- Indische Volksreligion
-
Der Begriff Indische Volksreligion bezeichnet nicht einheitliche religiöse Phänomene und Praktiken in Indien, die sich z. B. von Strömungen des Hinduismus wie dem brahmanischen Sanskrit-Hinduismus und Stifterreligionen wie verschiedenen vishnuitischen oder shivaitischen Gruppierungen oder von Gurus gestifteten neuzeitlichen Gruppierungen unterscheiden, obwohl es zwischen der Volksreligion und der so genannten Hochreligion auch viele Gemeinsamkeiten, Vermischungen und Überschneidungen gibt. Die genauen Merkmale der Volksreligion und ihre Unterscheidung von anderen indischen Religionsformen stellen sich in der Wissenschaft nicht einheitlich dar, d. h. es gibt dazu unterschiedliche Ansätze, jedoch wird Volksreligion zumeist auf regionale und lokale Erscheinungen bezogen.
Inhaltsverzeichnis
Große und kleine Tradition
In der Indologie ist die Unterscheidung zwischen der sogenannten großen und kleinen Tradition üblich. Der sanskritische und brahmanische Hinduismus, der über ganz Südasien verbreitet ist, und zu großen Teilen homogen erscheint, wird die große Tradition genannt, während Volksreligion als kleine Tradition bezeichnet wird. Teilweise werden auch Sekten zur kleinen Tradition gezählt. In Indien selbst gibt es diese Art von Unterscheidung auch, indem man zwischen schastrischem und laukischem Hinduismus unterscheidet. Shastra bezieht sich auf die brahmanische Religion, während laukik von Loka, Ort abgeleitet wird und sich so auf lokale Religionsformen bezieht. Die Aufteilung in solche Unterscheidungen sind jedoch nicht einheitlich und es gibt verschiedenste Ansätze, was welcher Tradition zugeordnet wird. Als problematisch wird hierbei auch ein möglicher versteckter Evolutionismus angesehen. In diesen Konzepten der Unterscheidung von Hochreligion und Volksreligion sind diese auch insofern nicht als absolut getrennt anzusehen, weil beide nur Varianten sind, die einander beeinflussen und ergänzen. Der Vorteil einer solchen Unterscheidung liegt jedoch darin, dass die Überbetonung des schriftsprachlichen Hinduismus hier begrenzt wird.
Merkmale der indischen Volksreligion
Indische Volksreligion ist allgemein gesehen im Unterschied zum brahmanischen Sanskrit-Hinduismus, der über ganz Indien verbreitet ist, lokale oder regionale Religion. Sie hat zumeist keinen Universalanspruch, keine ausgearbeitete Theologie, Kosmogonie, Anthropologie oder über den Ahnenkult hinausgehende Jenseitsvorstellungen, jedoch Mythologie. Die Volksreligion Indiens hat einen stark apotropäischen Charakter und die Gottheiten erscheinen eher diesseitig und sind trotz Verehrung und Opfer nicht gesetzgebend. Die hinduistische Volksreligion ist polytheistisch und teilweise animistisch, hat eigene Priester, und die Texte dieser Religionsform sind häufig volkssprachlich und oral. (siehe auch Adivasi)
Die Gottheiten werden meist nur regional verehrt und ihre Mythologie hängt mit dem Ort der Verehrung zusammen. Zum Pantheon gehören zumeist auch Geister und vergöttlichte Helden. Die Gottheiten, die verehrt werden, sind sehr unterschiedlich, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie als mächtig angesehen werden und ihre Macht sich auf Bereiche bezieht, die im ländlichen Lebensraum Indiens das tägliche Leben unmittelbar betreffen. Da die Menschen auf dem Land in Indien in hohem Maß von der Natur abhängig sind, sind die religiösen Handlungen der Volksreligion zumeist unmittelbar lebensbezogen: Hunger und Durst zu stillen, die Ernte gelingen zu lassen, Krankheiten zu bannen oder den Tod fernzuhalten.
In der indischen Volksreligion sind viele lokale oder regionale Gottheiten vorzufinden, die häufig auch Klangottheiten sind. Diese Gottheiten sind oft in Steinen, Bäumen, Quellen und Felsen lokalisiert und werden dort verehrt. Oft müssen sie besänftigt werden, damit sie kein Übel bringen. Es gibt auch Gottheiten, die weiter verbreitet sind, wie z. B. Vana Durga, die die Dörfer vor den Gefahren des Waldes beschützt oder Bata Mangala, "die Heilvolle des Weges", welche die Reisenden vor den Gefahren der Straße beschützt. Ihre Schreine sind an vielen Ausfallstraßen, Landstraßen und auf Passhöhen zu finden. Durch Opfer versucht man, Bata Mangala zu besänftigen, da sie die Herrin über das Unheil ist, das einem auf der Reise widerfahren kann. Weiter gibt es auch eine Vielzahl anderer Gottheiten, die bestimmte Wirkungsbereiche haben, wie z. B. Shitala, die Göttin der Pocken, oder die schlangengestaltige Manasa, Herrin des Schlangengiftes, die besänftigt werden müssen.
Ahnengeister und die Ahnenverehrung spielen ebenso eine wichtige Rolle in der indischen Volksreligion. Sie werden rituell mit Trank- und Speiseopfern bedacht, damit sie zum Wohlstand und Glück der Familie beitragen. Eine Vernachlässigung dieser Riten führt im indischen Volksglauben beispielsweise zur Rache an den Hinterbliebenen durch Krankheiten, Vernichtung der Ernte. Ahnen, die verehrt werden, können beispielsweise auch deifizierte Helden oder Gurus sein. Auch Yakshas, die die Landschaft beherrschen, werden als mächtige Wesen angesehen, da sie die Elemente durchdringen. Die Nagas (mythologische Schlangen) stehen den großen Göttern des Hinduismus nahe, Shiva und Vishnu, denen sie als Schmuck und Thronsitz dienen, und haben ein eigenes Reich in der Unterwelt, Patalaloka. Auch als Fruchtbarkeitssymbol werden die Nagas verehrt.
Shaktismus in der Volksreligion
Der Shaktismus, die Verehrung von Göttinnen, ist in indischen Volks- und Stammesreligionen sehr populär. Die Göttinnen der Volks- und Stammesreligionen unterscheiden sich jedoch stark von den hinduistischen Devis und diese Kulte sind zumeist mit schamanistischen Praktiken verbunden. Gleichzeitig werden diese Göttinnen häufig als Erde angesehen, die als Mutter verehrt wird. Die Volks- und Stammesgöttinnen sind z. B. nicht anthropomorph und liebliche Gattinnen von männlichen Göttern, sondern sie erscheinen zumeist als alt, dunkel und häßlich und werden von Shilas repräsentiert, dunklen Steinringen. Diese Göttinnen der Volksreligion gelten in der Dorfgemeinschaft auch als Gottheit von Christen, Muslimen oder Adivasi, da sie als Mütter der Gemeinschaften angesehen werden. Eine Priesterkaste existiert in diesen Kulten nicht, häufig stammen Pujaris, nicht-brahmanische Priester, aus den niedrigsten Schichten und in den Religionen der Adivasi treten männliche und weibliche Schamanen, Heiler und Orakel auf, die Trancezustände anstreben und Besessenheitsrituale praktizieren, eine Praxis, die in den meisten dieser Kulte vorkommt. Von Seiten der Brahmanen und Regierungen werden diese Kulte oft als populärer Aberglaube angesehen, so dass es Versuche gibt, diese zu unterdrücken, jedoch ist diese Form des Shaktismus immer noch unter der indischen Bevölkerung weit verbreitet.
Literatur
- Heinrich von Stietencron: Der Hinduismus. C.H. Beck, München 2001, ISBN 3-406-44758-9
- Axel Michaels: Der Hinduismus. C.H. Beck, München 2006 ISBN 978-3406549748
- Denise Cush, Catherine Robinson, Michael York (Hrg.): The Encyclopedia of Hinduism. Routledge 2007
- MacKim Marriott: Village India; studies in the little community. Chicago (u.a.), Univ. of Chicago Press, 1969
- Roland Jansen: Die Bhavani von Tuljapur; religionsgeschichtliche Studie des Kultes einer Göttin der indischen Volksreligion. Stuttgart, Steiner, 1995 ISBN 3-515-06774-4
- Heidrun Brückner: Fürstliche Feste. Texte und Rituale der Tuḷu-Volksreligion an der Westküste Südindiens. Wiesbaden, Harrassowitz, 1995 ISBN 3-447-03660-5
- Eveline Masilamani-Meyer: Guardians of Tamilnadu - Folk deities, folk religion, Hindu themes. Halle 2004, ISBN 3-931479-61-7
Weblinks
Wikimedia Foundation.