Kritik und Krise

Kritik und Krise

Kritik und Krise lautet der Titel einer Heidelberger Dissertation des Historikers Reinhart Koselleck von 1954. In der Buchausgabe von 1959 erhielt sie den Untertitel „Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“. In der Schrift unterzieht Koselleck die Aufklärung und ihre Geschichtsphilosophie einer vom Staatsdenken seines frühen Mentors Carl Schmitt beeinflussten kritischen Bestandsaufnahme. Die Beachtung, die das einflussreiche Buch erfuhr, dokumentieren die mehrfachen Auflagen (Erstausgabe 1959; Taschenbuchausgabe 1973, 11. Auflage 2010) und die zahlreichen Übersetzungen in viele Sprachen.

Inhaltsverzeichnis

Thema

Gegenstand des Buches ist die Darstellung einer - von Koselleck als geistesgeschichtlich zusammenhängend begriffenen - historischen Epoche im 18. Jahrhundert: des Absolutismus, der Aufklärung und der Französischen Revolution. Nachgezeichnet wird in drei Kapiteln die Geburt der modernen bürgerlichen Gesellschaft aus dem Schoß des europäischen Absolutismus. Die Einleitung umreißt das Thema mit den beiden Sätzen: „Der Absolutismus bedingt die Genese der Aufklärung; die Aufklärung bedingt die Genese der Französischen Revolution“.[1] Der absolutistische Staat pazifizierte „den durch die religiösen Bürgerkriege verwüsteten Raum“[2] und schuf die Voraussetzung für den Aufstieg des Bürgertums. In der Kritik an Kirche und Staat entfaltete sich das Selbstbewusstsein des Bürgertums im Bündnis mit dem antiabsolutistischen Adel. Die ausgeübte Kritik der Aufklärer am absolutistischen Staat führte zur politischen Krise, zur bürgerlichen Revolution.

Erstes Kapitel

Im ersten Kapitel wird nach der Genese und Struktur des absolutistischen Staates gefragt. Die Überwindung der religiösen Bürgerkriege ist die raison d‘être (Daseinsberechtigung) des Absolutismus. Der Staat wird zum Neutralisator religiöser Gegensätze. Die Staatslehre von Hobbes beruht darauf, dass der Mensch zum Untertan wird; seine Handlungen unterliegen restlos dem Staatsgesetz, während er im privaten Innenraum in seiner Gesinnung frei bleibt. Der Staat bietet Schutz gegen Gehorsam. Koselleck folgert, dass die „moralische Qualifikation des Souveräns“ darin besteht, „in seiner politischen Funktion, Ordnung zu stiften und Ordnung zu halten.“[3] Es sind die „grausamen Erfahrungen der konfessionellen Bürgerkriege“, aus denen sich die europäische Staatenordnung entfaltet.[4]

Zweites Kapitel

Die Herausbildung des Bürgertums als einer neuen Schicht von Kaufleuten, Bankiers, Steuerpächtern und Geschäftsleuten mit einem spezifischen Selbstverständnis behandelt das zweite Kapitel. Unter Beachtung des für den Absolutismus konstitutiven Dualismus von Politik und Moral, der Trennung in Mensch und Untertan wird für die bürgerlichen Aufklärer zunächst der Bereich der privaten Moral zur Domäne ihrer Selbstorganisation und Kritik. Als ihre beiden wichtigsten Organisationsformen beschreibt Koselleck die Freimaurerlogen und die „Gelehrtenrepublik“. Die von ihnen in dieser Privatsphäre geübte moralische Kritik greift zunächst auf die Texte der heiligen Schriften und dann auf den Staat über, mit der Folge, dass dessen Autorität unterminiert wird. Indem ihre Elite „den absolutistischen Staat und die Kirche negierten“, gewann die bürgerliche Schicht an Selbstbewusstsein und betrachtete sich „in steigendem Maße als den potentiellen Träger der politischen Macht“.[5] Die Etappen der zunehmend politischer werdenden Kritik zeichnet Koselleck an den Schriften des Bibelexegeten Richard Simon und der Aufklärer Bayle, Voltaire, Diderot und Kant nach.

Drittes Kapitel

Das dritte Kapitel beschreibt die sich zuspitzende Krise im Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und absolutistischem Staat im Spiegel der Schriften von Rousseau, Raynal und Thomas Paine. Die souveräne bürgerliche Kritik sprengt den moralischen Innenraum und gebiert die „Souveränität der Gesellschaft“ über den Staat.[6] Die Krise erfasst Staat und Gesellschaft und fällt nach Rousseau mit der Revolution zusammen.[7] Koselleck konstatiert eine verblindete „Herrschaft der Utopie“, die, da sie das Wesen der Macht (die Verhinderung des Bürgerkrieges) verkennt, „Zuflucht zur schieren Gewalt“ nimmt[8] und in der Geschichtsphilosophie ihre Rechtfertigung sucht.

Kritische Rezeption

Jürgen Habermas hat in seiner Studie über die Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit – Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) – viele historische Hinweise Kosellecks aufgriffen.[9] Er hält aber die These des Buches, „dass die als indirekte politische Gewalt etablierte Kritik notwendig die Krise auslöst“ nicht für überzeugend. Indem Koselleck das „Prinzip der öffentlichen Diskussion als eins des Bürgerkriegs diskreditiert“, verkenne er die objektive Intention der Öffentlichkeit, die nicht auf eine Moralisierung, sondern auf Rationalisierung der Politik hinauslaufe und später in der Gestalt des bürgerlichen Rechtsstaates, durch die Institutionalisierung der Öffentlichkeit im Parlament als Staatsorgan, ihre Erfüllung gefunden habe.[10] Dem entwickelten Marktverkehr der Bürger untereinander wohne eine Rationalität inne, die darauf abziele, dass die politische Gewalt in öffentliche Gewalt überführt werde. Die Geschichtsphilosophie artikuliere „die Idee der machbaren Geschichte“,[11] nämlich dass die Menschen den geschichtlichen Prozess selbst in Hand nähmen.

Zitat

„Wäre nicht 1947 ein Buch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mit dem Titel Dialektik der Aufklärung erschienen, dann wäre Kosellecks Dissertation so betitelt worden.“

Ute Daniel: 2006, Reinhart Koselleck, In: Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft, Band 2, S. 170.

Der Vergleich beider Bücher beruht darauf, dass aufklärende Kritik im historischen Prozess in ihr Gegenteil umschlägt, in Despotie und umfassende Manipulation. Die Begründungszusammenhänge differieren jedoch erheblich: Während Horkheimer und Adorno diese Dialektik menschheitsgeschichtlich viel tiefer, an der Selbstbehauptung des Subjekts, ansetzen, bezieht sich Koselleck auf politische Prozesse des 17. und 18. Jahrhunderts, deren aufklärende Kritik ihm zufolge in politische Krisen und schließlich Revolutionen mit zerstörerischem Charakter einmünden würde.

Textausgaben

  • Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt.
    • Erstausgabe: Verlag Karl Alber, Freiburg, München 1959
    • Taschenbuchausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973; 11. Auflage 2010

Literatur

  • Sisko Haikala: Criticism in the Enlightenment. Perspectives on Koselleck‘s Kritik und Krise Study. In: Finnish Yearbook of Political Thought. Vol. 1 (1997), S. 70–86. (Weblink)

Einzelbelege

  1. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Taschenbuch-Ausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, S. 5.
  2. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Taschenbuch-Ausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, S. 8.
  3. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Taschenbuch-Ausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, S. 26.
  4. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Taschenbuch-Ausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, S. 37.
  5. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Taschenbuch-Ausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, S. 102f.
  6. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Taschenbuch-Ausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, S. 155.
  7. Koselleck zitiert Rousseau: „Nous approchon de l'état de crise et du siècle des révolutions.“ (Wir nähern uns dem Zustand der Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen.)
  8. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Taschenbuch-Ausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, S. 156f.
  9. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Luchterhand, Neuwied 1962, S. 104.
  10. Jürgen Habermas: Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie. In: ders.: Kultur und Kritik. 2. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 357f.
  11. Jürgen Habermas: Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie. In: ders.: Kultur und Kritik. 2. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 359.

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