  1. Horst Bredekamp, Kunst als Medium sozialer Konflikte: Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution, Frankfurt am Main 1975
  2. Rudolf Steiner (1919), Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft, Gesamtausgabe Nr. 23, Dornach (Schweiz)
  3. Harlan, V., Rappmann, R., Schata, P. (1976): Soziale Plastik – Materialien zu Joseph Beuys. Achberg: Achberger Verlag. S. 20
  4. Harlan, V., Rappmann, R., Schata, P. (1976): Soziale Plastik – Materialien zu Joseph Beuys. Achberg: Achberger Verlag. S. 13 f.
  5. Harlan, V., Rappmann, R., Schata, P. (1976): Soziale Plastik – Materialien zu Joseph Beuys. Achberg: Achberger Verlag. S. 26
  6. Joseph Beuys: Jeder Mensch ein Künstler – Auf dem Weg zur Freiheitsgestalt des sozialen Organismus (FIU-Verlag
  7. Gespräch zwischen J. Beuys, B. Blume und H. G. Prager vom 15. November 1975 veröffentlicht in der Rheinischen Bienenzeitung, Heft 12/1975
  8. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main
  9. Doris Bachmann-Medick: Iconic Turn. In: Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb. Auflage. Rowohlt, Reinbek 2009, ISBN 978-3-499-55675-3, S. 329–380
  10. Stella Rolling, Eva Sturm (2002) Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum, darin: Zwischen Agitation und Animation. Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts, S. 128 ff. Wien: Turia und Kant
  11. Peter Sinapius (2005): Therapie als Bild - Das Bild als Therapie / Grundlagen einer künstlerischen Therapie. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang
  12. Rudolf Steiner (1982): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Dornach: Rudolf Steiner Taschenbücher, S. 10
  13. Rose Maria Pütz (1981) Kunsttherapie / Eine Alternative zur Regeneration des Menschen. Bielefeld: Bertelsmann

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