- Tugendspiegel
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Fürstenspiegel ist ein Begriff, der durchweg unscharf verwandt wird, für ein breites Spektrum von Schriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Eine Definition nach literarischen Gattungskritierien im engeren Sinn ist nicht möglich. Sie läßt sich nur behelfsmäßig gewinnen, indem literarische und sachliche Gesichtspunkte miteinander verknüpft werden, und lautet dann: Ein Fürstenspiegel ist eine in paränetischer Absicht verfaßte Ausarbeitung, gerichtet an einen König, Fürsten oder Regenten jeweils als Person oder an einen (fiktiven) Amtsträger als Repräsentanten einer sozialen Gruppe. Sie muß abgefaßt sein als selbständiges Werk oder als abgeschlossener Teil in einem größeren Zusammenhang. Die Paränese kann sich ausdrücken in direkten Ermahnungen zur Gestaltung der herrscherlichen Ethik und Amtsführung, darüber hinaus in der Erörterung von auf den Empfänger bezogenen staats- und gesellschaftstheoretischen Zusammenhängen. Sie kann bezogen sein auf Person und Amt des Herrschers, im weiteren Sinn auf die vorgegebenen und umfassenden politischen und kirchlichen Ordnungen. Der konkrete Ort der Texte ist zwischen Sein und Sollen, mit politisch-theoretischen und staatsphilosophischen Traktaten ist ihnen die Behandlung der politischen Ethik gemeinsam.
Als Vorläufer aus der Antike sind Senecas Werk De clementia und die spiegelartige Rede Plinius des Jüngeren auf Kaiser Trajan zu nennen. Wesentliche Grundlagen waren schon voher im Altertum in der klassischen griechischen Theorie über den Staat (Aristoteles) gelegt worden, in der Spätantike wirkten die Plutarch zugeschriebene Institutio Traiani und die Schrift des Martin von Braga (Bracara) Formula vitae honestae als Vermittler. Stärkeren Einfluss als diese eher weltlich-säkular ausgerichteten Texte hatte im Mittelalter durchweg die von Bibel und Kirchenvätern (Augustinus, Gregor der Große; dazu Isidor von Sevilla) bestimmte theokratische Sichtweise, die in Gott Ursprung, Norminstanz und Ziel jeder Herrschaft sah. Sie fand ihren Niederschlag in Werken, die für die Ausbildung der Gattung wesentliche inhaltliche und formale Prägeelemente lieferten: In der irischen Schrift De duodecim abusivis saeculi (sog. Pseudo-Cyprian 7. Jahrhundert), in geistlichen Mahnschreiben der Merowingerzeit und der frühen Karolingerzeit, in Brieftexten von Zeitgenossen Karls des Großen (Cathwulf, Alkuin von York).
Den Übergang zu gestalteten und selbständigen Werken markieren Autoren des aquitanischen Raumes: Theodulf von Orléans (Ad iudices ca. 798), Smaragd von Saint-Mihiel (Via regia 811-814) mit ihren Fürstenspiegeln für Karls des Großen Sohn Ludwig den Frommen, Ermoldus Nigellus mit seinem versifizierten Spiegel für dessen Sohn Pippin (I.) (828), für beide in ihrer Funktion als Unterkönig von Aquitanien. Die über die starke biblische Fundierung und allgemeine christliche Tugendlehre hinaus markanten neuen Akzentuierungen (Gedanke der Gleichheit aller; Scheidung zwischen Amt und Person des Herrschers; Wertung des gesalbten Herrschers als vicarius Christi). bilden charakterisstisch fortentwickelte Elemente bei den weiteren aus der Karolingerzeit zu nennenden Verfassern von Fürstenspiegeln: Jonas von Orléans (829/831), Sedulius Scottus (Liber de rectoribus Christianis um 855) und Hinkmar von Reims mit verschiedenen Werken (873, 882) für seinen König Karl den Kahlen.
Im deutsch-italischen Reich des Hochmittelalters ist die Gattung zunächst nicht gepflegt worden. Eigenwillige Neuformen bieten hier im späten 12. Jahrhundert Gottfried von Viterbo und etwa ein halbes Jahrhundert später Johannes von Viterbo. Mit seinem Speculum regum für Kaiser Friedrich Barbarossas Sohn Heinrich VI. verbindet Gottfried das ansatzhaft scholastisch bestimmte Ideal des rex litteratus mit starker Legitimierung der staufischen Dynastie, die in Kontinuität zur Antike und zu Karl dem Großen gesehen ist. Im sozialen Milieu Italiens wurzelt die neue Form des Regentenspiegels, wie ihn der kaiserliche Assessor Johannes von Viterbo mit seinem Liber de regimine civitatum für die Amtsträger (Podestà) bietet (1228).
Noch stärker ausgeformt begegnen Elemente weltlicher Herrschaftssicht nach antikem Vorbild bei englischen und französischen Autoren, bei Johannes von Salisbury in seinem 1159 publizierten Werk Policraticus und in der Exegese-Ausarbetiung des Helinand von Froidmont (um 1200). In Reaktion auf die bei diesen Autoren, die selbst keine Fürstenspiegel verfaßten, entwickelten neuen Perspektiven entstanden Fürstenspiegel im Umkreis der französischen Monarchie, die sich um eine Rettung der Tradition bemmühten: die Eruditio regum et principum des Gilbert von Tournai (1259) und die Schrift De morali principis institutione des Vinzenz von Beauvais (um 1264).
Unter dem Einfluss des Aristoteles und des ursprünglich arabischen Textes [[Secretum Secretorum]] erlangte die Gattung in der Scholastik ihre Blüte. Thomas von Aquin (gest. 1274), besonders Aegidius Romanus (gest. 1316) mit dem normsetzenden Fürstenspiegel De regimine principum für den französischen Thronfolgeer Philipp den Schönen und auch Engelbert von Admont (um 1300) sind hier zu nennen.
In Byzanz hatten sich von eigenen Vorbedingungen, so dem Spiegel des Agapetos für Kaiser Justinian I. (gest. 565), her Fürstenspiegel sui generis entwickelt. Im Spätmittelalter entstanden in Skandinavien, England, Spanien und Frankreich zahlreiche nationale, auf das eigene Königreich bezogene Spiegel. Im Reich setzten die Spiegeltexte für Regenten der Territorialherrschaften ein (u. a. Philippp von Leyden ab 1355 mit seinem stark staatsrechtlich geprägten Werk De cura reipublicae et sorte principantis). Der Humanismus brachte neue Spiegel hervor. Mit der Akzentuierung des Pädagogischen, der Geschichte und der Antike wies Petrarca (1383) die Richtung. Die Spiegel kamen wieder in Verbindung zur (habsburgischen) Monarchie des Reichs. Erasmus von Rotterdam bot hier mit seiner 1516 publizierten Institutio principis Christiani die Klassisches und Christliches verbindende Klimax. Zur gleichen Zeit schuf Niccolò Machiavelli mit seinem Werk Il principe (1513, erschienen 1532) das Gegenbild zum christlich-naturrechtlichen Ideal des Herrschers. Er rief große Gegenschriften sowohl reformatorischer als auch gegenreformatorischer Autoren hervor (Innocent Gentillet 1576; Pedro de Ribadeneira 1595). War mit Machiavelli die Idee der Staatsräson beherrschend geworden, so war diese in den konfessionell bestimmten zahlreich vorhandenen Texten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts im Reich zunächst noch kaum vertreten. Reinhard Lorich (1537) und Jakob Omphalius (1550) verbanden traditionelle Herrschertugend mit neuer juristischer Verwaltungslehre. Melchior von Osse (Politisches Testament 1555/56), Georg Engelhard Löhneyß (Aulico-politica 1622/24) und Veit Ludwig von Seckendorff (Teutscher Fürstenstaat 1656) formen diese Perspektive aus.
Mit dem 17. Jahrhundert ist die Klimax der Fürstenspiegel erreicht.
Eine berühmte Ironisierung des als nicht mehr tragfähig erachteten Genres war zuletzt Christoph Martin Wielands Roman Der goldene Spiegel, oder die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte von 1772.
Literatur
- Schulte, J. Manuel: Speculum Regis. Studien zur Fürstenspiegel-Literatur in der griechisch-römischen Antike (Antike Kultur und Geschichte 3), Münster/Hamburg/London 2001, ISBN 3-8258-5249-0
- Anton, Hans Hubert: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner historische Forschungen 32), Bonn 1968
- Anton, Hans Hubert: Fürstenspiegel der frühen und hohen Mittelalters (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters - Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 45), Darmstadt 2006, ISBN-13: 978-3-534-14348-1; ISBN-10: 3-534-14348-5
- Berges, Wilhelm: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (MGH-Schriften 2), Leipzig 1938 (Ndr.)
- Singer, Bruno: Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (Humanistische Bibliothek: REihe 1, Abhandlungen 34), München 1981, ISBN 3-7705-1782-2
- De Benedictis, Angela (Hg.): Specula principum (Ius commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte - Sonderhefte - Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 117), Frankfurt a. M. 1999, ISBN 3-465-03009-5; ISSN 0175-6532
- Mühleisen, Hans-Otto, Theo Stammen und Michael Philipp (Hg.): Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 6=, Frankfurt a.M./Leipzig 1997, ISBN 3-458-16701-3
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