Bion (Wilhelm Reich)

Bion (Wilhelm Reich)

Unter Bionen verstand Wilhelm Reich — der diesen Begriff prägte, um von ihm bei mikroskopischen Untersuchungen gefunden geglaubte Objekte zu bezeichnen — „Energiebläschen, die Übergangsstufen zwischen lebloser und lebender Substanz darstellen“. Reich beschreibt die Experimente, die ihn zu ihrer (angeblichen) Entdeckung führten, in der ausführlichen Monographie Die Bione. Zur Entstehung des vegetativen Lebens (1938). Bione als „elementare Funktionseinheit aller lebenden Materie“ entstehen, Reich zufolge, in der Natur ständig „durch einen Auflösungsprozess anorganischer und organischer Materie“, sind kultivierbar und „können sich zu Protozoen und Bakterien entwickeln.“[1] An einer — wie er glaubte — „Bionkultur“ machte Reich Beobachtungen, die er sich mit den ihm bekannten Begriffen und Theorien nicht erklären konnte; er schloss daraus auf eine bisher unerforschte „biologische Energie“, die er Orgon nannte. Die akademische Naturwissenschaft hat sich mit Reichs einschlägigen Arbeiten nur ganz am Rande befasst. [2][3][4]

Die Bion-Experimente

Reich (1897-1957) war Mediziner und in den 1920er Jahren einer der produktivsten Schüler von Sigmund Freud. Er arbeitete insbesondere daran, die Voraussage Freuds, der sich stets als Naturwissenschaftler sah, seine vorerst nur psychoanalytische Auffassung der Neurose werde dereinst auf eine physiologische und weiterhin biologische Basis gestellt werden, zu erfüllen. Die erste Etappe dazu markiert seiner Ansicht nach sein Buch Die Funktion des Orgasmus von 1927, in dem er zwar noch eine psychoanalytische, aber schon deutlich „energetisch“ geprägte — und soziologisch flankierte — Theorie vorstellte.[5] Darüber geriet Reich mit seinem Lehrer Freud in einen sich langsam — durch Reichs parallele politische Aktivitäten noch verstärkten — Konflikt, der schließlich 1934 mit Reichs Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (offiziell als Austritt deklariert) endete, ohne dass der zugrunde liegende theoretische Konflikt jemals Gegenstand einer wissenschaftlichen Diskussion geworden ist.[6]

Reich setzte nun, im skandinavischen Exil, seine Arbeit zur - wie er meinte - biologischen Grundlegung der Psychoanalyse fort. Er versuchte dabei, an neue Arbeiten anderer Forscher anzuknüpfen, so vor allem an die von einem der damals führenden Mediziner, von Friedrich Kraus, entwickelte Theorie der „vegetativen Strömung“. Dies führte ihn auf therapeutischem Gebiet zur Entwicklung der Vegetotherapie, die als Ursprung aller späteren Richtungen der Körperpsychotherapie gilt, und auf mikrobiologischem Gebiet zunächst zu jenen vesikulären Gebilden, die er nicht einordnen konnte und deshalb als von ihm neu entdeckte Bione darstellte. Wenig später meinte er gefunden zu haben, dass diese Bione sozusagen Ladungsträger einer spezifisch biologischen Energie, die er Orgon nannte, seien. Reich führte zahlreiche Experimente durch, mit denen er die von Freud postulierte psychische Energie, die Libido, messbar machen wollte. Er beobachtete Protozoen, einzellige eukaryotische Lebewesen, die heterotroph und beweglich waren. Er legte Kulturen aus verschiedenen organischen Materialien an, beispielsweise aus Seesand, machte Heuaufgüsse etc., im Einzelnen nachzulesen in seinem Buch Die Bione. Zur Entstehung des vegetativen Lebens (1938), erweitert und in den Rahmen von Reichs „Orgonomie“ gestellt in seinem Buch The Cancer Biopathy (1948, deutsch 1971).

Literatur

Primärliteratur
  • Wilhelm Reich: Die Bione. Zur Entstehung des vegetativen Lebens. Anhang mit Artikeln von Roger Du Teil (Leben und Materie. Drei Versuchsreihen, S. 117-135) und Arthur Hahn (Die Geschichte der Auffassungen über den Ursprung des organischen Lebens seit dem 17. Jahrhundert, S. 137-205). Oslo: Sexpol-Verlag, 1938
  • Wilhelm Reich: Bion Experiments on the Cancer Problem (with 38 Micro-Photos). Anhang: Drei Versuche am statischen Elektroskop. Rotterdam /Oslo / Kopenhagen: Sexpol-Verlag 1939
  • [Neuausgabe:] Wilhelm Reich: Die Bionexperimente. Zur Entstehung des Lebens. Anhang mit Artikel von Roger Du Teil. Frankfurt/M: Zweitausendeins 1995 ISBN 3-86150-099-X (mit einem Begleitheft von Heiko Lassek)
  • Wilhelm Reich: Die Orgon-Energie-Bläschen („Bione“) und die natürliche Organisation von Protozoen. In: ders.: Der Krebs. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974 (engl. 1948), S. 37-93 (und 94-114) ISBN 3-462-00972-9
  • Wilhelm Reich: Jenseits der Psychologie. Briefe und Tagebücher 1934-1939, Hrsg. v. Mary Boyd Higgins. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997 ISBN 3-462-02621-6 (ab 12. Dezember 1936 zahlreiche Einträge zur Arbeit mit „Bionen“)
Rezensionen von Die Bione (1938)
  • Chemisch Weekblad (Leiden/Holland), Nr. 695 (1938), p. 1025 (J. Selman)
  • Psychoanalytic Quarterly, Vol. 7,4 (1938), pp. 568-569 (Martin Grotjahn)
  • Vakblad voor Biologen, Vol. 20 (1938/39), pp. 158-159 (A. J. Kluyver)
  • Algemeen Nederlands Tijdskrift voor Wijsbegeerte en Psychologie, Vol. 32,4 (1939), p. 248 (F. W. V.)
  • Journal for Nervous and Mental Diseases, Vol. 91 (1940), p. 132 (Paul Schilder)

Fußnoten

  1. Zitate nach dem Glossar in Wilhelm Reich: Die Entdeckung des Orgons. Band 1: Die Funktion des Orgasmus. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 346
  2. Rainer Gebauer und Stefan Müschenich: Der Reichsche Orgonakkumulator. Naturwissenschaftliche Diskussion, praktische Anwendung, experimentelle Untersuchung. Frankfurt: Nexus-Verlag 1987 (koordinierte Diplomarbeit an der Universität Marburg), ISBN 3-923301-19-7
  3. Günter Hebenstreit: Der Orgonakkumulator nach Wilhelm Reich. Eine experimentelle Untersuchung zur Spannungs-Ladungs-Formel. Dipl.-Arbeit, Universität Wien 1995
  4. Bernhard Harrer: Kritische Evaluation der Lebensenergie-Forschung von Wilhelm Reich (Orgon-Theorie).Berlin 1997, Abstract der Arbeitsgruppe Orgon-Biophysik an der Abteilung für Naturheilkunde, Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin; dazu die Kritik von James DeMeo.
  5. Nicht zu verwechseln mit Reichs 1942 in englischer Übersetzung und 1969 erstmals auf deutsch erschienenem Buch gleichen Titels, das eine „wissenschaftliche Autobiographie“ (bis 1940) ist
  6. Vgl. dazu den Bericht Der Ausschluss Wilhelm Reich aus der Psychoanalytischen Vereinigung

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