Max Kirmsse

Max Kirmsse

Max Kirmsse (* 1. Juni 1877 in Markranstädt; † 17. September 1946 in Idstein) war Pädagoge, Politiker und Historiker. Maßgebliches Werk sind seine pädagogischen Forschungen und seine Erkenntnisse als Historiker der Sonderpädagogik/Heilpädagogik.

Inhaltsverzeichnis

Lebenslauf

Kirmsse wurde als Sohn eines Gasthofbesitzers geboren. Seine Kindheit war geprägt durch die zwei unglücklichen Ehen seiner Mutter. Er entschloss sich Missionar zu werden. So besuchte er ab 1898 als Missionsaspirant die Missionsanstalt Hermannsburg und studierte 1899 am Collegium Orientale in Berlin-Westend bei Pastor Faber. Faber war es, der seinem Leben eine neue Richtung gab, als er ihm nahelegte sich der Erziehung und Fürsorge geistig Behinderter zu widmen. Von 1901 bis 1910 erlernte er an verschiedenen Anstalten als Lehrer den Umgang mit behinderten Kindern. Er arbeitete dabei an den Anstalten in Neinstedt, Oldenburg, München-Gladbach, Hermannsfeld, Neuerkerode, Ketschendorf, Trier und Heidelberg.

1910 kommt Kirmsse an den Kalmenhof nach Idstein und findet hier eine dauerhafte Anstellung. Er heiratet 1910 auch, seine Frau stirbt allerdings bereits 1914. Nach dem Ersten Weltkrieg tritt er der SPD bei. 1920 wird er zum Stadtverordneten gewählt, ein Amt, dass er bis 1932 ausfüllt. 1922 kommt es zu einem Zerwürfnis mit der Leitung des Kalmenhofs, weswegen er seine Anstellung hier verliert. Ebenso wird er ab 1922 als Kommunallandtagsabgeordneter tätig. Von nun an arbeitet er im Wesentlichen als Schriftsteller, initiiert aber 1925 noch das "Museum für Schwachsinnigenbildung". 1929 heiratet er Elisabeth Wigginhaus.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 bekommt Kirmsse als Mitglied der SPD Schwierigkeiten mit den neuen Machthabern. Urs Haeberlin schreibt, dass er eine gewisse Distanz zur nationalsozialistischen Lehre vom 'lebensunwerten Leben' Behinderter gehabt [hatte]. Er trat relativ deutlich für das Lebens- und Erziehungsrecht Geistigbehinderter ein[1]. Hans Würtz, der ebenfalls SPD-Mitglied war und mit dem Kirmsse in regem Kontakt stand, schrieb in einem Brief vom 27. Februar 1932 an seinen Freund und Kolllegen folgende Zeilen, die die dezidierte sozialistische Einstellung der beiden Heilpädagogen deutlich veranschaulicht:

Mit der Einsetzung für den Sozialismus rundet sich, finde ich, die Weltanschauung der Heilpädagogen nach der politischen Seite hin. Wie der sozialistische Politiker sich einsetzt für die wirtschaftlich Schwachen, so setzt sich der sozialistische Pädagoge für die geistig Schwachen ein, die er - soweit ihre Kräfte reichen - hinauf-geleitet zum Sein eines freien, sozialen Menschenlebens[2].

Von 1933 bis 1945 hat Kirmsse in keiner Fachzeitschrift mehr Artikel veröffentlicht. Sein Leben ist fortan geprägt von Kränkungen, Drohungen, Hausdurchsuchungen und auch Verhaftungen. Verstärkt widmet er sich der Familienforschung.

Nach dem Ende des dritten Reichs übernimmt er kurzzeitig die kommissarische Leitung des Kalmenhofs. Er verstirbt unerwartet 1946 auf der Treppe des Idsteiner Rathauses.

Zu seinem Erbe gehörte unter anderem die größte Privatbibliothek auf dem Gebiet der Heilpädagogik.[3]

Werk

Max Kirmsee gilt als einer der profundensten „Kenner der Geschichte der Heilpädagogik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“[4]. Dabei erwarb er sich große Verdienste innerhalb der Geschichte des „Schwachsinnigenwesens“, „huldigte“ aber auch der „Gepflogenheit“, „die demselben verwandten Gebiete, z. B. Kinderseelenkunde, die Krüppelfürsorge usw. zu beachten“[5]. Kirmsse veröffentliche Aufsätze in den damals renommiertesten Fachzeitschriften der Sonderpädagogik/Heilpädagogik wie z. B. „Zeitschrift für Kinderforschung“, „Heilpädagogische Schul- und Elternzeitschrift“, „Die Hilfsschule“, „Zeitschrift für Krüppelfürsorge“, „EOS. Vierteljahresschrift für die Erkenntnis und Behandlung jugendlicher Abnormer“ oder „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger“. Für das seinerzeit und noch heute hochgeschätzte Fachbuch „Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik“ (1. Auflage 1911, 2. Auflage 1934) hatte er zahlreiche Artikeln (fast 300) geschrieben. Der Anstaltslehrer verfasste Beiträge über bedeutende Pädagogen, Ärzte, Heil-/Sonder-/Schwachsinnigenpädagogen des In- und Auslandes (z. B. Edouard Séguin, Maria Montessori, Friedrich Fröbel, Hans Jacob Guggenbühl, Salomon Krenberger), Schwachsinnigenpädagogik und ihre Geschichte, Schwachsinnige im Kulturleben, Hilfsschule, Blinden- und Taubstummenwesen, Körperbehindertenfürsorge, Kinderpsychologie, Jugendschutz etc. Seine vielfältige und die unterschiedlichsten Fachdisziplinen berücksichtigende wissenschaftliche Hinterlassenschaft fasst Richard von Premerstein wie folgt zusammen:

Max Kirmsse hat sich bei seiner Arbeit nicht nur auf das Gebeit der Schwachsinnigenbildung beschränkt, sondern auch die Pädagogik der Blinden, Taubstummen, Taubstummblinden, Körperbehinderten usw. berücksichtigt. Zeigen doch alle pädagogischen Bemühungen für das geschädigte Kind trotz der Verschiedenheit der einzelnen Fächer auch bestimmte gemeinsame Gundlinien. Der Lehrer des geistig behinderten Kindes, so forderte es Kirmsse, muß über alle Gebiete der Sonderpädagogik Bescheid wissen... Auch hat Max Kirmsse die Standpunkte von Medizin, Pädagogik, Rechtswissenschaften, Theologie und Philosophie über die Sonderpädagogik und das geistig und körperlich geschädigte Kind hinzugezogen. Die Medizin erforscht die körperlichen Ursachen der Schädigung, die Pädagogik beschäftigt sich mit der Methodik für den Unterricht des geschädigten Kindes, die Rechtswissenschaft legt Rechte und Pflichten gegenüber den Geschädigten fest, Theologie und Philosophie fragen nach Sinn, Zweck und Wert von Krankheit und Leiden in der Welt. Kirmsses Arbeit trägt durch diese vielseitige Betrachtungen viel dazu bei, die Sonderpädagogik als Ganzes und Eigenständiges zu begreifen[6].

Ehrungen

In Idstein wurden sowohl ein Straßenzug als auch die Max-Kirmsse-Schule nach ihm benannt.

Werke (Auswahl)

  • Die Geschichte des Schwachsinnigenwesens, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger 1906, S. 76-77
  • Der Krüppel in der Belletristik, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge 1909, S. 144-155
  • Zur Geschichte der Hilfsschule, in: Die Hlfsschule 1910, S. 201-207
  • Weises Betrachtungen über geistesschwache Kinder, Langensalza 1911a
  • Zur Geschichte der frühesten Krüppelfürsorge, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge 1911, S. 3-18
  • Die Schwachsinnigenfürsorge in Nassau, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger 1913, S. 208-212
  • Die Schriften des Fröbelforschers Dr. Johannes Prüfer, in: EOS 1917, S. 226-236
  • Eine Enzyklopädie der Abnormenbehandlung aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: EOS 1917, S. 79-85
  • Die Entwicklungsperioden der Hilfsschule, in: Die Hilfsschule 1918, S. 193-200
  • Die Priorität in der Begriffsbildung "Wortblindheit", in: Zeitschrift für Kinderforschung 1918, S. 119-211
  • Pestalozzi und die Schwachsinnigen, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger 1927, S. 1-14 u. 23-29
  • Fröbels Beziehungen zur Heilpädagogik, in: Zeitschrift für die Behandlung Anomaler 1930, S. 65-85

Literatur

  • Richard von Premerstein Max Kirmsse, ein Historiker des Sonderschulwesens. Leben und Werk in Zeitschrift für Heilpädagogik Jg. 14 (1963), Heft 12, S. 688-695
  • Urs Haeberlin: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft, Bern/Stuttgart/Wien 1996
  • Maximilian Buchka u.a. (Hrsg.): Lebensbilder bedeutender Heilpädagoginnen und Heilpädagogen im 20. Jahrhundert, München/Basel 2000
  • Siglind Ellger-Rüttgardt: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München/Basel 2008

Weblinks

Max Kirmsse auf der Homepage der Max-Kirmsse-Schule

Einzelnachweise

  1. Haberlin 1996, S. 85
  2. zit. n. Buchka u.a. 2000, S. 389
  3. In Memoriam Max Kirmsse - Idsteiner Zeitung vom 1. Juni 1957
  4. Ellger-Rüttgardt 2008, S. 87
  5. Kirmsse 1911a, S. VI
  6. Premerstein 1963, S. 692

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