- Stare decisis
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Stare decisis [ˈstaːre deːˈkiːsiːs], Lateinisch für „bei früheren Entscheidungen bleiben“, ist ein wichtiges Konzept in der Justiz, insbesondere in dem vom sogenannten Fallrecht dominierten anglo-amerikanischen Rechtskreis. Dort darf ein Richter ein früheres Präzedenzurteil nur dann umstoßen, wenn signifikante Unterschiede der zu beurteilenden Sachverhalte vorliegen.
Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis sind Richter nicht gesetzlich verpflichtet, sich an frühere Prinzipien und Überlegungen zu binden (freie Interpretation des Gesetzes), stare decisis wird jedoch als wichtiger Grundsatz erachtet, weil es die Entscheidungen von Richtern verlässlich und voraussagbar machen soll.
Horizontales stare decisis
Das horizontale stare decisis besagt, dass ein Gericht im Sinn und Geist seiner früheren Urteile handeln muss. Zum Beispiel ist ein Dieb, der eine hohe Geldsumme gestohlen hat, in einem, fünf oder zehn Jahren immer noch zu einer gleich langen Gefängnisstrafe zu verurteilen, außer es treten signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Diebstählen auf, wie zum Beispiel unterschiedliche kriminelle Energie oder Gewaltanwendung des Täters.
Vertikales stare decisis
Diese Variante sagt, dass ein Gericht tieferen Ranges (z. B. ein Amtsgericht) den Sinn der Präzedenzurteile eines höheren Gerichts (also etwa ein Bundesgericht oder Verfassungsgericht) befolgen muss, weil bei einem Verstoß gegen das stare-decisis-Prinzip das Urteil häufig angefochten wird. So hat dann das höherrangige Gericht in horizontaler stare decisis zu entscheiden.
Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis ist ein Gericht grundsätzlich frei, seinen Entscheidungen eine Rechtsauffassung zugrunde zu legen, die der der höheren Gerichte widerspricht. Etwas Anderes gilt nur dann, wenn ein Urteil vom Obergericht aufgehoben und an die Vorinstanz zurückverwiesen wurde. Diese ist dann - allerdings nur in dem zurückverwiesenen Fall - an die Rechtsauffassung des Obergerichts gebunden.
Trotz der grundsätzlichen Freiheit bei der Interpretation der Gesetze orientieren sich jedoch auch im kontinentaleuropäischen Rechtskreis Gerichte faktisch weitgehend an höchstgerichtlichen Urteilen.
Grenzen des stare decisis
Es treten zwei größere Probleme auf bei der Umsetzung des stare decisis. Erstens können Richter – und auch Anwälte – kleine Differenzen zu einem Präzedenzfall als signifikant erachten. Dies resultiert dann in einer Fülle von gleichberechtigten „Präzedenzurteilen“, die dann die Prognose eines Gerichtsfalles erschweren.
Ein zweites Problem sind sozusagen „historische“ Präzedenzfälle. Bei stare decisis haben sich Gerichte an Grundsätze zu halten, die sie vor mehr als hundert Jahren erstellt haben, aber gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel ändert – rein theoretisch – nichts am Wortlaut einer Urteilsbegründung oder eines Gesetzes. Ein klassisches Beispiel ist, vereinfacht dargestellt, das Second Amendment der amerikanischen Verfassung und seine Auslegung in Gerichtsfällen: Sie gibt dem Volk bzw. den damaligen Milizen das Recht auf Besitz und Tragen von Waffen. Ein damaliger Waffenbesitzer konnte sicher nicht wegen unerlaubtem Besitz einer Waffe verurteilt werden, da es dazumalst nur primitive Vorderlader-Gewehre gab. Die Frage ist nun: Stellt heute eine automatische Maschinenpistole einen signifikanten Unterschied zur damaligen Lage dar, oder sind alle Waffen gemäß dem wortwörtlichen Sinn des Second Amendment gleich zu behandeln?
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