Soziale Bewegung

Soziale Bewegung

Unter einer sozialen Bewegung, auch Bewegung, wird in den Sozialwissenschaften ein kollektiver Akteur verstanden, der unterschiedliche Organisationsformen umfasst, und mit unterschiedlichen Mobilisierungs- und Handlungsstrategien versucht, gesellschaftlichen Wandel zu beschleunigen, zu verhindern oder umzukehren.

Inhaltsverzeichnis

Allgemein

Soziale Bewegungen können anhand ihres Organisationsgrades, ihrer Größe, der von ihnen gewählten Strategien und ähnlicher Kriterien unterschieden werden. Die Bewegungen durchlaufen idealtypisch mehrere Phasen: erste Auseinandersetzungen mit dem Problem, Thematisierung (meistens vor allem Ablehnung des Bestehenden), Formierung von Initiativen, Gruppen und Verbänden wobei es zu Kooperationen, Allianzen aber auch Gegnerschaft kommt, eine Vielfalt von demonstrativen Akten, oftmals symbolischen, aber auch konkreten direkten Aktionen; mitunter treten mehr oder weniger charismatische Anführer auf, Alternativen zum Bestehenden werden entwickelt, die Etablierung im Alltag angestrebt. Schließlich folgt eine langsame Auflösung der sozialen Bewegung, entweder, weil das Problem zufriedenstellend gelöst ist, weil es zumindest gesellschaftlich allgemein als wichtiges Problem anerkannt ist, oder weil andere Problemdeutungen dominant wurden.

Typisch an einer sozialen Bewegung ist, dass zunächst sehr offene informelle Organisationsformen vorherrschen. Im Allgemeinen beginnen bald nach dem Entstehen einer Bewegung die Menschen damit, Strukturen zu schaffen (Vereine, Initiativen, u. ä.) Im weiteren Verlauf geschieht es oft, dass die Bewegung aus den Köpfen und Herzen der Menschen verschwindet oder nicht mehr wahrgenommen wird, während Strukturen und Formen, die sich daraus entwickelt haben, weiter existieren und wirken. Oftmals wird dies als Tod einer Bewegung und Aufgabe der ursprünglichen Ziele verstanden. In diesem Zusammenhang wird an einigen Stellen auf die Notwendigkeit von Visionen und Träumen einer sozialen Bewegung als deren Beweggrund und antreibende Kraft hingewiesen.[1]

Die Etablierung neuer Strukturen und der Wandel alter differenziert eine soziale Bewegung: Radikalere werfen Gemäßigteren Karrierismus oder gar Verrat vor, Gegenvorwürfe sind Utopismus oder gar diktatorischer Ehrgeiz. Dabei tritt zurück, dass ein Wandel der etablierten Strukturen das einigende Ziel war. Allerdings gehen beim Eintritt in die Realpolitik oft große Anteile der ursprünglichen Zielvorstellungen verloren, Kompromisse werden eingegangen und die Pluralität, die Bewegungen in ihren aktivsten Phasen kennzeichnet, lässt sich institutionell nicht oder nur schlecht beibehalten.

Erwähnenswert ist hier der in den USA von Bill Moyer (1933–2002) entwickelte Aktionsplan (Movement Action Plan, MAP), der mit politischen Zielen einen idealtypischen Verlauf von sozialen Bewegungen entwirft. Im Übrigen liegen für die Entstehung und den Verlauf von Revolutionen (siehe dort) mindestens seit Crane Brinton (The anatomy of revolution, 1938, ²1965) mehrere einschlägige analytische Typisierungsversuche vor.

Historische und aktuelle Beispiele

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren in Deutschland politische Parteien und Organisationen wie z.B. Gewerkschaften, Verbände (va. Kriegsheimkehrer, Vertriebene) die zentralen Protestakteure. Bei den sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen liegt seit den 1980er Jahren (ausgehend von Europa) der Schwerpunkt auf der Identitätsproblematik. Mit der Identitätsproblematik treten expressive Aspekte von Protest in den Vordergrund. Der Begriff neue soziale Bewegungen (siehe dort) markiert also einen Shift von sozialen und politischen zu identitätspolitischen Protestmotiven. Also zu auch zu Bewegungen, die ihre politischen Ziele mit Lebensstilen und Werten verbinden. Proteste sind hier an kollektive Identitätsmuster gekoppelt, die auf eine Verteidigung bzw. Verbesserung individueller Lebensformen abzielen.

Im 19. und 20. Jahrhundert wären beispielsweise zu nennen:

Als neue soziale Bewegungen wären beispielsweise zu nennen:

Neuartig sind in den Industrieländern (z.B. Europäische Union, Israel, USA) politische Seniorenaktivitäten seit den 1990ern mit der Zielsetzung Einkommen und Gesundheitsversorgung im bedeutender werdenden Lebensabschnitt Alter zu sichern.

Forschung

Die soziale Bewegungsforschung untersucht:

  • politische Prozesse und ihre Akteure
  • soziale Voraussetzungen
  • organisatorische Verfasstheit sozialer Bewegungen
  • gesellschaftliche Auswirkungen des Handelns politischer Akteure

Literatur

  • Steven M. Buechler: Social movements in advanced capitalism. The political economy and cultural construction of social activism, Oxford University Press, New York [u.a.] 2000
  • Susan Eckstein (Hgn.): Power and Popular Protest. Latin American Social Movements, University of California Press, ²2001, ISBN 0-520-22705-0
  • Donatella Della Porta / Hanspeter Kriesi / Dieter Rucht (Hgg.): Social Movements in a Globalizing World. Macmillan Press Ltd., London / Hampshire u. a. 1999
  • Robert Foltin: Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich, Ed. Grundrisse, Wien 2004, ISBN 3-9501925-0-6, online: [1]
  • Jo Freeman / Victoria Johnson (Hgg.): Waves of Protest. Social Movements Since the Sixties, Rowman & Littlefield Publishers, Lanham u. a. 1999
  • Rudolf Heberle: Social Movements. An Introduction to Political Sociology, (1951), ²1970 (dt.: Hauptprobleme der Politischen Soziologie, 1967)
  • Thomas Kern: Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008
  • Jürgen Mittag / Georg Ismar (Hgg.): ¿"El pueblo unido"? Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Geschichte Lateinamerikas, Westfälisches Dampfboot, Münster 2009,ISBN 978-3-89691-762-1
  • Immanuel Ness (Hg.): Encyclopedia of American Social Movements. 2004, ISBN 0-7656-8045-9
  • Joachim Raschke (Hg.): Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss, Campus Frankfurt am Main / New York 1985
  • Roland Roth / Dieter Rucht (Hgg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Campus-Verlag, Frankfurt am Main / New York 2008, ISBN 978-3-593-38372-9 (Weblink: Rezension/Kritik zum Buch auf Analyse & Kritik - akweb.de)
  • Dieter Rucht / Friedhelm Neidhardt: Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen, in: Hans Joas (Hg.): Lehrbuch der Soziologie, Campus, Frankfurt a. M. ²2003
  • Charles Tilly: Social Movements, 1768–2004. Pluto Press, 2004, ISBN 1-59451-043-1

Einzelnachweise

  1. Brigitte Rauschenbach, 2008, Gleicheit, Differenz, Freiheit? Bewusstseinswendung im Feminismus nach 1968, in: gender politik online abgefragt am 27. August 2009.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Neue soziale Bewegung — Als Neue Soziale Bewegungen werden gesellschaftliche Strömungen und Gruppierungen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bezeichnet, die auf eine Reform der als starr empfundenen gesellschaftlichen Normen und Prozesse zielten und diese außerhalb …   Deutsch Wikipedia

  • Weltbürgerschaft (Soziale Bewegung) — Weltbürgerschaft ist ein philosophisch politisches Konzept, das Nationalstaaten übergreifend weltweit Globale Soziale Rechte verbürgt sehen möchte. Inhaltsverzeichnis 1 Vertreter 2 Forderungen 3 Siehe auch 4 Literatu …   Deutsch Wikipedia

  • Europäische Soziale Bewegung — Die Europäische Soziale Bewegung war ein 1951 in Malmö (Schweden) gegründetes paneuropäisches rechtsextremes Netzwerk. Sie war der erste Versuch von Neonazis, sich nach dem verlorenen Weltkrieg auf europäischer Ebene neu zu organisieren.… …   Deutsch Wikipedia

  • Deutsch-Soziale Bewegung — Deutsch Soziale Bewegung, kurz DSB war der Name einer politischen Gruppierung in Deutschland. Sie hatte ihren Sitz in Wiesbaden und existierte zwischen 1951 und 1967. Gründer und Vorsitzender war Karl Heinz Priester. Geschichte Priester wurde… …   Deutsch Wikipedia

  • Städtische soziale Bewegung — Städtische soziale Bewegungen oder städtische Bewegungen sind soziale Bewegungen, die einen festen räumlichen Bezug auf eine Stadt haben.[1] Genauere Eingrenzung Darüber hinaus zeichnet sich diese Art der sozialen Bewegung durch drei Merkmale aus …   Deutsch Wikipedia

  • Häuserkampf (Soziale Bewegung) — Besetztes Haus in Stuttgart (2005) Eine Hausbesetzung ist die Inbesitznahme leerstehenden Wohnraums gegen oder jedenfalls ohne Berücksichtigung des Willens des Eigentümers. Besetzte Häuser werden in einigen Ländern, z. B. Frankreich, England,… …   Deutsch Wikipedia

  • Bewegung — steht für: Bewegung (Physik), in der Physik die Ortsveränderung mit der Zeit Bewegung (Mathematik), eine affine Drehung oder Drehspiegelung im Raum Fortbewegung, Lokomotion, die Ortsveränderung von Lebewesen Motorik, die innere Bewegungsfähigkeit …   Deutsch Wikipedia

  • Soziale Frage — Der Begriff Soziale Frage bezeichnet die Auseinandersetzung mit den sozialen Missständen, die mit der Industriellen Revolution einhergingen[1], das heißt mit dem Übergang von der Agrar zur sich urbanisierenden Industriegesellschaft auftraten. In… …   Deutsch Wikipedia

  • Soziale Probleme — Der Begriff Soziale Frage bezeichnet die Auseinandersetzung mit den sozialen Missständen, die mit der Industriellen Revolution einhergingen, das heißt mit dem Übergang von der Agrar zur sich verstädternden Industriegesellschaft auftraten. In… …   Deutsch Wikipedia

  • Bewegung der Indigenen in Ecuador — Als Indigene Bewegung in Ecuador (spanisch Movimiento Indígena) bezeichnet man die gemeinsame politische und gesellschaftliche Meinungs und Forderungsartikulierung und Interessenverfolgung indigener Volksgruppen und Nationalitäten in Ecuador. Die …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”