Mitteladriatische Kultur

Mitteladriatische Kultur

Mitteladriatische Kultur (it.: cultura medio-adriatica) ist ein archäologischer Sammelbegriff für die vorrömische Bevölkerung der Abruzzen in Italien.

Inhaltsverzeichnis

Forschungsgeschichte

Bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war die Eisenzeit in den Abruzzen nur wenig erforscht. Bekannt waren lediglich das große Gräberfeld von Alfedena in den südlichen Abruzzen, dessen Fundgeschichte mit Ereignissen am Ende des zweiten Weltkrieges verbunden ist, und der Bestattungsplatz von Campovalano in den nördlichen Abruzzen in der Nähe der Adria, dessen Grabinventare erst vor einigen Jahren systematisch vorgelegt wurden.

Aufgrund der Ähnlichkeit der Grabausstattungen wurde in den 70er Jahren von Valerio Cianfarani der Begriff mitteladriatische Kultur geprägt, der alle archäologischen Gruppen bzw. Stammesgruppen der Eisenzeit (7.–5. Jahrhundert v. Chr.) zwischen den Abruzzen und der Molise einbezieht. Genauer lässt sich die Abgrenzung beschreiben als das Gebiet zwischen den Flüssen Tronto im Norden, Biferno im Süden und den inneren Zentralapennin. Linguistisch betrachtet, bilden sie einen Teil der als Italiker bezeichneten Völker, die durch eine gemeinsame oskisch-umbrische Sprachfamilie verbunden sind. Außerdem wird der Begriff mitteladriatische Kultur auch historisch und geographisch definiert, was zu Unklarheiten im Sprachgebrauch führte.[1] Geographisch ist manchmal der gesamte ostadriatische Bereich vom Monte Conero bis zum Gargano (Apulien) gemeint, was somit auch die Marken (das ehemalige Picenum) miteinschließt, aber der ursprünglichen Begrifflichkeit Valerio Cianfaranis nicht entspricht. Das führte in letzter Zeit dazu, im Umkehrschluß das eindeutig geographisch und archäologisch definierte Gebiet der Picener[2] bis in die Abruzzen auszudehnen, was weder archäologisch noch historisch zu begründen ist.

Spätestens seit dem 5. Jh. v. Chr. wird eine klare ethnische Differenzierung von Vertretern der beiden Gruppen selbst vorgenommen. So erscheint auf den Stelen, die 1974 in Penna Sant'Andrea im Gebiet um Teramo und Campovalano gefunden wurden, der Name Safin - (safinús, safinúm, safinas, safina), der in der südpicenischen Sprachgruppe sabinisch bedeutet, also die zu den Sabinern gehörigen Gemeinschaften. Im Gegensatz dazu wird auf den Inschriften der Stelen aus den heutigen Marken die Form púpún- verwendet - was picenisch bedeutet.

Der Begriff mitteladriatische Kultur bleibt aber letztendlich ein Kunstbegriff, der den einzelnen facies bzw. archäologischen Gruppen nur zum Teil gerecht wird, da sie, wie neuere Forschungen zeigen, weitaus größere Unterschiede zueinander besitzen. Solange aber keine bessere Alternative gefunden ist, sollte der Begriff verwendet werden, um die abruzzesischen Stämme von den Picenern abzugrenzen.

Ausgrabungen

Durch die fortschreitende Industrialisierung und touristische Erschließung der zuvor rein landwirtschaftlich genutzten Flächen in den Abruzzen kommen bis heute immer mehr archäologische Hinterlassenschaften zu Tage, die unsere Vorstellung von der abruzzesischen Eisenzeit stark wandeln.

Von diesen forschungsbedingten Veränderungen ist vor allem der nordwestliche Raum betroffen. Die Ausgrabungen in der Provinz L'Aquila haben bis jetzt mehr als zehn neue Gräberfelder erbracht, die sich von Montereale bis nach Capestrano verteilen. Charakteristisch für die Nekropolen, die in den Flusstälern des Aterno-Pescara angelegt worden sind, ist der lange, meist ununterbrochene Belegungszeitraum, der von der frühen Eisenzeit bis in die römische Kaiserzeit reicht. Als erstes vorrömisches Gräberfeld wurde Fossa vollständig vorgelegt, ein Bestattungsplatz mit bislang 600 entdeckten Gräbern, wovon circa 150 in die ältere Eisenzeit datieren.

Überlieferte Stammesnamen

In den Abruzzen werden folgende italische Stämme zur mitteladriatischen Kultur gerechnet, die allerdings erst ab dem 3. Jh. v. Chr. eindeutig als Ethnien bezeugt sind: Vestiner, Prätuttier, Equer, Marser, Päligner, Marruciner, Frentaner, Caracener, Pentrer. Aus den Stämmen der südlichen Abruzzen und der Molise entstanden im 5. Jh. v. Chr. die Samniten.

Der Krieger von Capestrano

Die wohl berühmteste Hinterlassenschaft der mitteladriatischen Kultur stellt eine Skulptur aus Kalkstein dar. Der sogenannte Krieger von Capestrano ist eine Grabstatue, die im eponymen Gräberfeld Anfang des 19. Jahrhunderts zusammen mit einem weiblichen Torso und Fragmenten von weiteren Statuen gefunden wurde, die heute im Museo Archeologico Nazionale von Chieti (AQ) aufbewahrt werden. Die zur Statue gehörige Bestattung ist unbekannt, auch wenn in den letzten Jahren durch eine intensive Grabungstätigkeit weite Teile der Nekropole von Capestrano mit ca. 200 Bestattungen freigelegt wurden.

Eine Inschrift, die auf dem linken seitlichen Stützpfeiler in südpicenischer Sprache eingemeißelt ist, gibt Auskunft über den Bildhauer und die dargestellte Person: „ma kupri koram opsut aninis raki nevíi pomp[uled]íi“ (Transkription nach dem Vorschlag von A. La Regina: italienisch: „me bella immagine fece Aninis per il re Nevio Pompuledio“ – in Deutsch ungefähr: „welch schönes Abbild fertigte Aninis für den König Nevio Pomuledio“) Die auf der Grabstatue dargestellten Waffen, wie das Langschwert, welches in der Scheide steckt, der Brustpanzer und die beiden Lanzen, sowie der Hals-, Armschmuck und die Sandalen entstammen nicht der Phantasie des Bildhauers, sondern sind realen Gegenständen bis ins kleinste Detail nachempfunden, wie sie als Grabbeigaben aus früharchaischer Zeit aus den Abruzzen bekannt sind. Die Statue steht in einer typisch abruzzesischen Bildhauertradition und kann nicht mit den picenischen Stelen verglichen werden.

Literatur

  • G. Tagliamonte (Hrsg.): Ricerche di archeologia medio-adriatica. 1. Le necropoli: contesti e materiali. Galatina 2008, ISBN 9788880868170
  • M. Ruggeri (ed.): Guerrieri e Re dell'Abruzzo antico. Warriors and Kings of ancient Abruzzo. Pescara 2007. - darin: V. d'Ercole, E. Cella: Il Guerriero di Capestrano, S. 32-47, ISBN 9788850100965
  • I Piceni e l'Italia medio-adriatica. Atti del XXII Convegno di Studi Etruschi ed Italici. Ascoli Piceno, Teramo, Ancona. 9-13 aprile 2000. Pisa-Rom 2003, ISBN 88-8147-355-0
  • J. Weidig: Der Drache der Vestiner - Zu den Motiven der durchbrochenen Bronzegürtelbleche vom Typ Capena. In: Archäologisches Korrespondenzblatt, Jahrgang 35, 2005, S. 473-492. ISSN 0342-734X
  • G. Tagliamonte, I Sanniti: Caudini, Irpini, Pentri, Carricini, Frentani. Mailand 1996, ISBN 88-304-1372-0 und 2005, 2.Aufl.
  • A. Naso, I Piceni: Storia e archeologia delle Marche in epoca preromana. Mailand 2000, ISBN 88-304-1599-5
  • L. Franchi dell'Orto (Hrsg.): Die Picener. Ein Volk Europas. Ausstellungskatalog Frankfurt a.M. 1999. Rom 1999, ISBN 88-8016-330-2
  • A. La Regina, Penna Sant'Andrea: Le stele paleosabelliche. In: La Valle del medio e basso Vomano. Documenti dell'Abruzzo Teramano (DAT) II, 1, Teramo 1986, S. 125-130.
  • G. D. Lollini: La civiltà picena. In: Popoli e Civiltà dell'Italia Antica V, Rom 1976, S. 107-195.
  • V. Cianfarani (Hrsg.): Antiche civiltà d'Abruzzo. Ausstellungskatalog Turin 1969, Rom 1969.

Einzelnachweise

  1. Tagliamonte 2008, S. 6-8
  2. Naso 2000, S. 18 ff

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