’Pataphysik

Pataphysik

Pataphysik (frz. Pataphysique) ist ein absurdistisches Philosophie- und Wissenschafts-Konzept des französischen Schriftstellers Alfred Jarry (18731907), das sich oftmals als nonsensische Parodie der Theoriebildungen und Methoden moderner Wissenschaft gibt.

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Jarry in Alfortville

Der von Jarry geprägte Begriff erschien zum ersten Mal gedruckt am 28. April 1893 in der Zeitschrift LEcho de Paris litteraire illustré. Im Roman Taten und Meinungen desPataphysikers Doktor Faustroll (Gestes et opinions du docteur Faustroll, erschienen in Folgen an verschiedenen Orten 18981903, vollständig erst 1911) beschreibt JarryPataphysik als die Wissenschaft des Partikulären, also des Einzelfalls, im Gegensatz zu Aristoteles wirkungsreicher Definition, nach der sich Wissenschaft immer nur mit dem Allgemeinen beschäftigen könne.

Ein Epiphänomen ist das, was zu einem Phänomen hinzukommt. DiePataphysik, deren Etymologie mit epi (meta ta physika) zu schreiben ist, ist die Wissenschaft von dem, was zur Metaphysik hinzukommtsei es innerhalb, sei es außerhalb ihrer selbstund die sich ebenso weit jenseits dieser ausdehnt wie diese jenseits der Physik (…) Sie soll die Gesetze untersuchen, die diesen Ausnahmen unterliegen, und will das zu dem existierenden zusätzlich vorhandene Universum deuten.

Alfred Jarry: Doktor Faustroll

DiePataphysik präsentiert sich als scheinbar logische Erweiterung der Wissenschaft und Philosophie:

DiePataphysik steht zur Metaphysik so wie die Metaphysik zur Physik.

Die Erweiterung gibt Raum für ein künstlerisches Paralleluniversum, das an die Stelle der bekannten Welt treten könnte. Gefragt sind beispielsweise absurde wissenschaftliche Untersuchungen. Eine typischepataphysische Untersuchung ist die Berechnung der Oberfläche Gottes. ±Gott ist der kürzeste Weg von 0 bis ∞ (im einen oder anderen Sinne), so Jarrys Zusammenfassung despataphysischen Spiritualismus.

DiePataphysik (epi meta ta physika) hat präzise und ausdrücklich folgenden Gegenstand: die große Kehre, die Überwindung der Metaphysik […]. So dass man das Werk Heideggers als eine Entfaltung derPataphysik begreifen kann, und zwar in Übereinstimmung mit den Prinzipien von Sophrotatos dem Armenier und seinem ersten Schüler Alfred Jarry.

Gilles Deleuze: Kritik und Klinik

Wirkung

In den 1960er Jahren wurdePataphysik als konzeptualistisches Prinzip benutzt. Elemente der Produktion inpataphysischer Tradition können Zufall und gezielte Beliebigkeit sein, wie in Werken von Marcel Duchamp und John Cage. Sprachspiele wie Palindrome sind ein anderes vonPataphysikern gerne verwendetes Prinzip, auf das Robert Wyatt mit einem Musikstück auf dem AlbumVolume Two” (1968) der Musikgruppe Soft Machine anspielt. Die prominenteste Erwähnung derPataphysik ist im Beatles-Song Maxwells Silver Hammer zu hören: Joan was quizzical, studied pataphysical / Science in the home / Late nights all alone with her a test tube (Album Abbey Road, 1969).

Ungefähr zur gleichen Zeit bezeichneten die Situationisten diePataphysik als neue Religion (Asger Jorn).

François Le Lionnais, ein Mathematiker, und Raymond Queneau, gründeten 1960 einen Autorenkreis Oulipo (franz.: Ouvroir de la Literature potentielle – „Werkstatt für Potentielle Literatur”) die anfangs vor allem aus Mitgliedern des Collège dePataphysique bestand.

Pataphysische Vereinigungen

Père Ubu

JarrysPataphysik blieb bis zur Gründung des Collège dePataphysique 1948 eine weitgehend nur literarische Idee, die Künstler und Schriftsteller inspirierte. Die später berühmt gewordenepataphysische Vereinigung, gegründet zu Alfred Jarrys Ehren in der Librairie des Amis des Livres in Paris, hatte auf die Weiterentwicklung derPataphysik wesentlichen Einfluss. Zu den Gründern zählten Raymond Queneau und Boris Vian. Spätere prominente Mitglieder waren hauptsächlich Künstler, Musiker und Schriftsteller, wie Marcel Duchamp, Max Ernst, Eugène Ionesco, Joan Miró, Groucho, Harpo und Chico Marx, Jean Baudrillard, Dario Fo, Umberto Eco, Man Ray und Harald Szeemann.

Weiterepataphysische Vereinigungen

  • Istituto Patafisico Milanese, Mailand, gegründet 1963
  • Nederlands Instituut voorPatafysica (NIP), Amsterdam, gegründet 1972
  • Pataphysisches Institut Braunschweig, Braunschweig, gegründet 1997
  • The London Institute of Pataphysics, London, gegründet 2000

Einige Abteilungen des London Institute of Pataphysics:

  • Büro für die Untersuchung subliminaler Bilder
  • Komitee für Behaarung und Pogonotrophie
  • Abteilung für Dogma und Theorie
  • Abteilung für Potassons
  • Abteilung für Rekonstruktive Archäologie
  • Büro für Patenterei

Das London Institute of Pataphysics organisierte u.a. die Retrospektive des Werks vonAnthony Hancockunter Bezugnahme auf den Film The Rebel von 1960, in dem der britische Komiker Tony Hancock einen KünstlerAnthony Hancockspielt.[1].

Pataphysik und Humor

Pataphysik wird manchmal als fäkaler Pennälerscherz oder beliebiger Nonsens missverstanden. ’Pataphysikalischer Humor ist jedoch anspielungsreich, grausam und philosophisch begründet. Jean Baudrillard:Die Götter und die Morgende, die singen, sind aus diesem obszönen Gas hervorgegangen, das angesammelt wurde, seitdem die Welt Welt ist und seitdem der pyramidale Ubu uns verdaut, bevor er uns pataphysisch in die Leere herausschleudert, die verdunkelt wird beim Geruch des erkalteten Furzesder das Ende der Welt und aller möglichen Welten sein wird... – (Absatz) – Der Humor dieser Geschichte ist grausamer als die Grausamkeit Artauds, der nur ein Idealist ist. Und vor allem ist er unmöglich. Er beweist, dass es unmöglich ist, pataphysisch zu denken, ohne sich umzubringen. Er ist, wenn man so will, der Aktionsradius einer unbekannten sphärischen Wampe, die nur durch die Dummheit der Sphären begrenzt wird, die aber unendlich wie der Humor wird, wenn sie explodiert. Aus dieser Explosion von schwachköpfigen Pfahlgeistern entsteht der Humor, aus ihrer kriecherischen und naiven Art und Weise, als Furze und Angsthasen zur Natur zurückzukehrensie, die sich für so schlau hielten, die Wesen, und nicht nur Gasund einer nach dem anderen legen sie den Funken an den unermesslichen Humor, der am Ende der Welt erstrahlen wirddie Explosion von Ubu selber."[2]

Einzelnachweise

  1. Anthony Hancock. London Institute of Pataphysics, abgerufen am 12.1 (englisch).
  2. Jean Baudrillard: Pataphysik. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM), 2002, abgerufen am 22. April 2009 (Aus dem Französischen von Ronald Voullié).

Literatur

  • H. Bouché, F. Lachenal: Was istPataphysik? Elementare Prolegomena zu einer Einführung in diePataphysik. Offenbach 1959.
  • Riewert Ehrich: Individuation und Okkultismus im Romanwerk Alfred Jarrys. München (Fink) 1988. Darin: Kap. II: Jarrys "Pataphysique" – zur Genese und Verwendung des Begriffes innerhalb seines Gesamtwerkes (pp. 29-48).
  • Riewert Ehrich: Jarry et laPataphysique en "Germanie". In: LEtoile-Absinthe no.83-84 (1999), pp. 66-69. [= Vortrag zur deutschsprachigen Jarry-Rezeption, gehalten am 8. Februar 1999 in Paris, Org. Centre Georges Pompidou hors les murs, Salle Delvaux).
  • Thomas M. Scheerer (Hrsg.): Phantasielösungen. Kleines Lehrbuch der Pataphysik. Illustriert von Peter Kaczmarek. Mit Texten von Alfred Jarry, Raymond Queneau und Irénée-Louis Sandomir. Rheinbach-Merzbach (CMZ Verlag) 1982 (1. Aufl.), 1983 (2. Aufl.).
  • Manfred Geier: Doktor Ubu und ich. Pataphysische Begegnungen. Illustriert von Peter Kaczmarek. Rheinbach-Merzbach (CMZ Verlag) 1983.
  • Klaus Ferentschik: Pataphysik. Versuchung des Geistes. Die Pataphysik und das Collège dePataphysique; Definitionen, Dokumente, Illustrationen. Berlin (Matthes & Seitz Berlin) 2006.
  • Klaus Ferentschik: Der Weltmaschinenroman. Berlin (Matthes & Seitz Berlin) 2008.
  • Gabriele Killert / Richard Schroetter: Wer hat Angst vor König Ubu? Alfred Jarrys Modernität. Radio-Feature. Prod. von DLF, SWR u. NDR, Sendungen v. 30.10. und 2. November 2007 (Mit Beiträgen von Riewert Ehrich, Klaus Ferentschik, Peter Stein, Klaus Völker u.a.).
  • Beate Ochsner (Hg.): JarryLe Monstre 1900 / JarryDas Monster 1900. Aachen (Shaker) 2002.
  • Cal Clements: Pataphysica. iUniverse 2002 ISBN 0-595-23604-9

Weblinks


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