Hartmut Ferworn

Hartmut Ferworn

Hartmut Ferworn (* 1949 oder 1950) ist ein ehemaliger Mitropa-Koch aus der DDR, der in der Zeit der Wende in der DDR von Menschenhändlern aus Ungarn nach Österreich entführt worden sein sollte, was sich später als frei erfundene Falschmeldung der DDR-Medien herausstellte. Die massenhafte Flucht von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik sollte damit als Ergebnis einer von der Bundesrepublik Deutschland unterstützten Abwerbekampagne „kaltblütiger berufsmäßiger Menschenhändler“ dargestellt werden.

Inhaltsverzeichnis

Meldung im Neuen Deutschland

Am 19. September 1989 wurde im Neuen Deutschland (ND) unter dem Titel „Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger ‚gemacht‘ werden“ ein Interview der ND-Journalisten Jochen Reinert und Olaf Standke mit dem Berliner Hartmut Ferworn („Mitglied der SED, glücklich verheiratet, drei Kinder“) veröffentlicht.[1]

Nach der Darstellung in der Zeitung war Ferworn, Koch im Speisewagen des Corvina-Express, am 11. September 1989 während eines Spazierganges in Budapest, wo er einige Stunden Aufenthalt gehabt hatte, von einem unbekannten Deutschen „mit Leipziger Dialekt“ und einer Ungarin mit Hilfe einer Tasse Kaffee und einer Mentholzigarette betäubt worden. Er sei dann in einem Reisebus „auf dem Wege in die BRD“ wieder erwacht und von seinem Entführer namens Jens Wunsch in die Wiener „BRD-Botschaft“ gebracht worden, wo sich noch viele weitere „verleitete DDR-Bürger“ befunden hätten. Sein Entführer habe dann von einem weiteren Bösewicht namens Strozzig einen „Packen D-Mark-Scheine“ als Lohn erhalten. Mit Hilfe der Wiener DDR-Botschaft habe er dann den „gewissenlosen Schleppern“ entkommen können.

Zwei Tage später wurden im Neuen Deutschland erregte Leserbriefe veröffentlicht („Bürger der DDR empört über den Menschenhandel der BRD“), am selben Tag gab es auch einen Filmbericht in der Sendereihe „Objektiv“ im DDR-Fernsehen.

Aufklärung

Nachdem sich die Eltern des angeblichen „Abwerbers“ und viele andere Leser über die Darstellung beschwert hatten, druckte das Neue Deutschland am 3. November 1989 eine Entschuldigung ab, ohne jedoch die Entführung als solche in Frage zu stellen.[2]

Nach der Wende wurde am 4. Januar 1990 im DFF die Reportage „Die Menthol-Zigaretten-Story. Eine Geschichte aus der alten DDR“ von Hannes Zahn ausgestrahlt. Darin schilderte Ferworn, wie er nach seiner Rückkehr in die DDR vom Ministerium für Staatssicherheit zu seinen Aussagen erpresst worden sei.[3][4] Ferworn war über Ungarn nach Wien ausgereist, hatte sich dort aber zur Rückkehr in die DDR entschlossen und sich nach anderen Quellen in Zusammenarbeit mit SED und MfS die Entführungsgeschichte als „Wiedergutmachungsleistung“ überlegt.[5] Am 5. Januar 1990 gab das ND zu, dass es sich bei der Ferworn-Story um eine frei erfundene Räuberpistole gehandelt hatte. Chefredakteur Herbert Naumann soll nach der Wende behauptet haben, dass Ferworns Geschichte der Zeitung von der Abteilung Agitation des ZK „aufgenötigt“ worden sei: „Ich habe sie leider zunächst geglaubt, denn natürlich gab es in Ungarn auch Abwerbung, und der Mann versicherte immer wieder auf Tonband, daß die Sache stimmt. ZK-Abteilung und Staatssicherheit bürgten für die Wahrheit. Gegenrecherchiert haben wir deshalb nicht.“[6]

Die Interviewverfasser Reinert und Standke waren noch in den 2000er Jahren beim Neuen Deutschland beschäftigt[7]. Olaf Standke war dort 2009 als Ressortleiter Ausland tätig.[8]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Faksimile eines Nachdrucks des ND-Artikels in der Volkswacht (heute: Ostthüringer Zeitung) vom 22. September 1989 bei spiegel.de
  2. Die Redaktion erhielt zahlreiche Zuschriften, in denen die Darstellung bezweifelt wurde, weil der Fall nicht typisch für den Weggang zahlreicher DDR-Bürger sei. [...] Wir müssen diese Kritik mit dem heutigen Erkenntnisstand akzeptieren und bedauern deshalb die Veröffentlichung.“
  3. Gunter Holzweißig: Wandel der DDR-Medien durch die „Wende“. In: Casper-Hehne/Schweiger (Hg.): Deutschland und die „Wende“ in Literatur, Sprache und Medien: Interkulturelle und kulturkontrastive Perspektiven, Universitätsverlag Göttingen 2009, S. 144f.
  4. Gunter Holzweißig: Zensur ohne Zensor. Die SED-Informationsdiktatur, Bonn: Bouvier 1997, S. 109ff.
  5. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München: C.H. Beck 2009, S. 353
  6. Blog von Peter Richter
  7. taz vom 4. November 2004
  8. Impressum Neues Deutschland, Internetquelle, abgerufen am 20. August 2009.

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