Spiegelgrund

Spiegelgrund

Der Name Spiegelgrund kennzeichnete bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Spitalskomplex auf der Baumgartner Höhe in Wien. Heute wird der Begriff Am Spiegelgrund vor allem mit den Verbrechen der NS-Medizin in Verbindung gebracht.

Inhaltsverzeichnis

In der Zeit des Nationalsozialismus

Im Jahr 1940 eingerichtet wurde Am Spiegelgrund zur zweitgrößten „Kinderfachabteilung“ des Deutschen Reiches während der Kinder-„Euthanasie“. Wiederholt wurde die Einrichtung umbenannt: „Wiener städtische Jugendfürsorgeanstalt“, „Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien - Am Spiegelgrund“ und „Wiener städtische Nervenklinik für Kinder“. Mit der Namensgebung versuchte man beschönigend eine Spezialklinik vorzutäuschen, in der kranke, behinderte und vermeintlich erblich belastete Kinder und Jugendliche behandelt wurden. Ärzte und Hebammen waren durch einen inoffiziellen Runderlass aufgefordert worden, Auffälligkeiten an die Gesundheitsämter zu melden.[1]

In der Reichshauptstadt Berlin war der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ ansässig. Er begutachtete eingehende Meldungen zu den Krankheiten von Patienten und erteilte weitere Anweisungen: „Behandlung“ oder „Beobachtung“. Ersteres bedeutete meist die Tötung der jungen Patienten, Beobachtung hieß, dass man noch warten wollte.[1] Der Öffentlichkeit sollte dies nicht direkt bekannt werden.

Es fanden etwa 700 bis 800 Euthanasiemorde an geistig behinderten Kindern statt. Federführend war der Leiter der Säuglingsabteilung, Heinrich Gross. Er wurde dafür nie rechtskräftig verurteilt. Der österreichische Psychoanalytiker Igor Alexander Caruso war im Jahr 1942 als Erzieher und psychologischer Gutachter in der Einrichtung tätig.

Heute

Heute befindet sich in diesem Gebäude das Otto-Wagner-Spital.

Bestattungen

Erst im April 2002 wurden sterbliche Überreste wie Gehirne und Nervenstränge von 789 Opfern auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet.

Vorausgegangen war die Erfassung der Spiegelgrund-Opfer. Leiter des DÖW-Projektes war Wolfgang Neugebauer.[2] Er hatte bereits mehrere Publikationen über Euthanasie in Österreich verfasst.[3]

Neue Funde

Wolfgang Lamsa[4] vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes[5] berichtete, dass man nach der Bestattung auf weitere 70 Gehirne gestoßen war. Deren Herkunft konnte man aufgrund der fehlenden Dokumente nicht zuordnen. Lamsa erklärt, dass es vermutlich keine Opfer der Spiegelgrund-Stätte seien, und dass ohne Zuordnung nicht bestattet werden könne: „Darauf hoffen wir aber, damit wir diese Gehirne letztendlich bestatten können“.

Gedenkort

Mit Bestattung der Überreste der unfreiwilligen Forschungsobjekte des Spiegelgrunds wurde 2002 eine Ausstellung zur NS-Medizin in Wien am ehemaligen Spiegelgrund am Steinhof, dem heutigen Otto-Wagner-Spital, gezeigt und Gedenktage abgehalten. Seit November 2003 erinnert ein Mahnmal in Form von Lichtstelen an die Ermordeten.[6]

Auseinandersetzung

2005 inszenierte der Theaterregisseur Johann Kresnik das Schicksal der Kinder im Spiegelgrund am Wiener Volkstheater.

Waltraud Häupl hat 2006 in ihrem Buch[1] dokumentiert, dass Patienten krank gemacht wurden, um natürliche Todesursachen wie etwa Lungenentzündung oder Darmentzündung attestieren zu können. Sie berichtet von Überdosierungen mittels Barbituraten, vor allem mit Phenobarbital. Diese Medikamente bewirkten das „Einschläfern“, also den Tod der Patienten. Häupl legt dar, dass Gehirne und andere Körperteile in Gläsern konserviert wurden und für wissenschaftliche Forschungen und Publikationen benutzt wurden, auch nach Kriegsende. Viele Dokumente hatte man vernichtet. Häupl dokumentiert in ihrer Publikation 788[1] Opfer namentlich.

Siehe auch

Literatur

  • Karl Cervik: Kindermord in der Ostmark. Lit-Verlag 2001. ISBN 3825855511
  • Waltraud Häupl: Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Kindereuthanasie in Wien. 2006. 663 Seiten, 150 s/w-Kleinabb, ISBN 3-205-77473-6
  • Eberhard Gabriel, Wolfgang Neugebauer (Hrsg.): Vorreiter der Vernichtung? Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien. Teil II, Böhlau. Wien 2002. ISBN 3-205-77122-2.
  • Wolfgang Neugebauer: Die Lüge vom Gnadentod: medizinische Massenmorde in Österreich von 1938 bis 1945, in: Gedenkdienst, Heft 1, Wien 2001.
  • Wolfgang Neugebauer: Die Nachkriegskarriere des Euthanasiearztes Dr. Heinrich Gross, in: Informationen der Gesellschaft für politische Aufklärung, Nr. 60, März 1999

Weitere Literaturhinweise im Hauptartikel: Die Euthanasiemorde in der NS-Zeit oder Aktion T4

Quellen

  1. a b c d Waltraud Häupl: Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund
  2. Erfassung der Spiegelgrund-Opfer
  3. Wolfgang Neugebauer
  4. Reportage ORF, 28. April 2005
  5. DÖW, Opferdatenbanken
  6. Mahnmal für die Opfer vom Spiegelgrund Rathauskorrespondenz vom 27. November 2003. (Abgerufen am 1. Juni 2010)

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Am Spiegelgrund — Der Name Spiegelgrund kennzeichnete bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Spitalskomplex auf der Baumgartner Höhe in Wien. Heute wird der Begriff Am Spiegelgrund vor allem mit den Verbrechen der NS Medizin in Verbindung gebracht.… …   Deutsch Wikipedia

  • Am Spiegelgrund clinic — Am Spiegelgrund was the name of a children s clinic in Vienna. Although called a clinic it in fact was a centre for the euthanasia of children.ContextHitler s Final Solution was the genocide of every Jew in Europe. There were also many euthanasia …   Wikipedia

  • Heinrich Gross — (* 14. November 1915 in Wien; † 15. Dezember 2005 in Hollabrunn) war ein österreichischer Arzt, dessen Tätigkeit als Stationsarzt an der Wiener „Euthanasie“ Klinik Am Spiegelgrund im Sommer 1944 später zu zwei Anklagen vor Gericht führte.… …   Deutsch Wikipedia

  • Marianne Türk — (* 31. Mai 1914 in Wien; † 11. Januar 2003 ebenda) war eine österreichische Kinderärztin und an Verbrechen im Rahmen der Kinder Euthanasie beteiligt. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Gerichtliche Aufarbeitung nach 1945 3 …   Deutsch Wikipedia

  • Kindereuthanasie — Kinder „Euthanasie“ ist die Bezeichnung für die im Nationalsozialismus organisierte Tötung von geistig und körperlich schwer behinderten Kindern und Jugendlichen bis zu 16 Jahren, der in über 30 sogenannten „Kinderfachabteilungen“ mindestens 5000 …   Deutsch Wikipedia

  • Anna Katschenka — (* 3. April 1905 in Wien; † 1. Februar 1966 in Wien) war eine österreichische Krankenschwester in der Kinderanstalt „Am Spiegelgrund“ und Beteiligte an der NS Kinder Euthanasie. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Beteiligung an der Euthanasie …   Deutsch Wikipedia

  • Friedrich Zawrel — (* 1929 in Lyon[1] oder Wien)[2] ist Überlebender der NS Euthanasie. Er wurde 1975 ein zweites Mal Opfer durch den damaligen Täter und späteren Gerichtsgutachter Heinrich Gross. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Auszeichnungen …   Deutsch Wikipedia

  • Kinderfachabteilungen — Der allgemeine Begriff „Kinderfachabteilung“ wurde im nationalsozialistischen Deutschen Reich als beschönigende Bezeichnung für besondere Einrichtungen der Psychiatrie in Krankenhäusern sowie Heil und Pflegeanstalten verwendet, die der Kinder… …   Deutsch Wikipedia

  • Liste von NS-Ärzten und Beteiligten an NS-Medizin — Die Liste NS Ärzte und Beteiligte an NS Medizin führt Ärzte und andere Personen auf, die während der nationalsozialistischen Zeit in Verbrechen im medizinischen Bereich verwickelt waren. Inhaltsverzeichnis 1 NS Ärzte 1.1 A B 1.2 C D 1.3 E …   Deutsch Wikipedia

  • Liste Ärzte und Beteiligte an NS-Medizin — Die Liste NS Ärzte und Beteiligte an NS Medizin führt Ärzte und andere Personen auf, die während der nationalsozialistischen Zeit in Verbrechen im medizinischen Bereich verwickelt waren. Inhaltsverzeichnis 1 NS Ärzte 1.1 A B 1.2 C D 1.3 E …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”