Urmisstrauen

Urmisstrauen

Das Urvertrauen ist ein Begriff, der in Biosoziologie, Psychologie und Psychoanalyse verwendet wird. Sein Bedeutungsumfang wie auch der Begriff selber sind häufig Gegenstand von Diskussionen.

Inhaltsverzeichnis

Begriffliche Entwicklung

Als (basic) trust führt der Freudschüler und Kinderpsychologe Erik H. Erikson das Konzept des Urvertrauens in seinem 1950 erschienen Werk Childhood and society ein. Nach Erikson erwirbt der Säugling in der ersten Lebensphase ein Grundgefühl, welchen Situationen und Menschen es vertrauen kann und welchen nicht. Es erlaubt dem Menschen, seine Umwelt differenziert wahrzunehmen und zu beurteilen und entspricht in der Gefühlsqualität der optimistischen Zuversicht des Erwachsenen im selbstvertrauenden Umgang mit der Welt. [1]

Der Soziologe Dieter Claessens hat dieses Konzept aufgegriffen und damit vornehmlich das erste Lebensjahr des Säuglings thematisiert. Es geht bei Claessens biosoziologisch darum, ob der Säugling überhaupt lernt, Vertrauen auf irgendetwas zu entwickeln (also ein künftighin wirkendes „Vertrauen in Vertrauen“). Nach ihm erwirbt jeder Mensch in der allerersten Lebenszeit (im „extra-uterinen Frühjahr“) die Grundeinstellung, dass er Situationen und Menschen vertrauen könne, oder er erwirbt sie nicht und kann sie dann im späteren Leben nicht mehr nachholen. Dieser Lebensabschnitt wird auch als seine ‚zweite‘, nämlich die „soziokulturelle“ Geburt bezeichnet. Dieses Urvertrauen - wie bei seinem Fehlen auch das Urmisstrauen - ist für alle spätere Entwicklung von Beziehungen zu anderen Menschen und für die Charakterbildung maßgeblich, einer der Grundpfeiler, auf die sich die Entwicklung und Ausprägung einer gesunden Persönlichkeit stützt.[2]

Das „Urvertrauen“ ist nicht mit dem in der Soziologie behandelten „Vertrauen“ identisch, insofern dieses vom sozialen Akteur steuerbare Handlungsalternativen voraussetzt. Es ist vielmehr die Voraussetzung seiner Entwicklung.

Kennzeichnung

Urvertrauen entwickelt sich im Kind durch die verlässliche, durchgehaltene, liebende und sorgende Zuwendung von Dauerpflegepersonen (zumeist der Eltern). Es verschafft die innere emotionale Sicherheit, die später zu einem Vertrauen in seine Umgebung und zu Kontakten mit anderen Menschen überhaupt erst befähigt. Urvertrauen ermöglicht angstarme Auseinandersetzung mir der sozialen Umwelt.

Es ist also die Grundlage für:

  • Vertrauen auf sich selbst, Selbstwertgefühl, Liebesfähigkeit („Ich bin es wert, geliebt zu werden.“ „Ich fühle mich geborgen.“),
  • Vertrauen in andere, in Partnerschaft, Gemeinschaft („Ich vertraue Dir.“ „Wir lieben uns.“, „Ich weiß mich verstanden und angenommen.“) und
  • Vertrauen in das Ganze, in die Welt („Es lohnt sich zu leben.“)

Lieblosigkeit, Vernachlässigung oder Misshandlung können zu einer mangelhaften Ausbildung des Urvertrauens führen. Hiermit können Beziehungs- und Bindungsprobleme von Menschen erklärt werden. Folgestörungen können Misstrauen, Depressionen, Angstzustände, Aggressivität u. a. m. sein. Ein erhebliches Entwicklungsdefizit äußert sich, so Erikson, bezeichnenderweise in späterer, spezifischer Verhaltensauffälligkeit: Der Mangel wird hier durch Vertrauensseligkeit überkompensiert.

Beispiele

Folgende Lebensumstände können eine ausreichende Entwicklung des Urvertrauens gefährden oder verhindern:

  • Die Trennung von der Mutter (Dauerpflegeperson) oder die völlige Vernachlässigung durch sie ohne eine Ersatzbindungsperson. Diese Situation ist ein typisches Risiko bei Lager-, Heim- oder Krankenhausaufenthalten von Säuglingen, aber auch bei völliger materieller oder soziopsychischer Verelendung und kann eine totale Deprivation bewirken; dauerhafter Argwohn, Depressionen, Angstzustände, Aggressivität u. a. m. können Folgestörungen sein:
  • Wenn der Säugling im Familienhaushalt oder bei Alleinerziehenden unerwünscht ist und emotional mit gemischten (ambivalenten) Gefühlen (Zärtlichkeit, Hass, Missachtung) wahrgenommen wird, kann die Entwicklung des auf konstante Verlässlichkeiten angewiesenen Urvertrauens stark geschädigt werden; der Schädigung wirkt entgegen, wenn seltenere, dann aber doch verlässliche Zuwendungen von Geschwistern, entfernteren Verwandten oder Pflegepersonal erfolgen.

Literatur

  • Dieter Claessens: Familie und Wertsystem, [1962], Berlin: Duncker & Humblot, 1979, 4., durchges. Aufl. (Hierin wird das Konzept des Urvertrauens entwickelt.)
  • Erik H. Erikson, Der vollständige Lebenszyklus, Frankfurt am Main ²1992
  • Rüdiger Posth: Vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen. Das Bindungskonzept in der emotionalen und psychosozialen Entwicklung des Kindes, [2007], Waxmann Verlag, Münster, ISBN 978-3-8309-1797-7
  • Monika Renz: Zwischen Urangst und Urvertrauen. Therapie früher Störungen über Musik-, Symbol- und spirituelle Erfahrungen, ISBN 3-87387-263-3

Siehe auch

Nachweise

  1. Vgl. Erik H. Erikson: Kindheit und Gesellschaft, übers. v. Marianne Eckhardt-Jaffe, Stuttgart 1999, S. 241 ff.; Eckhardt-Jaffe übersetzt (basic)- trust mit (Ur-) Vertrauen.
  2. Das „Urmisstrauen“ wird nach anderen Theorien auch auf den Geburtsschock zurückgeführt.

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