Sraffa

Sraffa

Piero Sraffa (* 5. August 1898 in Turin; † 3. September 1983 in Cambridge, Großbritannien) war ein italienischer Wirtschaftswissenschaftler.

Inhaltsverzeichnis

Theorie

Sraffa entwickelte eine Theorie der Produktionspreise. Sein Ansatz ist, dass jede Ware zu ihrer Produktion Waren in einer bestimmten Menge benötigt. Für jede Ware kann somit eine Gleichung aufgestellt werden, in der aufgeführt wird, welche anderen Waren in welchen Mengen zu ihrer Herstellung notwendig sind. Wenn dies für jede Ware geschehen ist, erhält man ein Gleichungssystem, das angibt, in welchem Verhältnis die verschiedenen Waren getauscht werden müssen. Ist eine Ware der Numéraire, dann sind alle Preise gegeben. Allerdings hat das Gleichungssystem noch einen „Freiheitsgrad“, so dass eine Größe, etwa der Lohn, festgelegt werden muss. Geht man beispielsweise davon aus, dass die Arbeiter einen bestimmten Warenkorb kaufen müssen, damit sie ihre Arbeitskraft erhalten können (Subsistenzlohn), dann ist diese Festlegung erfolgt. Als „Restgröße“ verbleibt der Profit und eine Profitrate lässt sich dann auch ausrechnen, die umso niedriger ist, je höher der Lohnsatz festgelegt wird. Werden die Profite voll reinvestiert in mehr Arbeitskräfte und mehr Produktionsmittel oder anders ausgedrückt, wird das Mehrprodukt jedes Mal voll zur Erweiterung des gesamtwirtschaftlichen Produktionsumfanges genutzt, dann wächst die Wirtschaft mit einer Rate, die gleich hoch ist wie die Profitrate (vom Konsum der Unternehmer wird auch abgesehen). Beträgt die Profitrate etwa 5 %, dann werden jedes Jahr 5 % mehr Arbeitskräfte eingestellt und es wird von allem 5 % jährlich mehr produziert.

Sraffa und Ricardo

Bei Sraffa muss die Profitrate sinken, wenn die Löhne steigen. Dasselbe hatte schon David Ricardo behauptet. Deshalb wird die Sraffaschule auch als neoricardianisch bezeichnet. Bei Marx können dagegen sowohl die Löhne sinken, als auch die Profitrate, wenn etwa der Kapitalaufwand für Produktionsmittel entsprechend stark zunimmt.

Sraffa war auch der Herausgeber der gesammelten Werke David Ricardos.

Sraffa und die Neoklassik

Sraffa verstand sein Modell als Kritik an neoklassischen Modellen. Sein Modell führte zur „reswitching“-Debatte. Laut Neoklassik führen steigende Löhne dazu, dass die Kapitalisten Produktionstechniken wählen, die weniger Arbeit benötigen, dafür mehr Produktionsmittel wie Maschinen. Die Kapitalisten weichen also der teurer werdenden Arbeit aus und wählen dafür Techniken, die zum Ausgleich mehr Produktionsmittel benötigen. Sie substituieren Arbeit durch „Kapital“.

Sraffa verglich verschiedene Techniken mit unterschiedlicher Arbeitsintensität miteinander, insbesondere betrachtete er, wie sich die Profitraten bei den verschiedenen Techniken entwickeln, wenn der Lohn steigt. Bei allen Techniken wird die Profitrate sinken, aber die Reihenfolge der nach der Größe der Profitrate geordneten Techniken kann sich dabei ändern. Eine Technik, die bei niedrigem Lohn die höchste Profitrate aufweist, fällt vielleicht zurück, wenn der Lohn steigt, kann aber wieder die höchste Profitrate bekommen, wenn die Löhne weiter steigen. Für die Kapitalisten heißt dies, dass sie bei steigendem Lohn zu einer anderen Technik mit höherer Profitrate wechseln, steigt der Lohn aber weiter, wechseln sie wieder zurück („reswitching“), weil die alte Technik jetzt wieder die höchste Profitrate aufweist. Dass sich dies unter bestimmten Umständen ergeben kann, widerspricht der neoklassischen Produktionstheorie, die diesen Fall nicht vorsieht.

Kapitalkontroverse

Die Neoklassik nimmt in ihren Produktionsfunktionen an, dass von den Produktionsfaktoren Arbeit und „Kapital“ bestimmte Mengen eingesetzt werden. Das Problem, dass beim Kapitalstock sich Güterzuglokomotiven und Reißnägel nicht ohne weiteres addieren lassen, wird dadurch gelöst, dass die Preise der verschiedenen Kapitalgüter zu einer Größe addiert werden, so dass ein Kapitalstock in Höhe von soundsoviel Mrd. Euro vorliegt. „Reine“ Preisveränderungen im Zeitablauf werden dabei mit bestimmten Verfahren wieder herausgerechnet.

Nach Sraffa ist dies nicht zulässig. Setzen die Gewerkschaften etwa einen höheren Lohnsatz durch, dann vermindert dies (unter den Sraffa-Annahmen wie einheitliche neue Profitrate in allen Branchen) die Profitrate und verändert alle Preise der Waren, auch der Kapitalgüter wie Güterzuglokomotiven und Reißnägel. Die Größe des Kapitalstocks als Summe der Preise aller Kapitalgüter hängt somit davon ab, welches Lohnniveau durchgesetzt wird, was der neoklassischen Annahme eines „real“ gegebenen Kapitalstocks widerspricht. Profitrate und Kapitalstock können nicht unabhängig voneinander bestimmt werden, sondern nur simultan. Die Auseinandersetzung um dieses Problem wird als Kapitalkontroverse bezeichnet.

Sraffa und die marxistische Wirtschaftstheorie

Durch seine Kritik an der Neoklassik war Sraffa als linker Ökonom eingeordnet. Seine Modelle schienen auch eine moderne mathematische Grundlage für die Marxsche Wirtschaftstheorie zu bieten. Die Marxschen Aussagen wurden anhand des Sraffa-Modells überprüft, indes nicht in jedem Falle bestätigt. Im Verlauf der Debatte haben sich mehrere Strategien marxistischer Gegenkritik herausgebildet, die entweder Marx im prinzipiellen Rahmen Sraffianischer Analytik alternativ interpretieren oder diesen Rahmen selbst kritisieren. So kritisieren beispielsweise die marxistischen Autoren der US-amerikanischen "Temporal single-system interpretation" seit Beginn der achtziger Jahre, dass Sraffianische Modelle den Restriktionen der neoklassischen Allgemeinen Gleichgewichtstheorie unterliegen und eine solche Interpretation Marxens erst zu den von der Sraffa-Schule konstatierten Problemen führt. Fritz Helmedag wiederum verweist darauf, dass die Marxsche Arbeitswerttheorie empirisch realitätsnäher und logisch konsistenter ist als neoricardianische Produktionspreise, die obendrein nicht universell vereinbar sind mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Emmanuel Farjoun und Moshe Machover verweisen ebenfalls auf die Leistungsfähigkeit der Arbeitswerttheorie und schlagen in ihrem Buch "The laws of chaos" (1983) vor, statt von einer einheitlichen Durchschnittsprofitrate von einer Differenzierung der Profitrate in mehrere Profitraten auszugehen. Die "reinen" Arbeitswerte stellen für Farjoun und Machover dann die statistischen Mittelwerte dar, die als "erste Näherung" dem realen Preisgeschehen am nächsten kommen.

Arbeitswerttheorie

So erlaubt das Modell zwar die Berechnung von Arbeitswerten, also wieviel Arbeitszeit steckt unmittelbar und mittelbar über die Vorprodukte in den einzelnen Waren, dasselbe kann aber für jedes wichtige Produkt wie Kohle oder Stahl genauso geleistet werden. Warum also Arbeitswerte, wenn Stahlwerte genauso gehen? Aus marxistischer Sicht wiederum ist diese Frage offensichtlich falsch gestellt, denn "Arbeit" stellt die Verausgabung menschlicher Energie dar und es sind die jene Arbeitsleistung erbringenden Wirtschaftssubjekte, die letztlich handeln. "Stahl" oder "Kohle" handelt aber nicht, sondern stellt lediglich ein Produktionsmittel dar für handelnde Menschen. Produktionsmittel wiederum gehen in die Wertbestimmung der Ware ein soweit sie mittels Arbeit gefördert und stofflich bearbeitet wurden und den Produktivitätsgrad der sie anwendenden Arbeitskraft technologisch bestimmen. Die bloße mathematische Möglichkeit, "Arbeitswerte" durch "Stahlwerte" oder "Kohlewerte" zu ersetzen liefert also noch kein Argument gegen die Arbeitswerttheorie.

Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate

Auch dieses Gesetz wurde mathematisch überprüft und innerhalb der Sraffa-Welt widerlegt. Ist der Subsistenzlohn gegeben und kann ein einzelner Kapitalist eine Produktionstechnik wählen mit geringerem Einsatz an Arbeitskräften, dafür vermehrtem Einsatz an Produktionsmitteln und so für sich eine höhere Profitrate erzielen, dann führt dies, wenn die neue Technik allgemein in der jeweiligen Branche angenommen wurde, auch gesamtwirtschaftlich zu immer höheren Profitraten. Marx hatte das entgegengesetzte Resultat behauptet. Eine prinzipielle Gegenkritik gegen diese Sraffianische Argumentation geht auf die Autoren Alan Freeman und Andrew Kliman des "Temporal Single System"-Ansatzes zurück.

Eine politische Einordnung

Sozialdemokraten beriefen sich ursprünglich auf Marx, kamen aber nach und nach zu einer immer günstigeren Einschätzung des Kapitalismus, so dass auch die marxistische Wirtschaftstheorie immer mehr hinterfragt wurde. Keynes hatte gezeigt (oder schien gezeigt zu haben), wie Wirtschaftskrisen zwar auftreten, aber auch durch staatliche Maßnahmen wieder überwunden werden können, ohne gleich den Kapitalismus abschaffen zu müssen. Er stand damit zwischen den Marktfundamentalisten einerseits und der Fundamentalopposition des Marxismus andererseits.

Eine Lücke in der keynesschen Theorie bildete allerdings die lange Sicht. Keynes selbst hatte gesagt „Langfristig sind wir alle tot“ und seine Vorstellung von einer langfristig sinkenden „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“ erinnerte verdächtig an das Marxsche Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate.

Von daher traf es sich günstig, dass mit Sraffa ein weiterer links einzuschätzender Ökonom gefunden war, dessen Theorie dazu geeignet schien, auch die langfristigen Krisen- und Stagnationstendenzen, wie sie die Marxsche Theorie behauptete und die mit Keynes noch nicht widerlegt waren, in Frage zu stellen mit entsprechenden politischen Folgen (Reformismus).

Kritik an Sraffa

Bei der Sraffaschen Vorgehensweise ist die komparativ-statische Analyse zu kritisieren. Es werden verschiedene Volkswirtschaften miteinander verglichen, die eine bestimmte Produktionstechnik anwenden. Kommt es zu einer technischen Verbesserung, dann wird untersucht, wie sich eine Volkswirtschaft mit dieser neuen Technik verhält. Innerhalb der Sraffa-Welt ist es eigentlich trivial, dass so betrachtet Volkswirtschaften mit immer besseren Produktionstechniken immer rascher wachsen können, also immer höhere „Profitraten“ aufweisen.

Bei Marx ist dagegen die Einführung neuer Techniken ein nicht zur Ruhe kommender Vorgang, ständig werden alte Anlagen durch technischen Fortschritt entwertet, was die Profitrate mindert, immer größere Teile des Profits dienen nicht mehr der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, sondern dem vermehrten Einsatz von Produktionsmitteln je Arbeitsplatz. Diese Dynamik kann von Sraffa-Modellen nicht erfasst werden.

Werk (Auswahl)

  • Sraffa, Piero: Warenproduktion mittels Waren. Nachworte von Bertram Schefold (1976 [Erstveröffentlichung 1960]), Suhrkamp-Verlag Frankfurt/Main

Literatur

  • Freeman, Alan (1996): Price, value and profit - a continuous, general, treatment in: Freeman, Alan und Carchedi, Guglielmo (Hrsg.) "Marx and non-equilibrium economics". Edward Elgar, Cheltenham, UK, Brookfield, US
  • Helmedag, Fritz (1994): Warenproduktion mittels Arbeit, Metropolis-Verlag, Marburg.

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