Temperenzbewegung

Temperenzbewegung

Die Abstinenzbewegung (auch Temperenz- oder Temperanzbewegung) ist eine soziale Bewegung, die vor allem Ende des 19. bis Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt hatte. Politisch und praktisch aktiv wird die Abstinenzbewegung mithilfe so genannter Abstinenzvereine (Temperanzgesellschaften), die für ein drogenabstinentes Leben eintreten.

Inhaltsverzeichnis

Ursprünge

In Irland bildete sich die erste Abstinenzbewegung 1829. Seit den 1830er Jahren verbreitete sich die Idee von Skandinavien, Schottland und England ausgehend auch in Europa. 1831 wurde die British and foreign Temperance Society gegründet, die jahrelang den Mittelpunkt aller Mäßigkeitsbestrebungen in England bildete. Der Schweizer Luis-Lucien Rochat, ein freikirchlicher Pfarrer aus der Waadt, war von der englischen Abstinenzbewegung überzeugt und gründete 1877 nach ihrem Vorbild das Blaue Kreuz. 1896 wurde in Aachen der Kreuzbund von Pater Naumann gegründet, der sich damals noch als Verein zur Mäßigung des Alkoholkonsums verstand.

Weltanschaulicher Hintergrund

Die Gründe, weshalb Menschen alkoholfrei leben, sind sehr verschieden. Sie können religiöser oder politischer Natur sein. Es kann sein, dass man aufgrund direkter oder indirekter Betroffenheit von Alkoholproblemen einen alkoholfreien Lebensstil pflegt.

Temperenzler sahen im totalen Verzicht auf Alkohol einerseits einen Ansatz zur Heilung von Alkoholkranken, andererseits aber auch eine sozialreformerische Maßnahme, da sie den Alkoholkonsum als Ausdruck mangelnder Tugendhaftigkeit betrachteten, die sie wiederum für die Ursache des Elends der unteren Klassen hielten. Dadurch stand die Abstinenzbewegung der Sittlichkeitsbewegung nahe, welche eine moralische Reform der Gesellschaft anstrebte. Die Abstinenzvereine zeichneten sich deswegen auch durch ein hohes Sendungsbewusstsein gegenüber der Arbeiter- und Bauernschaft aus.

Mitte der 1880er Jahre brachte der Basler Professor Gustav von Bunge sozialhygienische Argumente in die Abstinenzbewegung ein. Durch den Alkoholkonsum werde das menschliche Erbgut geschädigt und dadurch die Volksgesundheit gefährdet. Deshalb forderte Bunge ein Alkoholverbot und Abstinenz für die gesamte Bevölkerung. Um 1900 wurde die Abstinenzbewegung zu einem Bestandteil der Eugenik und später der Nationalsozialistischen Rassenhygiene. Der wichtigste Vertreter dieser Richtung in Mitteleuropa war Auguste Forel. Der Psychiater war Mitbegründer des Schweizer Guttempler-Ordens und betrieb in Ellikon an der Thur eine Klinik für Alkoholiker; er zeichnet für viele Fortschritte in der Behandlung Alkoholkranker verantwortlich.

Ausmaß und gesellschaftlicher Einfluss

Gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte die Abstinenzbewegung zu den wichtigsten sozialen Bewegungen in Europa und den USA. In der Schweiz waren um 1900 um die 60.000 Personen in Abstinenzvereinen tätig.

Als sich nach dem Ersten Weltkrieg die Konsumgewohnheiten der Bevölkerung und die gesamtgesellschaftliche Situation änderten, verlor die Abstinenzbewegung an Bedeutung und Einfluss. 1908 stimmten noch 63 % der Schweizer Stimmberechtigten für ein Verbot des Absinths; 20 Jahre später wurde ein Volksbegehren zur Einführung der Möglichkeit der Schweizer Gemeinden, in ihrer Gemeinde die Prohibition einzuführen, mit 67 % Nein-Stimmen abgelehnt.

Der gesellschaftliche Einfluss der Abstinenzbewegung erreichte Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Die Änderungen in den Trinkgewohnheiten der Bevölkerung (weg vom Schnaps, hin zu Bier und alkoholfreien Getränken) sind zwar zum Teil dadurch zu erklären, dass Abstinenzvereine und Mediziner das Thema Alkoholkonsum und Alkoholmissbrauch öffentlich diskutierten und so die damit einhergehenden Probleme ins Bewusstsein der Öffentlichkeit brachten.

Konkrete Erfolge sind beispielsweise die Milderung des „Trinkzwangs“ in geselliger Runde (Bewusstseinsänderung) oder die Entwicklung effizienter Behandlungsmethoden für Alkoholiker und ihre Angehörigen. Die Grundlage für die Veränderung der Trinkgewohnheiten ist aber zu suchen in der Erfindung der Kältemaschine und des untergärigen Bieres, die den Bierkonsum auch außerhalb der Kneipe populär machten, sowie in gesetzlichen Maßnahmen wie der Besteuerung des Branntweins (1885 in Preußen erlassen) und Reformen zur Begrenzung der Arbeitszeit. Auch die wirtschaftlichen Interessen von Kapitalisten spielten eine wichtige Rolle: Um die Leistungsfähigkeit ihrer Arbeiter zu erhöhen und um die Unfallziffer zu senken, wurde in vielen Betrieben der Alkoholkonsum verboten und durch den Ausschank alkoholfreier Getränke in Betriebskantinen ergänzt.

Mitgliederstruktur

Wie andere gemeinnützige Vereine und die Sittlichkeitsvereine wurden die Abstinenzvereine zu großen Teilen von ihren weiblichen Mitgliedern getragen, die – in Ermangelung politischer und wirtschaftlicher Rechte – hier eine Möglichkeit fanden, außer Haus tätig zu werden und gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen. Innerhalb der Arbeiterschaft hatten Frauen außerdem ein existenzielles Interesse daran, gegen die Minderung des Einkommens und der Arbeitsfähigkeit ihrer Ehemänner durch Alkoholkonsum anzugehen.

Organisationen

Abstinenzvereine lassen sich in verschiedene Richtungen einteilen. So z. B.

Literatur

  • Blocker, Jack S. u.a. (Hrsg.): Alcohol and Temperance in History. An Encyclopedia, ABC-Clio, Santa Barbara 2003.
  • Heggen, Alfred: Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Eine Studie zur deutschen Sozialgeschichte. Mit einem Geleitwort von Wilhelm Treue. Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 64. Colloquium Verlag, Berlin 1988.
  • Hölzer, Cordula: Die Antialkoholbewegung in den deutschsprachigen Ländern (1860–1930). Frankfurt a. M. u. a. 1988.
  • Hübner, Manfred: Zwischen Alkohol und Abstinenz. Trinksitten und Alkoholfrage im deutschen Proletariat bis 1914. Dietz Verlag, Berlin (Ost) 1988.
  • Spode, Hasso: Alkohol und Zivilisation. Berauschung, Ernüchterung und Tischsitten in Deutschland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Tara-Verlag, Berlin 1991.
  • Spode, Hasso: Die Macht der Trunkenheit. Sozial- und Kulturgeschichte des Alkohols in Deutschland, Leske + Budrich, Opladen 1993.
  • van Treeck, Bernhard: Drogen- und Suchtlexikon. Lexikon-Imprint-Verlag, Berlin 2003. ISBN 3-89602-221-0
  • van Treeck, Bernhard: Drogen. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2003. ISBN 3-89602-420-5
  • Trechsel, Rolf: Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz im 19. und frühen 20. Jahrhundert. ASA, Lausanne, 1990.

Weblinks


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