Stimmbildung (Gesang)

Stimmbildung (Gesang)

Die Stimmbildung hat im Gesang die Ausbildung einer gesunden, tragfähigen klassischen Singstimme zum Ziel. Sie wird von Gesangspädagogen unterrichtet und deshalb auch mit dem Begriff Gesangspädagogik bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Stimmbildnerische Ziele

Grundvoraussetzung für eine Gesangsausbildung ist eine gesunde und belastbare Stimme. Gefordert wird eine ökonomische Atmung mit richtigem Stimmansatz.

Erforderlich ist eine lockere Hals- und Kiefermuskulatur. Die Hals- Nacken- und Kiefermuskulatur beeinflusst den an Muskelsträngen aufgehängten Kehlkopf direkt. Ohne lockere Halsmuskulatur kommt es leicht zu Heiserkeit. Die Muskeln sollen frei von Spannungen, beweglich und flexibel im Kiefergelenk sein.

Die Textverständlichkeit stellt Sänger immer wieder vor Probleme, da sie in Konflikt zum optimalen Stimmklang zu stehen scheint. Für eine plastische Artikulation werden Übungen zur Beweglichkeit von Kiefer, Zunge und Lippen verwendet.

Die sogenannte Atemstütze ist ein Zusammenspiel von Zwischenrippenmuskeln, Bauchmuskulatur und Zwerchfell. Das Zwerchfell ist nicht bewusst zu steuern. Sie ist essentiell, um Heiserkeit zu vermeiden. Heute rückt man allgemein von dem Begriff der Stütze ab, da sie etwas Starres, Unflexibles suggeriert. Dabei spielen eine möglichst genau steuerbare Bauchmuskulatur und Zwischenrippenmuskeln eine entscheidende Rolle, um den Atem regulieren zu können.

Leichte, gestützte und flüssige Koloraturen mit klaren Tonfolgen sind ebenso ein Ziel der Gesangsausbildung.

Ein wichtiges Ziel ist die Erweiterung des Stimmumfangs und der Registerausgleich. Der deutlichste Unterschied zwischen einer geschulten und einer ungeschulten Stimme besteht neben dem veränderten Stimmklang im erweiterten Stimmumfang. Ein Umfang von mehr als zwei Oktaven sind für Berufssänger normal. Dabei soll die Stimme möglichst gleichmäßig und unmerklich ohne Brüche von der Tiefe in die Höhe übergehen. Der klassische Gesang sieht hierfür als Ideal das Einregister vor. Dabei wird die Kopfstimme in möglichst alle Bereiche der Stimme hineingemischt. Im Gegensatz dazu steht die Gesangskultur des Belting, die von der Bruststimme ausgeht und einen möglichst großen Bereich der Stimme in dieser Klangfarbe hält.

Relativität der Methoden

Im geschichtlichen Verlauf der Gesangspädagogik sind verschiedenste Methoden zur Gesangsausbildung entstanden. Jede Methode setzt eigene Schwerpunkte und wendet verschiedene Wege an, um die beschriebenen Ziele zu erreichen. Die Anwendbarkeit verschiedener Modelle ist von der individuellen Disposition des Sängers, seinem Leistungsstand, dem Alter, der Einstellung zum Singen und anderen Faktoren abhängig. Eine allgemeingültige Methode zur Erreichung der perfekten Stimme gibt es daher nicht.

Als Funktionale Stimmbildung wird die Richtung der Gesangsbildung bezeichnet, die ihre Schüler über die physischen Zusammenhänge der Stimme und des Körpers aufklärt. Die Stimmbildner gehen von den biologischen Gegebenheiten der Stimme aus, um deren Entwicklung zu fördern. Die zwei Hauptrichtungen der funktionalen Stimmbildung sind das Lichtenberger Institut und das Rabine-Institut. Andere Richtungen der Stimmbildung wenden sich gegen diese Methode. Sie plädieren für die Aktivierung von Vorstellungen, die Veränderungen bewirken sollen (z.B. Bilder wie „an einer Blume riechen“, „über das Wasser laufen“).

In den letzten Jahren wurden Unterrichtsmethoden mit Unterscheidung und Berücksichtigung verschiedenen Atemtypen entwickelt. Nach dieser Theorie gibt es verschiedene Typen, und zwar Rippen- und Zwerchfell-Flankenatmung-dominiertes Atemverhalten, die als „Ein- und Ausatmer“ bezeichnet werden. Für jeden Typus sind Fragen der präferierten Ein- oder Ausatmung, von Pausen, Körperhaltung u.a. anders zu beantworten.

In einem neu formulierten Ansatz zur sängerischen Stimmbildung, der im Buch "Singen lernen mit dem Computer" vorgestellten "M.O.V.E.-Technik", stellt der österreichische Musikpädagoge und Physiker Josef Pilaj offensichtlich eine Verbindung zur Alexander-Technik her, wobei durch Computerfeedback die akustische Effizienz der Gesangstechnik objektiviert werden kann.

Künstlerische Ziele

Sänger sollen das präzise wiedergeben, was in den Noten steht. Dazu müssen sie den Notentext verstehen und ihn sich auch selbst erarbeiten können. Die Abstimmung zwischen Begleiter und Sänger ist ebenfalls wichtig.

Die Nachschöpfung eines Kunstwerkes steht im Mittelpunkt interpretatorischer Fragen. Sänger sollen den Inhalt ihrer gesungenen Werke verstehen, auch wenn sie fremdsprachig sind, und den enthaltenen Gefühlsausdruck möglichst authentisch nach außen vermitteln, ohne dabei den Stimmklang zu trüben. Für Opernsänger werden Fragen von Mimik und Gestik vor allem auf der Bühne zentral.

Neben den stimmbildnerischen und künstlerischen Zielen soll der singende Mensch auch eine Anzahl von Liedern und Arien kennenlernen, die zum klassischen Kanon gehören und oft gesungen werden. Im Fall von fortgeschrittenen Opernstudenten wird schrittweise ein Repertoire aufgebaut, das aus verschiedenen Bühnenrollen ihrer persönlichen Stimmlage entspricht, mit dem sie sich z. B. an Musiktheatern als Opernsänger bewerben können.

Persönlichkeitsbildung

Eine Gesangsausbildung erfordert vom Schüler Selbstdisziplin wie jeder andere Instrumentalunterricht auch. Um das Gelernte nicht zu vergessen, ist regelmäßige Übung nötig. Sie stärkt das Selbstbewusstsein und den Kontakt zu den eigenen Gefühlen, da die Muskulatur direkt auf emotional verursachte Körperspannungen reagieren soll, die zum Singen benötigt wird. Eine gesunde Selbsteinschätzung ist Voraussetzung für gesundes Singen.

Chorische Stimmbildung

Die chorische Stimmbildung ist im Sinne der Stimmbildung ein Sonderfall. Auf der einen Seite sind hier auch idealerweise alle Regeln und Ziele der hier beschriebenen individuellen Stimmbildung zu beachten - auf der anderen Seite steht diesem ein gänzlich anderes Ziel – nämlich die klangliche Einheit eines Chores – gegenüber. Während persönliche Stimmerkmale im Chor schlichtweg unerwünscht sind (z. B. übermäßiges Vibrato), steht vor allem die Anpassungsfähigkeit der Stimme im Vordergrund. Da chorische Stimmbildung aber durchgehend nur in Gruppen („Chor“) praktiziert wird, muss dieses nicht zwingend einer individuellen Stimmbildung widersprechen, auch wenn es manchmal zu Interessenskonflikten kommt.

Siehe auch

Literatur

  • Gerhard Faulstich: "Singen lehren - Singen lernen". Forum Musikpädagogik Bd. 24, Sechste, korr. Auflage. Wißner Verlag Augsburg 2010
  • Romeo Alavi Kia, Renate Schulze-Schindler: Sonne, Mond und Stimme. Atemtypen in der Stimmentfaltung. Aurum, Bielefeld 2003, ISBN 3-89901-349-2.
  • Franz Brandl: Die Kunst der Stimmbildung auf physiologischer Grundlage. Eigenverlag, München 2001, ISBN 3-000-08593-9.
  • Wilhelm Ehmann, Frauke Haasemann: Handbuch der chorischen Stimmbildung. Bärenreiter, Kassel 1984, ISBN 3-7618-0691-4.
  • Uta Feuerstein: Stimmig sein. Junfermann, Paderborn 2001, ISBN 978-3-87387-435-0.
  • Peter-Michael Fischer: Die Stimme des Sängers. Analyse ihrer Funktion und Leistung - Geschichte und Methodik der Stimmbildung. Metzeler, Stuttgart 1998, ISBN 3-476-01604-8.
  • Gerd Guglhör: Stimmbildung im Chor. Systematische Stimmbildung. Helbling, Rum/Innsbruck, Esslingen 2006, ISBN 3-85061-309-7.
  • Frederick Husler, Yvonne Rodd-Marling: Singen. Die physische Natur des Stimmorgans - Anleitung zum Aufschliessen der Singstimme. 12. Auflage. Schott Verlag, Mainz 2006, ISBN 3-7957-0066-3.
  • Anno Lauten: Stimmtraining-live. Haufe, Planegg 2006, ISBN 978-3-448-07279-2.
  • Cornelius L. Reid: Funktionale Stimmentwicklung. 3. Auflage. Schott, Mainz 2005, ISBN 3-7957-8723-8.
  • Josef Pilaj: "Singen lernen mit dem Computer: Über Anwendung und Nutzen neuer Feedbackmöglichkeiten in Stimmbildung und Gesang." Forum Musikpädagogik, Band 97 (Hrsg. Kraemer, Rudolf-Dieter), Wißner, Augsburg 2011, ISBN 978-3-89639-779-9.

Weblinks


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