Cerebrale Bewegungsstörungen

Cerebrale Bewegungsstörungen

Die cerebrale Bewegungsstörung wird als eine bleibende sensomotorische Störung infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung verstanden. Letztere ist definiert als eine Schädigung des Hirns in der Phase der motorischen Entwicklung, also vor, während oder nach der Geburt bis zum 5. Lebensjahr. Ursachen für die Hirnschädigung können sein: Hirnblutung, Sauerstoffmangel, Krankheit oder Schädel-Hirn-Trauma. Kinder mit einer cerebralen Bewegungsstörung sind in ihrer motorischen Entwicklung behindert. Eine abnorme Reflexaktivität mit Muskeltonusverschiebungen beeinflusst die Ausprägung der für das Körpergleichgewicht notwendigen, physiologischen Haltungsreflexe und Gleichgewichtsreaktionen. Im Bestreben, sich dennoch fortbewegen zu können, entwickeln die Kinder kompensatorische Bewegungsmuster, die oft zusätzlich behindern.

Unter Sensomotorik versteht man den Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung, die sich gegenseitig beeinflussen indem sie aufeinander einwirken.

Inhaltsverzeichnis

Bewegung

Wenn man von der cerebralen Bewegungstörung spricht, so erscheint es sinnvoll, auch eine kurze und grobe Erläuterung darüber zu geben, wie Bewegung funktioniert.

Bewegung lässt sich „als Auslöser und Reaktion von Schaltvorgängen begreifen, die im Gehirn organisiert werden“.

Im Gehirn sind drei Bereiche für Bewegung zuständig:

  1. Großhirnrinde (gezielte Einzelbewegungen),
  2. Stammhirn (differenzierte Bewegungen) und
  3. Kleinhirn (Bewegungskoordination).

Von der Großhirnrinde werden Impulse über die Pyramidenbahn zu den im Rückenmark liegenden Vorderhornzellen geleitet. Hier werden die Impulse auf periphere Neurone verschaltet, die über ihre motorischen Endplatten (= Synapsen zwischen Neuronen und Muskeln) den Muskel erreichen. Die Impulse des Stammhirns werden über extrapyramidale Nervenbahnen geleitet. Das Kleinhirn gibt Informationen zur Feinabstimmung von Bewegungen weiter. Durch eine Schädigung dieses Systems wird die Koordination von Bewegung und Muskelspannung gestört.


Ausprägungsformen

Je nachdem, welche Gehirnregion betroffen ist, kommt es zu unterschiedlichen Behinderungsarten. Die cerebrale Bewegungsstörung lässt sich in drei Ausprägungsformen einteilen: Spastik, Athetose und Ataxie, die jedoch oft in Mischformen auftreten. Bei der Spastik ist die Muskelspannung erhöht (Hypertonus), da das Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung gestört ist. Bei der Athetose ist die Muskelspannung wechselnd, bei plötzlichen Impulsen kommt es zu ausfahrenden Bewegungen z.B. der Arme und Beine. Die Ataxie ist von einer niedrigen Grundspannung geprägt, wodurch zielsichere Bewegungsausführungen erschwert sind.

Die Bewegungsstörung kann alle vier Extremitäten (Tetraplegie), die Beine (Diplegie) oder eine Körperhälfte (Hemiplegie) betreffen.

Spastik

Bei der Spastik sprach man früher auch von einer spastischen Lähmung. Die Hirnschädigung umfasst sowohl das extrapyramidalmotorische System als auch das Pyramidale System, welches für die Willkürmotorik verantwortlich ist, indem es gezielte Einzelbewegungen steuert. Schädigungen dieses Bereiches haben Folgen auf das Wechselspiel der Muskeln zwischen An- und Entspannung. Der Muskeltonus ist erhöht (Hypertonus), wodurch die Muskulatur verhärtet und die Reflexbereitschaft gesteigert sind. Die Co-Kontraktion (= gleichzeitige Anspannung von Agonisten und Antragonisten) ist enorm hoch. Dies hat eine sehr starre Körperhaltung zur Folge, die die Bewegungsfähigkeit der Betroffenen stark einschränkt und oft zu stereotypen Bewegungsmustern führt. Der Gleichgewichtssinn ist gestört und die Feinmotorik ist ebenfalls beeinträchtigt. Je nach Ausprägung der Schädigung kommt es entweder zu einer ständig erhöhten Muskelanspannung oder in leichteren Fällen der Spastik ist der Tonus nur bei Aktivität erhöht. Laut Udo Kalbe ist die Spastik mit 60% die meist vertretene Ausprägungsform der cerebralen Bewegungsstörungen.

Athetose

Der Begriff Athetose leitet sich vom griechischen Wort άθετος ('athetos') = 'nicht an seiner Stelle' bzw. 'ohne feste Stellung' ab.

Bei der Athetose betrifft die (in der Regel hypoxische) Läsion das extrapyramidale System. Bei dieser Störung liegt ein wechselnder Muskeltonus vor und es fehlt eine ausgeglichene, normale Co-Kontraktion. Im Ruhezustand ist die Muskelspannung zu niedrig, während sie bei Aktivität zwischen Hypo- und Hypertonus wechselt. Dieses lässt - besonders bei plötzlichen Bewegungsimpulsen - ausfahrende und bizarr geschraubte Bewegungen der Arme und Beine, besonders aber von deren distalen Abschnitten, entstehen. Betroffen sind nicht nur die willkürlichen Bewegungen, sondern es kommt auch zu unwillkürlichen Bewegungen mit den typischen Charakteristika. Zum Erscheinungsbild der Athetose gehört auch, dass der Betroffene eine erschwerte Kopfkontrolle hat. Kinder können sich dadurch nur mühsam in erhöhte Positionen aufrichten. Die Nahrungsaufnahme und das Sprechen werden durch die wechselnde Muskelspannung behindert. Ein weiteres Problem ist das Halten des Gleichgewichts, das jedoch eine sehr wichtige Komponente beim Erlernen des Laufens darstellt. Aus diesem Grund ist selbständiges Gehen oft nur bei leichten Formen der Athetose oder im fortgeschritteneren Lebensalter möglich. Die Schädigung betrifft zwar den gesamten Körper, meist aber zeigt sich eine deutliche Seitendifferenz, das heißt eine Seite ist stärker betroffen als die andere.

Ataxie

Die Bezeichnung Ataxie kommt ebenfalls aus dem Griechischen, wo αταζία 'Unordnung' bzw. 'ohne Ordnung' bedeutet.

Bei Ataxie handelt es sich um eine gestörte Koordination von Bewegungsabläufen. Sie beruht u.a. auf einer zu niedrigen Grundspannung der Muskulatur, die auch als Hypotonie bezeichnet wird. Die Bewegungen sind dadurch weniger zielsicher und Bewegungsabläufe wirken zumeist fahrig und unharmonisch. Die Dosierung und Abstufung, sowie das rasche Abbremsen von Bewegungen sind durch die niedrige Spannung erschwert, so dass Bewegungsabläufe mangelhaft koordinierbar sind.

Auch hat die Ataxie Auswirkungen auf das Gleichgewicht, welches erheblich gestört wird. Das Erlernen des Gehens ist dennoch möglich, der Gang wirkt jedoch schwankend (vergleichbar mit dem Gehen eines Betrunkenen). Die Ataxie ist meist mit einer Tetraplegie gekoppelt, das bedeutet, dass die gesamte Skelettmuskulatur von der Störung betroffen ist.

Nähere Ausführungen zu dem Thema liefern die Bücher:

  • Kalbe, Udo: Cerebral - Parese im Kindesalter. Kurzer Leitfaden für ärztlich, therapeutisch, pädagogisch und sozialberatend Tätige, New York, 1993.
  • Hedderich, Ingeborg: Einführung in die Körperbehindertenpädagogik, Stuttgart, UTB, 1999.

Soziokulturelle Faktoren

Die cerebrale Bewegungsstörung stellt wohl, laut Ingeborg Hedderich, die größte Gruppe der Körperbehinderungen dar. In den letzten Jahrzehnten ist ein enormer Anstieg dieser Erkrankung zu verzeichnen. Gründe dafür sind die Entwicklung und der heutige Stand der Medizin, wodurch viele Kinder überleben, die früher in den ersten Lebensjahren gestorben wären. Eine frühkindlich erworbene cerebrale Bewegungsstörung hat viele Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung des Kindes. Durch fehlende oder eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten ist das Erfahren der Umwelt beeinträchtigt bzw. erschwert. So lernt das Kind beispielsweise durch den Gebrauch seiner Hände viel über seine Umwelt; kann ein Mensch diese Erfahrungen jedoch nicht sammeln, so wirkt sich das auch auf alle anderen Entwicklungsbereiche aus.

Literatur

  • Kalbe, Udo: Cerebral – Parese im Kindesalter. Kurzer Leitfaden für ärztlich, therapeutisch, pädagogisch und sozialberatend Tätige, New York 1993.
  • Hedderich, Ingeborg: Einführung in die Körperbehindertenpädagogik, Stuttgart: UTB 1999.
  • Antor, Georg & Bleidick, Ulrich: Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus der Theorie und Praxis., Stuttgart: Kohlhammer 2001.
  • Bobath, Berta: Abnorme Haltungsreflexe bei Gehirnschäden, Thieme.
  • P.M. Davies: Im Mittelpunkt, Springer.
  • Vojta Vâclav: Die zerebralen Bewegungsstörungen im Säuglingsalter, Enke.

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