- Stiefographie
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Die Stiefografie, auch Stiefo und Rationelle Stenografie genannt, ist ein Stenografiesystem, das von dem Presse- und Parlamentsstenografen Helmut Stief (1906–1977), der selber 480 Silben pro Minute schrieb, nach rationellen Gesichtspunkten in acht Jahren Kleinarbeit entwickelt wurde. Es wird seit Anfang der 1960er Jahre veröffentlicht. Diese Kurzschrift soll laut Stiefs Aussagen in einem Viertel der Zeit erlernbar sein, die für das Erlernen der Deutschen Einheitskurzschrift nötig wäre, da die Stiefografie wesentlich weniger Zeichen, Regeln und Merkpunkte sowie in der Grundschrift keine Kürzel für häufige Silben und Wörter aufweist.
Inhaltsverzeichnis
Mitlautdarstellung
Die „Rationelle Stenografie“ hat nur 24 Zeichen für Konsonanten und Konsonantenverbindungen (Deutsche Einheitskurzschrift 56 Zeichen, Stolze-Schrey 44 Zeichen). Bei der Entwicklung wurden nach Angaben des Erfinders über eine Million Silben ausgezählt, um die Häufigkeit eines jeden Konsonanten am Anfang, in der Mitte und am Ende des Wortes zu ermitteln. Nach diesen Ermittlungen wurden die am leichtesten zu schreibenden und somit schreibflüchtigsten Zeichen den häufigsten Mitlauten zugewiesen. Beispiel: Der Mitlaut d ist in der deutschen Sprache der häufigste Konsonant am Anfang eines Wortes; über 80 Prozent aller d stehen am Wortanfang. So wies Stief dem d das sehr leicht zu schreibende Zeichen zu, das in der Einheitskurzschrift für die Vorsilbe „ver“ verwendet wird. Der Konsonant v hat kein eigenes Zeichen, sondern wird je nach Aussprache entweder als f oder als w dargestellt. Auch für c und y gibt es keine eigenen Zeichen. Sie werden ebenfalls rein phonetisch dargestellt, nämlich als k oder z für c und als i, j oder ü für y. Den sehr seltenen Mitlauten x und qu sind ebenfalls keine eigenen Zeichen zugewiesen. Sie werden durch die Schreibung von ks bzw. kw wiedergegeben. Eigene Mitlautfolgezeichen gibt es für ch, nd = nt, ng = nk, pf, sch, sp und st. Sie dürfen bei der Verbindung von Vorsilben mit dem Wortstamm und bei Wortzusammensetzungen nicht benutzt werden. Bei Konsonantenverbindungen, für die kein eigenes Zeichen vorgesehen ist, werden die Mitlaute zur Unterscheidung der Selbstlautdarstellung für e ganz eng aneinander gefügt. Das nicht hörbare tonlose Dehnungs-h wie zum Beispiel h im Wort „Reh“ entfällt auch, wenn es am Ende eines Wortstammes steht. Das ck wird durch k und tz wird durch z wiedergegeben. Die Mitlautverdopplung entfällt im Gegensatz zur Deutschen Einheitskurzschrift und zum System Stolze-Schrey, wo l, r, und s (bei Stolze-Schrey noch weitere Mitlaute) verdoppelt dargestellt werden, in der Stiefografie vollständig. Bei Verwechslungsgefahr bestimmter Wörter werden Doppelmitlaute durch einen waagrechten Strich über dem Konsonanten angedeutet. Auf diese Weise können bei Notwendigkeit auch v, nk und nt von f, w, ng und nd unterschieden werden. Sämtliche Mitlaute und Mitlautfolgezeichen haben nur zwei Zeichengrößen (Deutsche Einheitskurzschrift fünf Zeichengrößen) und sind höchstens eine Stufe groß (Buchstabengröße zum Beispiel von m oder r in der Langschrift). Unter- und Oberlängen entfallen ganz. Ganzlängen, also dreistufige Zeichen, sind erst in der Aufbauschrift zu finden.
Selbstlautdarstellung
Die Vokale werden am folgenden Konsonantenzeichen durch enge und weite Verbindung sowie durch Neben-, Höher- oder Tieferstellung des folgenden Mitlautes angedeutet. Die Stiefografie kommt mit nur acht Selbstlautdarstellungen aus (Deutsche Einheitskurzschrift und Stolze-Schrey je elf). Verstärkungen durch Druck wie in vielen anderen Systemen gibt es im Kurzschriftsystem von Helmut Stief keine, da diese – vor allem auch bei der Verwendung des Kugelschreibers – für die meisten Schreiber hinderlich und schreibhemmend sind. Um diese fehlenden Symbolisierungsmöglichkeiten auszugleichen, werden die Sinnbilder für ä, au und ü durch e, u und i ersetzt. Folglich weisen e und ä (enge Verbindung), u und au (weite Verbindung), i und ü (enge Verbindung und halbstufige Tiefstellung) sowie eu und äu (weite Verbindung und ganzstufige Hochstellung) die jeweils gleiche Darstellung auf. Bei Verwechslungsgefahr werden dann ä, ü und au von e, i und u durch einen untergesetzten Punkt unterschieden. Weitere Selbstlautsymbole: a wird durch enge Verbindung und halbstufige Hochstellung, o durch weite Verbindung und halbstufige Tiefstellung, ö durch enge Verbindung und einstufige Hochstellung und ei durch weite Verbindung und halbstufige Hochstellung dargestellt. Wenn zwei Selbstlaute unmittelbar aufeinander folgen, wird der erste durch ein sogenanntes Vokalzeichen (Form entspricht halbstufigem w in der Deutschen Einheitskurzschrift) dargestellt. Steht ein Selbstlaut am Wortanfang, beginnt das Wortbild auf der Grundlinie. Am Wortende werden die Selbstlaute jeweils buchstäblich als eigene Zeichen mittels Auf- und Flachstrichen von verschiedener Länge geschrieben.
Einteilung des Systems
Die „Rationelle Stenografie“ ist in die Grundschrift, die Aufbauschrift I und die Aufbauschrift II unterteilt. Die Grundschrift, die als Notizschrift konzipiert und eine Verdopplung bis Verdreifachung der Schreibgeschwindigkeit ermöglichen soll, hat keine Kürzel, das heißt keine eigene kurze Zeichen für die häufigsten Wörter der deutschen Sprache. Dieses Fehlen soll im Vergleich zu anderen Kurzschriftsystemen durch die graphisch durchweg sehr kleinen und kurzen Mitlaut- und Mitlautfolgezeichen, die höchstens eine Stufe einnehmen, ausgeglichen werden.
Die Aufbauschrift I soll eine vierfache Schreibgeschwindigkeit im Vergleich zur herkömmlichen Langschrift ermöglichen, also bis etwa 160 Silben pro Minute. Es werden 54 Kürzel für etwa 70 häufig vorkommende Wörter und Silben (zum Beispiel Artikel, Pronomen, Präfixe, Suffixe) verwendet. Dabei weisen etliche Kürzel - wie auch bei der Vereinfachten Kurzschrift Schultz und der Deutschen Euro-Steno - die gleiche Form für phonetisch gleich oder ähnlich klingende Wörter unabhängig von der Wortart oder Sinnbedeutung auf (zum Beispiel da/dar, man/Mann/mahn, für/führ, war/wahr/Ware). Die gleiche Kürzelform wird auch für verschiedene Konjugationen des gleichen Wortes verwendet (zum Beispiel hab/hast/hat, wird/wirst). Den Charakter der Aufbauschrift bestimmen die Grund-, Hoch- und Tiefstellung unter Berücksichtigung der Selbstlautsymbole. Beispielsweise wird das stiefografische n (gleiches Zeichen wie das k in der Deutschen Einheitskurzschrift) in der Grundstellung für „den“, in der Tiefstellung für „nicht“ und in der Hochstellung für „man“, „Mann“ und „mahn“verwendet. Entbehrliche Silben und Laute wie beispielsweise „en“ bei Verben sowie weitere Flexionsendungen, unter anderem auch bei Substantiven und Adjektiven, werden weggelassen.
Eine Besonderheit im Vergleich mit anderen Kurzschriftsystemen sind die dreistufigen Kürzel, die sich jeder Anwender speziell für seinen eigenen Bedarf und Fachwortschatz bilden kann. So kann zum Beispiel das dreistufige m bei einer Behörde „Minister“, bei einer Möbelfabrik „Möbel“, im juristischen Bereich „Mandant“ oder in der Theologie „Matthäusevangelium“ bedeuten. Durch Hinzufügung der buchstäblichen Selbstlautzeichen am Kopf oder Fuß des dreistufigen Mitlautzeichens kann eine große Anzahl weiterer Wortbedeutungen abgedeckt werden.
Für sehr hohe Schreibgeschwindigkeiten über 160 Silben pro Minute hinaus ist die Aufbauschrift II ausgearbeitet. Sie stellt weitere 120 wahlfreie Kürzel sowie weitere Kürzungsregeln zur individuellen Anwendung und Steigerung der Schreibgeschwindigkeit zur Verfügung. Der Lernende kann sich auswählen, was er wirklich braucht.
Links-Stenografie
Eine Besonderheit unter allen bekannten Stenografiesystemen ist die Entwicklung einer Stenografie speziell für Linkshänder. Der Grafiker und Handelsreisende Dieter Wilhelm Dominik aus Düsseldorf veröffentlichte 1977 die Grundschrift und die Aufbauschrift „Links-Steno“ als Stiefografie-Variante. Bei dieser Anpassung für Linkshänder sind die Schriftzeichen und Schreibregeln mit dem Stiefografiesystem identisch. Das Schriftbild wird jedoch gespiegelt dargestellt. Die Textzeilen werden von rechts nach links geschrieben und gelesen, was dem natürlichen Bewegungsablauf von Linkshändern entgegenkommen soll. Folglich sollen auch Linkshänder die Kurzschrift ohne Nachteile gegenüber Rechtshändern nutzen können.
Verbreitung
Am 2. April 1973 wurde im Hanauer Stadtteil Großauheim der erste Stenografenverein für Stiefografie gegründet. Die Vereinigung Rationelle Stenografie e. V. bietet bis heute Schriftfernkurse und Lehrbücher an. Dieses Stenografiesystem wurde und wird vor allem an Volkshochschulen unterrichtet; z. Z. wird es auch an den Volkshochschulen in Dingolfing und Straubing angeboten. Viele Jahre fanden auch an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Lehrgänge statt. Insgesamt gesehen wurde es nach 1980 stiller um die Stiefografie, was sicherlich dem generellen Rückgang des Interesses an Stenografie zuzuschreiben ist.
Literatur
- Brandenburg, Josef: Welche Bewandtnis hat es mit der Stiefografie?, in: Deutsche Stenografenzeitung 10/1976, S. 205–211
- Dominik, Dieter Wilhelm, u. a.: Links-Stenografie für die Deutsche Sprache. Erster Teil: Grundschrift, Hanau 1977
- Ders.: Links-Stenografie für die Deutsche Sprache. Zweiter Teil: Aufbauschrift, Hanau 1977
- Gunkel, Horst: Rationelle Stenografie. Anleitung zum Selbststudium, Hanau 2004
- Ders., u. a.: Rationelle Steno. Aufbauschrift II, Hanau 1981, 2. Auflage
- Kaden, Walter: Neue Geschichte der Stenographie. Von der Entstehung der Schrift bis zur Stenographie der Gegenwart, Dresden 1999
- Karpenstein, Hans: Was ist „Stiefografie“?, in: Der Stenografielehrer. Wissenschaftliche Monatsschrift zur Förderung des Unterrichts in Kurzschrift, Maschinenschreiben und verwandten Gebieten 5/1966, S. 115–118
- Köster, Rudolf: Eigennamen im deutschen Wortschatz. Ein Lexikon, Berlin 2003 - enthalten ist das Eponym „Stiefografie“
- Mentz, Arthur, u. a.: Geschichte der Kurzschrift, Wolfenbüttel 1981, 3. Auflage
- Moser, Franz, u. a.: Lebendige Kurzschriftgeschichte. Ein Führer durch Kurzschriftlehre und Kurzschriftgeschichte, Darmstadt 1990, 9. Auflage
- Stief, Helmut: Rationelle Stenografie. Aufbauschrift I, Hanau 2006, 22. Auflage
- Ders.: Stiefografie, das Kurzschriftalfabet der deutschen Sprache. Lernanweisung für die Grundschrift, Frankfurt am Main 1975, 27. Auflage
Weblinks
- Lehrbücher, Stiefografie-Schnuppertest und weitere Informationen bei der Vereinigung Rationelle Stenografie e. V.
- Weitere Veröffentlichungen von Helmut Stief bei der Deutschen Nationalbibliothek
- Kampf um Krakel, in: DER SPIEGEL 45/1966 (31.10.1966), S. 174; u. a. auch zur Stiefografie
- Stenografie für Linkshänder, in: Hamburger Abendblatt 300/1976 (24.12.1976), S. 22; u. a. auch zu Helmut Stief und zur Stiefografie
- Artikel im Eponyme-Lexikon von Rudolf Köster: Eigennamen im deutschen Wortschatz. Ein Lexikon, Berlin 2003
- Artikel im DUDEN. Das große Fremdwörterbuch, Mannheim 2007, 4. Auflage
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