Bioenergetische Analyse

Bioenergetische Analyse

Die Bioenergetische Analyse oder kurz Bioenergetik ist ein psychotherapeutisches Konzept, das ab 1947 von dem Arzt und früheren Sportlehrer Alexander Lowen[1][2] entwickelt wurde. Lowen war Patient, später Schüler von Wilhelm Reich. Die Bioenergetische Analyse ist nicht mit dem Begriff der Bioenergetik, wie er in der Biochemie und Biologie verwendet wird, zu verwechseln. Der Begriff der Energie umfasst bei Reich nicht nur das, was in der Physik oder Chemie definiert ist, sondern geht über seine Interpretation von Freuds energetischen Leib-Seele-Vorstellungen und Bergsons "élan vital" zu seiner nichtdualistischen Theorie der funktionellen Einheit von Körper/Seele/Kosmos.

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Die Bioenergetische Analyse beruht auf Bestandteilen der Psychoanalyse von Sigmund Freud und der Charakteranalyse Wilhelm Reichs sowie auf Lowens eigenen Beobachtungen. Reich geht in seiner "Charakteranalyse"[3] "bei der Untersuchung der Differenzierung von Charaktertypen von der Voraussetzung aus, dass der Charakter zwar seiner Grundfunktion nach in jeder Form Panzerungen gegen die Reize der Außenwelt und die inneren verdrängten Triebe darstellt, dass die äußere Form aber, in der diese Panzerung sich darbietet, jeweils historisch bestimmt ist". Laut Lowen sind die körperlichen Analogien seelischer Vorgänge sowohl diagnostisch als auch therapeutisch im Sinne einer Reich'schen ganzheitlichen Betrachtungsweise für die Bioenergetische Analyse nutzbar. Ein psychisches Trauma (Verletzung) findet Ausdruck in einer sogenannten körperlichen Panzerung, deren Beobachtung und Analyse (das body reading) laut Lowen Charakterstrukturen offenbart. Zusammen mit den ebenfalls von Reich ausgebildeten John Pierrakos und William Walling gründete Lowen 1956 das "Institute for Bioenergetic Analysis" in New York. Diverse Nachahmungen (ohne entsprechende Ausbildung oder institutionelle Verbindung zu A.L.) der Bioenergetischen Analyse sind auch als Osho Pulsation, Pulsation, Emotional Release oder des Somatic Experience according Levine bekannt geworden.

Basis der Bioenergetischen Analyse ist das psychoanalytische Widerstands- und Übertragungsmodell (tiefenpsychologischer Ansatz). Wie in der Psychoanalyse wird ein (begleiteter und unterstützter) Bewusstwerdungsprozess als Voraussetzung für "heilende" Wirkung beschrieben. Dazu werden die körperlichen Phänomene des Widerstands, wie Haltung, muskuläre (Ver-)Spannung, Gefühlsausdruck, Atmungsmuster nach ihrer Prägung in der Kindheit geordnet und in fünf "Charakterstrukturen" unterteilt. Dabei werden (Körper-) Haltung und interaktionelles Verhalten miteinander in Beziehung gesetzt und bewusst gemacht. Die fünf Charakterstrukturen ähneln dabei denen von Wilhelm Reich. Der charakterstrukturelle Ansatz bietet einerseits die Möglichkeit, die verschiedenen Haltungs- und Verhaltensmuster als Verfestigungen und als (bisher) erfolgreiche Überlebens-Fähigkeiten und Fundamente zu akzeptieren und bewusst zu nutzen, andererseits durch Arbeit an den Blockierungen Energien zur persönlichen Weiterentwicklung freizusetzen (Erweiterung der anachronistischen Überlebensstrategien zu Lebensmodellen mit freien Entscheidungsmöglichkeiten zur Lebendigkeit). Im Gegensatz zur Psychoanalyse wird der Begriff der "Energie" (Libido) nicht nur abstrakt, sondern (körperlich) spürbar, als sogenannte Bioenergie erlebbar verstanden.

Von Mitgliedern der DÖK (Österreichische und Deutsche Gesellschaft für körperbezogene Psychotherapie - Bioenergetische Analyse) wurden die Lowenschen Konzepte um gruppendynamische Aspekte erweitert und somit auch als Modell - neben der therapeutischen Arbeit - für die Anwendung in Teams und Organisationen, in der Beratung und Fort- und Weiterbildung eingeführt.

Grounding

Wichtig in der Bioenergetischen Analyse ist das „Erden” oder „Grounding”. Die Vorstellung eines willensgesteuerten Ich und das autonome Selbst orientiert sich an der (Um-) Welt, am Stand auf dem Boden (der Tatsachen), dem Bezug zur eigenen Identität als Frau oder Mann. Die Bioenergetische Analyse richtet sich auf körperlich Wahrnehmbares, Erlebbares und entsprechende Körperübungen. Der breitbeinig stehende Patient lehnt sich nach hinten, schiebt das eigene Becken vor und versucht durch tiefes verstärktes Atmen Energie aufzunehmen. Dies soll zu einer Lockerung des Körperpanzers führen und festgehaltene Gefühle sollen einer Katharsis frei werden. Der Patient schreit dabei oft laut und weint oder lacht. Aggressionen werden oft an Kissen oder Matratzen freigesetzt.

Durchführung

Bioenergetische Analytiker versuchen, die Klienten über verbale Kommunikation, Anleitung zu Körperaktionen (Atmung, Bewegung, Haltung) und direkte Interventionen am Körper (Berührung, Druck, Zug) in Kontakt zum Körper zu bringen und über die körperliche Empfindung die Wahrnehmung der Gefühle unter dem Beziehungsaspekt zu verdeutlichen. Die bewusste körperliche Fühlbarkeit von emotional-geistigen Inhalten wird von den Anhängern der bioenergetischen Analyse als wesentlicher Faktor der Integrierbarkeit von Erkenntnissen in den gelebten Alltag angesehen.

Heute arbeiten Bioenergetische Analytiker (BA) meist in regelmäßigen therapeutischen Einzel- und/oder Gruppensitzungen, aber auch in Selbsterfahrungs-Workshops oder VHS-Kursen.

Wirkung

Nach Meinung der Anhänger der Methode verringern freigesetzte Gefühle die für deren Unterdrückung vorher aufgewendete Energie, die nun vermehrt für die Gestaltung des Lebens zur Verfügung stehe. Der gelockerte Körperpanzer mache den Menschen körperlich beweglicher und seelisch und sozial offener.

Körperlesen (body-reading) und Mehrdimensionale Bioenergetische Persönlichkeitsanalyse MBPA

Grundlage der Interventionen der Bioenergetischen AnalytikerInnen ist neben einer Anamnese ein sogenanntes "Körperlesen", das die charakterstrukturelle Diagnose sowie das Erkennen des energetischen Levels und des Identitätsniveaus (Grounding) erleichtern soll. Außer dem "body reading" besteht die Möglichkeit, zur charakterstrukturellen Analyse einen Fragebogen einzusetzen (MBPA Mehrdimensionale Bioenergetische Persönlichkeits-Analyse). Dieses Verfahren schlägt eine Brücke zu der in der Persönlichkeitspsychologie üblichen dimensionalen Erfassung der individuellen Ausprägung grundlegender Persönlichkeitsdimensionen durch ein Persönlichkeitsprofil. [4] Ziel der Bioenergetischen AnalytikerInnen ist es, Impulse zu Entwicklungs- und Veränderungsprozessen von Personen, Teams und Organisationen ressourcenorientiert zu setzen und zielorientiert zu begleiten, sowie methodische Kenntnisse zu vermitteln. Diese, im persönlichen Alltag und im Beruf umgesetzt, sollen zu Erleichterungen und mehr Freude im Leben führen.

Charakterstrukturen

Die von Alexander Lowen beschriebenen Charakterstrukturen basieren auf seiner klinisch-phänomenologischen begründeten Typologie und Ansichten Reichs. Sie umfasst folgende Charakterstrukturen der bioenergetischen Analyse, die jedoch nicht kompatibel mit Erkenntnissen der modernen Psychologie sind:

1.„schizoid“

Die schizoide Charakterstruktur ist nach Lowen zum einen durch eine Tendenz zur Spaltung der ganzheitlichen Funktion der Persönlichkeit gekennzeichnet – z.B. durch die Neigung, Denken und Fühlen zu trennen. Was der Schizoide denkt, scheint keinen Zusammenhang damit zu haben, was er fühlt oder wie er sich verhält. Zum anderen fällt beim Schizoiden ein Rückzug nach innen auf, der mit einer Unterbrechung oder einem Verlust des Kontaktes zur Außenwelt oder zur Realität einhergeht. Die schizoide Persönlichkeit verfügt nur über ein begrenztes Selbst-Gefühl, ein schwaches Ich und einen deutlich reduzierten Kontakt zum Körper und dessen Gefühlen. Schizoide haben eine schwache Ich-Abgrenzung, sind dementsprechend überempfindlich und meiden gefühlsbetonte Beziehungen.

2.„oral“

Menschen mit einer oralen Struktur weisen nach Lowen viele Merkmale der oralen Lebensphase (Babyalter) auf: Mangelnde Selbständigkeit; Neigung des Anklammerns an andere; verminderte Aggressivität und die Erwartung, von anderen gehalten, gestützt und behütet zu werden. Orale Menschen leiden unter innerer Leere und haben starke innere Sehnsuchts- und Wunschgefühle. Sie leiden oft unter starken Schwankungen der Stimmungslage zwischen Depression und grundloser Freude. In der kompensierten Form verhalten sich diese Menschen übertrieben selbständig.

3.„psychopathisch“

Lowen beschreibt als typisches Merkmal der psychopathischen Struktur das Leugnen von Gefühlen, insbesondere sexueller Gefühle. Der psychopathische Charakter strebt nach Macht und möchte andere Menschen steuern oder beherrschen. Als Mittel setzt er dabei Druck (Tyrannei) oder Manipulation (Verführung) ein. - Diese Menschen sind auffallend bemüht, „alles im Griff“ und „alles unter Kontrolle“ zu haben. Meist verdrängen, leugnen und kompensieren sie mehr oder weniger erfolgreich ihre ungestillten starken oralen Bedürfnisse sowie ihre Erlebnisse der Machtlosigkeit und Hilflosigkeit, durch die sie sich latent bedroht fühlen.

4.„masochistisch“

Diese Menschen leiden unter erheblichen Minderwertigkeitsgefühlen, geben sich anspruchslos und sind jederzeit unterwürfig um Anpassung und Unterordnung bemüht, zeigen jedoch eine starke latente trotzige und beharrliche passive Abwehr, die sie bei genügend äußerem Druck offenbaren; im Inneren hegt der masochistische Charakter Hass-, Negativismus- und Überlegenheitsgefühle. Die drohende emotionale Explosion wird durch eine starke Muskelstruktur eingedämmt. Selbstdurchsetzung und Aggression sind bei diesem Typ stark gehemmt. Stattdessen beherrschen Klagen und Jammern und die Neigung zu Opferrollen das Bild. Nahrungsaufnahme und Defäkation spielen eine hervorgehobene Rolle.

5."rigide"/„Rigidität“

Rigidität ist nach Lowen gekennzeichnet durch eine steife, stolze Haltung, die Unnahbarkeit signalisieren soll. Der rigide Charakter ist ständig auf der Hut, nicht ausgenutzt oder manipuliert zu werden. Diese Menschen kennzeichnet ein kämpferisches, mitunter aggressiv-verletzendes Verhalten, sie sind kompetitiv, egozentrisch, willensbetont und widerstandsfreudig, lieben das Kräftemessen und wollen sich um jeden Preis durchsetzen. Zu diesem Typus gehören der phallische und der hysterische Charakter.

a.„phallisch“

Dies beschreibt vor allem die aggressiv-verletzende und herausfordernde, rivalisierend-dominante, ungeduldig-erregbare Art des phallischen Typs, bei dem sich viel um die (sexuelle) Potenz dreht.

b.„hysterisch“

Das Seelenleben und Verhalten dieser Menschen ist emotional übertrieben, schauspielernd, aufmerksamkeitsheischend und dramatisch. Dieser Charakter neigt zu übersteigerten gefühlsmäßigen Reaktionen, deren Aufruhr sich im vegetativen Körpergeschehen stark widerspiegelt. Sex wird als Abwehr gegen tiefes Sich-Einlassen benutzt.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Lowen, A. Bioenergetik.Therapie der Seele durch Arbeit mit dem Körper. rororo 7233.1982, ISBN 3-499-17233-X
  2. Lowen, A. Körperausdruck und Persönlichkeit. Grundlagen und Praxis der Bioenergetik.München: Kösel 1981
  3. Reich, W. Charakteranalyse. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989. S.256
  4. Fehr, T.: Bioenergetische Prozess-Analyse; Screening-Verfahren zur Persönlichkeitsstruktur. Swets Test Services, Frankfurt 1998 (heute: Harcourt Test Services).

Literatur

  • G. Whitfield: Bioenergetik. In: John Rowan: Neue Entwicklungen der Psychotherapie. Transform-Verlag, Oldenburg 1990, ISBN 3-926692-15-4.

Weblinks


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