Lübecker Fastnachtspiele

Lübecker Fastnachtspiele

Die Hansestadt Lübeck gilt als eine der Hauptstätten fastnächtlicher Spieltradition des Mittelalters. Die Lübecker Fastnachtspiele wurden zum größten Teil von einer elitären Bruderschaft – der Zirkelgesellschaft – produziert und hatten häufig eine lehrhafte Ausrichtung.

Inhaltsverzeichnis

Lübecker Fastnachtspieltradition

Entstehung

Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts wurde die Hansestadt Lübeck systematisch zur Handelsmetropole ausgebaut. Die Stadt blühte rasch auf, pflegte weitreichende und fruchtbare Handelsbeziehungen und erhielt zahlreiche Rechte und Privilegien wie z.B. die Zollfreiheit. 1226 wurde Lübeck schließlich zur freien Reichsstadt ernannt und war damit unabhängig. [1] Die Entstehung der Lübecker Fastnachtspieltradition steht in deutlichem Kontext zu diesen ökonomischen und politischen Entwicklungen der Hansestadt. So wurde der Kulturbetrieb der Hansestadt und besonders die Lübecker Fastnachtspieltradition stark von der Theaterkultur der Niederlande und Belgien inspiriert, [2] da die Stadt besonders zu diesen Regionen enge Handelskontakte pflegte. Auch wirkte sich der starke Einfluss der patrizischen Zirkelbruderschaft auf das Gefüge und die Geschehnisse in Lübeck deutlich auf die Entstehung einer Fastnachtspieltradition aus. Als Beginn einer Fastnachtspieltradition lässt sich für Lübeck aus Aufzeichnungen das Jahr 1430 belegen. [3] Aus der Zeit zwischen 1430 bis 1539 sind etwa 150 Aufführungen weltlicher Spiele nachweisbar. [4]

Lübecker Zirkelgesellschaft

Die drei berühmtesten Lübecker Bruderschaften: Die Zirkelgesellschaft, gegründet 1379 als religiöse Bruderschaft, die als Juniorenverein mit ihr verbundene Kaufleutekompanie, gegründet um 1450, und die wahrscheinlich nach ihrem Gründer Alf Greverade[5] benannte und ebenfalls um 1450 gegründete Greveradenkompanie, geben in ihren teilweise erhaltenen Administrationsbüchern Auskunft über die Fastnachtsspiele der Stadt. [6] Im Jahr 1429 schrieben die Zirkler in ihren Satzungen den Beschluss nieder, sich durch Fastnachtspiele öffentlich zu repräsentieren. [7] Geplant, verfasst und aufgeführt wurden diese Spiele hauptsächlich von der Zirkelgesellschaft, die einflussreichste Bruderschaft der damaligen Zeit, und dominierend in Wirtschaft, Politik und Verwaltung der Hansestadt. [8] Die Kaufleutekompanie veranstaltete zwar auch öffentliche Fastnachtspiele, orientierte sich dabei, wie bei allen geselligen Anlässen, aber immer stark an der Zirkelgesellschaft. [9] Die in Lübeck im Gegensatz zu Nürnberg weniger populären Einkehr- oder Stubenspiele wurden dagegen häufig im Haus der Greveradenkompanie vorgetragen.

Themen

Bereits im 13. Jahrhundert lässt sich für Lübeck eine Lateinschule nachweisen. Wie Wandmalereien in Lübecker Altstadthäusern der damaligen Zeit zeigen, legten die Patrizierfamilien sowohl Wert darauf das Erbe der höfischen Literatur weiter zu tragen, als auch die Bildende Kunst zu fördern. Außerdem verfügte Lübeck gerade im 15. Jahrhundert über einen permanenten buchhändlerischen Markt, auf dem sich Drucke sowohl aus dem mittel- und süddeutschen Raum als auch aus den Niederlanden fanden. [10] Derartige Beispiele lassen darauf schließen, dass das Bildungsniveau der mittelalterlichen Lübecker Oberschicht bereits relativ hoch war. [11] Diese Tatsache beeinflusste wiederum auch den Charakter der öffentlich vorgetragenen Fastnachtspiele. Die aufgezeichneten Titel der Lübecker Fastnachtspiele lassen ein breit gefächertes Interesse an den unterschiedlichsten Themen erkennen. Im Gegensatz zum Großteil der Nürnberger Spiele zeigt sie aber nicht die Tendenz zur ausschließlich ausgelassen derben Unterhaltung. Gerne orientierte man sich an antiken Sagenstoffen, Mythen und klassischer Historie wie z.B. die Trojasage, die Artusepik oder den Abenteuern von Alexander dem Großen. Aber auch Bibelepisoden, Fabeln und aktuelle Zeitereignisse, wie 1500 die zwei Wochen zurückliegende Niederlage der Dänen gegen die Dithmarscher, wurden behandelt. [12] Gemeinsam haben die Stücke meist eine Neigung zur Allegorisierung, die mit einer Exempelstruktur und lehrhafter Ausrichtung einhergeht. [2] Die literarischen und moralischen Lübecker Fastnachtspiele orientierten sich hier an der Fastnachtspieltradition aus Flandern. [13] Der Ernst einiger Spiele wurde durch satirische Elemente aufgeheitert. Bestätigt wird diese Tendenz auch durch das einzige aus Lübeck erhaltene Stück „Henselin“.

Die Handlung des Spiels und auch die illustrierenden Holzschnitte stellen das Stück in die Tradition der Narrenliteratur. Auch ist die Tendenz zur Ständedidaxe und Ständesatire zu erkennen [14] lässt sich doch die Rechtschaffenheit nicht einmal bei Papst und Kaiser finden und haben die armen Bauern noch nie etwas von ihr gehört. Allerdings lässt der Text auch bemerken, dass seine Verfasser einer patrizischen Brüderschaft angehören. So macht Henselin in seiner Erläuterung zu den unlauteren Praktiken der Reichen und Kaufleute in den Städten (S.X, Z.14ff) deutlich, dass eine derartige Ausbeutung der armen Bevölkerung nicht hier in der eigenen Stadt vorkomme und nicht nur in den Städten der Lombardei. Diese Darstellung verkörperte zugleich einen Seitenhieb auf die lombardischen Konkurrenten im Fernhandel. [15] So stellt Henselins Suche nach der rechtferdicheyt wohl die Bearbeitung eines typischen Lübecker Fastnachtspiels der patrizischen Zirkelgesellschaft mit lehrreichem, moralischem Inhalt dar.

Aufführungspraxis

Da die Organisation, Produktion und Aufführung der Fastnachtspiele in Lübeck der politisch einflussreichen Zirkelgesellschaft und der Kaufleutekompanie oblag, konnten hier die Spiele, anders als in Nürnberg, öffentlich aufgeführt werden. Nachdem die, von den Schaffern gewählten, vastelavende dichter das jeweilige Fastnachtstück geschrieben und die Inszenierung vorbereitet hatten, wurde mit Schaufahrten für das Spiel geworben. An den drei großen Fastnachttagen (Sonntag, Montag und Dienstag) fuhren die Bruderschaften, angeführt von der Zirkelgesellschaft, auf ihren Wagen durch die Stadt, um auf öffentlichen Plätzen, wahrscheinlich dem Lübecker Marktplatz oder auch dem Koberg oder Klingenberg ihr Fastnachtspiel vorzutragen. Zum Spiel gehörte auch eine Vor- und Nachrede, die vom ältesten Fastnachtsdichter gehalten werden musste. Die Bühne befand sich als so genannte Wagenbühne borch (Burg) bereits auf dem Fuhrwerk. Bei dieser Form der Präsentation hatten sich die Zirkler, ähnlich wie bei der moralischen Thematik ihrer Spiele, von der Theaterkultur aus Flandern inspirieren lassen und die Wagenbühnen wahrscheinlich importiert. [16] 1430 wurde auf diese Weise mit dem im Schafferbuch verzeichneten Stück „Wie der Sperber der Göttin gegeben wurde“ das erste Wagenspiel in Lübeck aufgeführt.

Durch die bewegliche und erhöhte Bühne und den Einfluss der Bruderschaften auf die Geschehnisse in der Stadt, konnten die in Lübeck aufgeführte Spiele wahrscheinlich besser mit den anderen Belustigungen der Fastnachtzeit konkurrieren und mussten nicht im privaten Raum wie in Nürnberg stattfinden. [17] Neben den üblichen öffentlichen Fastnachtspielen wurden aber in Lübeck ebenfalls, wenn auch nicht in vergleichbar großer Zahl wie in Nürnberg, die so genannten Einkehrspiele aufgeführt. So verzeichnet das Amtsbuch der Greveradenkompanie in den Jahren zwischen 1496 und 1532 mehrere Stubenspiele mit heiterem Inhalt. Diese wurden meist von Schülern, Lehrern oder Handwerkern vorgetragen. [18] Als Abschluss und sicherlich auch gesellschaftlicher Höhepunkt der Fastnachtfeierlichkeiten wurde ein Fackeltanz veranstaltet, wobei die Bruderschaften mit Fackeln und begleitet von Trommlern in einer Kette durch die Stadt zogen. An diesem Zug waren alle Bruderschaften, der Rat und die Bürgermeister beteiligt, präsentierten so der Lübecker Bevölkerung die Einheit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dominanz der Hansestadt und setzten sich großartig in Szene. [19] Der Tanz endete schließlich mit einem Gelage im Ratskeller. [20]

Überlieferung

Obwahl fast keine Orinaltexte erhalten sind, lässt sich eine reichhaltige Fastnachtspieltradition für Lübeck in anderen historischen Quellentexten nachweisen. Chroniken der Bruderschaften, Eintragungen in Ratsbüchern und Stadtrechungen belegen ca. 150 Aufführungen. Lediglich das oben bereits erwähnte „Henselin oder die Suche nach der Rechtfertigkeit“ ist erhalten, wenn auch nicht als Spielskript, sondern als 1500 als Erbauungsschrift herausgebrachter Druck. Dieser Druck befindet sich heute in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. [21] Die übrigen Spielskripte der Zirkelgesellschaft wurden wahrscheinlich 1535 bei einem Aufstand und damit verbundenen Plünderungen um den Kaufmann Jürgen Wullenwever als Besitztum der patrizischen Zirkler zerstört. Auch in anderen Städten mit einer Fastnachtspieltradition sind die Spieltexte weitestgehend zerstört bzw. verschwunden. Eine Ausnahme bildet hier die Stadt Nürnberg. Hier sind 108 Spieltexte in zwölf in Nürnberg und in Augsburg aufbewahrten Handschriften erhalten sind. [22] Weitere indirekte Belege finden sich auch hier in Ratserlässen,

Literatur

  • Sonja Dünnebeil: Die Lübecker Zirkel-Gesellschaft. Formen der Selbstdarstellung einer städtischen Oberschicht. Lübeck 1996.
  • Glenn Ehrstine: Aufführungsort als Kommunikationsraum. Ein Vergleich der fastnächtlichen Spieltradition Nürnbergs, Lübecks und der Schweiz. In: Klaus Ridder (Hrsg.): Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Tübingen 2009, S. 83-97.
  • Dietz-Rüdiger Moser: Fastnachtsbrauch und Fastnachtsspiel im Kontext liturgischer Vorgaben. In: Klaus Ridder (Hrsg.): Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Tübingen 2009, S. 151-162.
  • Wolfgang Spiewok: Das deutsche Fastnachtsspiel: Ursprung, Funktion, Aufführungspraxis. Greifswald 1997.
  • Christoph Walther: Das Fastnachtspiel Henselin. In: Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung. Jahrgang 1877. Bremen 1878. S. 9-36.
  • Dieter Wuttke (Hrsg.): Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts. Stuttgart 2006.

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Spiewok: Das deutsche Fastnachtsspiel: Ursprung, Funktion, Aufführungspraxis. Greifswald 1997, S. 33.
  2. a b Ragotzky 2003, S. 569.
  3. Dieter Wuttke (Hrsg.): Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts. Stuttgart 2006, S. 425.
  4. Eckehard 2003, S. 4.
  5. Siehe auch zur Familie: Adolf Greverade
  6. Eckehard 2003, S. 225.
  7. Eckehard 2003, S. 230.
  8. Eckehard 2003, S. 226.
  9. Eckehard 2003, S. 238.
  10. Sonja Dünnebeil: Die Lübecker Zirkel-Gesellschaft. Formen der Selbstdarstellung einer städtischen Oberschicht. Lübeck 1996, S. 106.
  11. Spiewok 1997b, S. 255
  12. Dünnebeil 1996, S. 104.
  13. Simon 2003, S. 269.
  14. Spiewok 1997b, S. 258
  15. Spiewok 1997b, S. 259.
  16. Simon 2003, S. 359.
  17. Glenn Ehrstine: Aufführungsort als Kommunikationsraum. Ein Vergleich der fastnächtlichen Spieltradition Nürnbergs, Lübecks und der Schweiz. In: Klaus Ridder (Hrsg.): Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Tübingen 2009, S. 94.
  18. Ersthine 2009, S. 83.
  19. Dünnebeil 1996, S. 109.
  20. Søndergaard, Leif: 2002, S. 220.
  21. Simon 2003, S. 4.
  22. Spiewok 1997, S. 5.

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