Hans Wilhelm Jürgens

Hans Wilhelm Jürgens

Hans Wilhelm Jürgens (* 29. Juni 1932 in Wolfenbüttel), ist ein deutscher ein Anthropologe. Er war der erste Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden[1] und Professor am Anthropologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.[2]

Inhaltsverzeichnis

Akademischer Werdegang

Jürgens wurde 1957 von der Philosophischen Fakultät und 1959 von der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Kiel promoviert und habilitierte sich ebendort 1960 mit der Schrift Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem. Jürgens war Schüler von Johann Schaeuble und Gerhard Mackenroth.[3]

Er wurde 1974 vom damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher zum Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) ernannt[4] und war in dieser Funktion bis 1979 tätig.[5] Dann kehrte er nach Kiel zurück und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung 1997 als Professor am Anthropologischen Institut der Universität.

Jürgens beschrieb den demographischen Wandel, aufbauend auf Modellen von Frank W. Notestein und Gerhard Mackenroth, als Modell in vier Phasen. Seinem Modell zufolge nimmt, beginnend von einem Gleichgewichtszustand mit hohen Geburten- und Sterberaten (erste Phase), zunächst nur die Sterberate deutlich ab (zweite Phase), anschließend sinkt die Sterberate nur noch geringfügig und eine Geburtenkontrolle setzt ein (dritte Phase) und schließlich wird ein erneuter Gleichgewichtszustand mit geringen Geburten- und Sterberaten erreicht.[6]

In der Studie „Sexualproportion und Heiratsmarkt“ stellte er, zusammen mit der Demographin Katharina Pohl, einen Männerüberschuss in Deutschland fest und prognostizierten Hunderttausenden Männern keine Chance auf eine Heirat.[7]

Rezeption

Jürgens gilt wie auch andere Mitglieder der Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft, als in der Tradition nationalsozialistischer Forscher verwurzelt.[3]

Die Schrift Jürgens, ein Repräsentant bundesdeutscher Bevölkerungswissenschaft wird als kennzeichnend für die Frage der Kontinuität des BiB mit der Zeit des Nationalsozialismus zitiert.[8]

Hans Wilhelm Jürgens, Rainer Knußmann und Hubert Walter, die gemeinsam mit Paul Emil Becker am Handbuch der Humangenetik mitarbeiteten, werden als „in die wissenschaftliche Kontinuität ihrer älteren Mentoren aus dem Dritten Reich eingebunden“ beschrieben.[9] Jürgens wird zugleich als „eugenischer Anthropologe“ bezeichnet.[9]

Hansjörg Gutberger, Autor und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, stellt distanzierend fest, dass Jürgens „eine (seiner eigenen Vorstellung zufolge) auf ‘Sozialtypen’ und die Identifizierung von ‘Asozialen’ ausgerichtete Soziologie innerhalb der Bevölkerungswissenschaft betrieben haben will“ (Hervorhebungen im Original).[5] Jürgens gehörte zu denjenigen Anthropologen, die Differenzierungen in „biologische Sozialtypen“ konstruierten, und dies vorwiegend zwischen unterschiedlichen sozialen Milieus innerhalb der eigenen Gesellschaft.[10]

Schriften (Auswahl)

  • Über die Beziehungen zwischen Kinderzahl, sozialer Schicht und Schulleistung bei Volksschülern der Stadt Kiel, Kiel 1957 (Dissertationsschrift, Philosophische Fakultät)
  • Ein Beitrag zur Frage der geographischen und sozialen Mobilität bei der Abwanderung vom Lande : Dargest. an Handwerkerfamilien der Stadt Kiel, Kiel 1959 (Dissertationsschrift, Landwirtschaftliche Fakultät)
  • Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem, Stuttgart: Enke, 1961 (auch Habilitationsschrift, 1960)
  • Beiträge zur menschlichen Typenkunde, Stuttgart: Enke, 1965 (mit Christian Vogel)
  • Kinderzahl, Wunsch und Wirklichkeit, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1975 (mit Katharina Pohl)
  • Der Einfluss des Elternhauses auf den Bildungsweg der Kinder: Ergebnisse einer Längsschnitt-Untersuchung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer, 1977 (mit Wolfgang Lengsfeld)

Einzelnachweise

  1. Gefährliche Fragen. Die braunen Schatten ihres Instituts fielen auf die Bevölkerungsforscherin Charlotte Höhn. Denkt sie rassistisch? In: Der Spiegel 38/1994. Spiegel online, abgerufen am 6. Februar 2011.
  2. Anthropologie und Völkerkunde (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) Professur/en gestrichen – Systematik: Ethnologie. Abgerufen am 6. Februar 2011.
  3. a b Christiane Kuller: Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes 1949–1975, Institut für Zeitgeschichte, Oldenbourg, 2004, ISBN 3-486-56825-6, S. 106
  4. Baby-Baisse: Staat im Schlafzimmer. Bevölkerungspolitik soll die westdeutsche Geburtenrate wieder in die Höhe treiben. In: Der Spiegel 13/1977. Spiegel online, 21. März 1977, abgerufen am 6. Februar 2011.
  5. a b Hansjörg Gutberger: Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, ISBN 978-3-531-14925-7, S. 104
  6. Hans Wilhelm Jürgens: Bevölkerungsdynamik in vorindustriellen Ländern. In: Hans-Bernd Schäfer: Bevölkerungsdynamik und Grundbedürfnisse in Entwicklungsländern, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 241, Berlin (1995). Zitiert nach: Karina Löscher, Christina Lamberg: Geburten vor der demographischen Transition. Rückständigkeit im historischen Vergleich: Europa im 19. Jahrhundert und Entwicklungsländer nach 1950. Abgerufen am 7. Februar 2011 (PDF, Seminararbeit). S. 6 f.
  7. Neue Frauen braucht das Land. In: Focus Magazin Nr. 15 (1993). 10. April 1993, abgerufen am 6. Februar 2011.
  8. Ludger Wess: Jürgens, ein Repräsentant bundesdeutscher Bevölkerungswissenschaft. In: Heidrun Kaupen-Haas (Hrsg.): Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Greno Verlag Nördlingen, S. 121–145. Zitiert durch Florence Vienne: Die „Lösung der Bevölkerungsfrage“ im Nationalsozialismus, S. 151–164. In: Rainer Mackensen: Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich”, Deutsche Gesellschaft für Demographie und Max Planck Institute for Demographic Research, Leske und Budrich, 2004, ISBN 3-8100-3861-X, Fußnote 1 auf S. 151
  9. a b Benoît Massin: Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder: Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte?, In: Heidrun Kaupen-Haas,Christian Saller: Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, S. 12–64, Campus, 1999, ISBN 3-593-36228-7, S. 45
  10. Gert Dressel: Historische Anthropologie: eine Einführung, bohlau Wien, ISBN 3-205-98556-7, 1996, S. 32

Weblinks


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