- Bernardo Provenzano
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Bernardo Provenzano (* 31. Januar 1933 in Corleone, Sizilien) war lange Zeit der Kopf der sizilianischen Cosa Nostra. Auf Grund seiner Entschlossenheit wurde er auch Binnu u tratturi (sizilianisch für „Binnu der Traktor“) genannt oder kurz Zu Binnu („Onkel Binnu“).
Inhaltsverzeichnis
Biografie
Aufstieg der Corleonesi
Bernardo Provenzano gehört den Corleonesi an, einer Mafia-Familie aus dem Bergstädtchen Corleone. Provenzano selbst kam aus einer Bauernfamilie, die keine Kontakte zur Cosa Nostra gepflegt hatte. Als im Jahr 1958 Michele Navarra, der damalige Pate der Corleonesi, ermordet wurde, war Provenzano bereits ein loyaler Gefolgsmann von Navarras Gegenspieler und Nachfolger, Luciano Liggio; dieser hatte auch den Mord an Navarra veranlasst und sich an der Tat auch selbst beteiligt. Im folgenden Krieg, in dem Liggio und seine Anhänger Navarras Gefolgsleute systematisch eliminierten, war Provenzano einer der besten Killer Liggios.
Am 10. September 1963 ermordete Provenzano einen letzten Anhänger Navarras – und zog sich alsbald von der Bildfläche zurück. Im Verborgenen arbeitete er beharrlich an seinem Aufstieg an die Spitze der Organisation. Er war einer von Liggios Lieblingskillern, der über ihn sagte: „Binnu schießt wie ein Gott“. Beim berühmten Massaker in der Viale Lazio am 10. Dezember 1969 tötete er persönlich Michele Cavataio, der einer der Hauptverantwortlichen für den Ersten Mafiakrieg war. Nachdem Liggio 1974 in Mailand verhaftet werden konnte, bestimmte Liggio Salvatore Riina und Provenzano zu seinen gemeinsamen Nachfolgern. Riina sollte als erster der neue Boss der Corleoneser werden und nach zwei Jahren von Provenzano abgelöst werden. Riina gab dieses Amt jedoch nicht mehr ab, was Provenzanos Einverständnis fand. Provenzano galt seither als Riinas rechte Hand.
Im Verlaufe eines gnadenlosen Mafia-Krieges von 1981 bis 1982, dem Hunderte Mafiosi zum Opfer fielen, stiegen die Corleonesi zur führenden Mafia-Familie in Sizilien auf. Riina und Provenzano dominierten fortan die Cosa Nostra; beide saßen gleichzeitig auch in der Kommission. Im Januar 1993 wurde Riina verhaftet und schließlich verurteilt, unter anderem wegen der Attentate auf Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Provenzano sollte 1995 nach der Verhaftung von Leoluca Bagarella, des Schwagers und Nachfolgers von Riina, Chef der Corleonesi und damit faktisch „Capo dei Capi“ (italienisch für „Boss der Bosse“) werden.
Leben im Untergrund
Von den frühen 1960er Jahren bis zu seiner Festnahme 2006 wurde Provenzano nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Da es nur ein Fahndungsfoto aus seiner Jugendzeit gab, veröffentlichte die italienische Polizei jahrelang nur ein Phantombild. Insider beschrieben Provenzano als sehr misstrauisch und menschenscheu. Als 1992 seine Frau und Kinder ihr Versteck verlassen hatten, gab es Vermutungen, er selbst sei nicht mehr am Leben. Im Oktober 2003 unterzog er sich in einer Privatklinik (la clinique Casamance) in Aubagne nahe Marseille (Frankreich) einer Prostata-Operation (angeblich sogar auf Kosten des italienischen Staates[1]), von der die Fahnder zu spät erfuhren. Eine Razzia im Januar 2005 in verschiedenen Orten Siziliens führte zwar zur Verhaftung von 46 Verdächtigen, aber Provenzano wurde nicht gefasst. Die Gefängnisstrafen, zu denen er in Abwesenheit verurteilt wurde, belaufen sich auf 250 Jahre.
Festnahme
Nach 43 Jahren auf der "Flucht" wurde Bernardo Provenzano, im Alter von 73 Jahren, am 11. April 2006 zusammen mit einer weiteren Person von der italienischen Polizia di Stato in einem heruntergekommenen Schuppen ("un casolare diroccato e isolato accanto una stalla e un caseificio"), etwa 2 km vom Stadtzentrum von Corleone entfernt, festgenommen. Seiner Festnahme ging eine zweiwöchige Observation voraus. In seinem Versteck fanden sich etwa 200 kleine Kassiber-ähnliche Zettel, genannt pizzini, mit Hilfe derer er mit der Außenwelt kommunizierte. Provenzano soll sich durch einen derartigen Zettel verraten haben, da es der Polizei in der Zwischenzeit gelang, die stafettenartige Weiterleitung der Zettel an seine Gefolgsleute zu überwachen. Nach seiner Festnahme wurden drei weitere Personen festgenommen, denen vorgeworfen wird, Provenzano versorgt und seine Nachrichten weitergeleitet zu haben.
Ein abgehörtes Telefonat habe die Ermittler auf die richtige Spur gebracht, berichteten italienische Medien. Darin habe sich ein Vertrauensmann mit seinem Gesprächspartner darüber abgestimmt, wann er dem „Boss“ die saubere Wäsche bringen soll. In seinem Versteck fand sich auch eine Schreibmaschine, die er angeblich zum Schreiben seiner Nachrichten benutzt hatte. Nach Aussage der Polizei soll Provenzano keinen Widerstand geleistet und seine Identität zugegeben haben. Ein DNA-Vergleich mit Gewebeproben, die nach seinem Klinikaufenthalt 2003 in Frankreich gesichert wurden, zeigte Medienberichten zufolge, dass es sich tatsächlich um den lange gesuchten Mafia-Boss handle. Sein Rechtsanwalt Salvatore Traina hatte noch zwei Wochen vorher angegeben, dass sein Mandant vermutlich schon vor Jahren verstorben sei.
Provenzano soll bei seiner Festnahme den anwesenden Beamten gesagt haben: „Ihr wisst nicht, was ihr tut“. Es wurde in den Medien heftig darüber spekuliert, wie diese Aussage zu deuten sei. Gegenüber den Behörden schweigt Provenzano, es ist auch unwahrscheinlich, dass er die Omertà brechen wird. Es wird vermutet, dass eine neue, jüngere Generation von Mafia-Bossen schon bereitsteht. Ein möglicher Nachfolger ist Matteo „u Siccu“ Messina Denaro (*1962) aus der Provinz Trapani, Provenzano hatte ihn in einem Pizzino als „il mio erede“ (mein Erbe) bezeichnet. Allerdings hat Provenzano die Cosa Nostra dezentralisiert und die nachfolgenden Jahre geben Anlass zur Vermutung, dass es keinen einzelnen Boss der Bosse geben wird.
Bedeutung
Die Bedeutung von Provenzano wurde lange unterschätzt. Ihm werden 50 Morde zur Last gelegt, Falcone nannte ihn den blutrünstigsten Killer der Mafia. Aber erst 1993, nachdem verschiedene Pentiti (it.: Reuige, Büßer; d.h. ehemalige Mafiosi als Kronzeugen) ausgesagt hatten, bekam die Suche höchste Priorität. Nachdem er immer wieder der Verhaftung entkommen konnte, wurde unter anderem vom obersten Mafiajäger Piero Grasso die Anschuldigung erhoben, dass Provenzano von Politikern, Unternehmern und Polizisten geschützt worden sei.
2004 wurde unter der Regie von Marco Amenta der Film „Il fantasma di Corleone“ („Das Phantom von Corleone“)[2] gedreht, der sich mit der Frage beschäftigt, weshalb Provenzano all die Jahre nie gefasst werden konnte. Eine zentrale Aussage in der Dokumentation ist die von Michele Riccio, einem hochrangigen Carabiniere, erzählte Begebenheit, dass er, als er Provenzano hätte verhaften können, von höherer Stelle (Oberst Mori) zurückgepfiffen worden sei. Der Film argumentiert, dass Provenzano nicht zuletzt durch den Schutz höherer staatlicher Beamter so lange entkommen konnte. Das bestätigt in Amentas Film auch Guido Lo Forte, Staatsanwalt in Palermo.
Der Gemeinderat der Stadt Corleone hat inzwischen den Tag seiner Festnahme (11. April 2006) zum Gemeindefeiertag erklärt und will einer Straße den Namen „Via 11 Aprile“ geben, um die Festnahme zu würdigen.
Im Februar 2006 hat die Italienische Polizei – auf Anweisung von Staatsanwalt Roberto Scarpinato – Häuser, Grundstücke und Konten von Provenzano und Salvatore Lo Piccolo im Wert von 150 Mio. US-Dollar beschlagnahmt.[3]
Quellen
- ↑ Der meistgesuchte Mafia-Boss festgenommen. Neue Zürcher Zeitung 12. April 2006.
- ↑ Das Phantom von Corleone auf filmitalia.org
- ↑ Schätze der Mafia beschlagnahmt. In: Weser-Kurier Nr.45 vom 22. Februar 2008, S. 7.
Literatur
- Andrea Camilleri: M wie Mafia, Kindler, 2009, ISBN 978-3-463-40557-5:
- Vorbemerkung des Herausgebers: "Dieses Lexikon stützt sich weitgehend auf Stichwörter, die immer wieder in den pizzini - mehrfach gefalteten und mit Tesafilm versiegelten Zetteln - aufgetaucht sind, über die er (= Provenzano) mit seinen Gefolgsleuten kommunizierte."
- Alexander Stille: „Die Richter, der Tod, die Mafia und die italienische Republik“ C. H. Beck Verlag, 2003:
- Ausführliche und fundierte Darstellung der Hintergründe und der Geschichte der Mafia unter besonderer Berücksichtigung von deren Verstrickungen mit der italienischen Politik. Ein gesondertes Kapitel behandelt die Corleoneser Mafia und den Aufstieg Salvatore Riinas und Bernardo Provenzanos.
- John Dickie (Romanist): Cosa Nostra - Die Geschichte der Mafia, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2006, 560 Seiten:
- Hintergrundinformationen zur sizilianischen Mafia sowie zu Provenzano im Speziellen (Kapitel Der Traktor tritt auf, S. 501-509).
- Henning Klüver: Der Pate - letzter Akt, C. Bertelsmann, 2007 ISBN 978-3-570-00971-0:
- Thema ist die Cosa Nostra und Bernardo Provenzanos Leben
Weblinks
- Webseite zu Bernardo Provenzano (italienisch)
- Erklärung der Polizia di Stato zur Festnahme, mit Bildern (italienisch)
- „Das seltsame Strahlen der bösen Bosse“, Telepolis, 21. April 2006,
- „Vor aller Augen unsichtbar“, Tagesspiegel, 21. April 2006, Reportage
- «Die Aussichten für die Mafia sind gut», Berner Zeitung, 21. April 2006, Interview mit Prof. Christian Giordano
- «Provenzano, il casolare dove è stato catturato», La Repubblica
- Literatur von und über Bernardo Provenzano im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
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