Nischenkonstruktion

Nischenkonstruktion

Arten formen ihre Umwelt mit. Die auf biotische wie abiotische veränderte Umwelt, in der sie leben (Nische), ist gleichzeitig Teil des Selektionsmaterials für ihren eigenen evolutionären Verlauf, unter Umständen auch für den anderer Arten.

Inhaltsverzeichnis

Frühe Gedanken

Konrad Lorenz spricht 1973 von einer Gen-Kultur-Koevolution.[1] Gedanken zu einer reziproken evolutionären Entwicklung äußerte schon Richard Lewontin 1983. Der britische Biologe John Odling-Smee führt das Konzept, das er niche construction nennt, seit 1988 in die Evolutionstheorie ein und baut es in den vergangenen 20 Jahren mit weiteren Wissenschaftlern aus. Peter Richerson und Robert Boyd verwenden diese Sicht für die Erklärung kultureller Evolution.[2]

Begriff

Der Begriff Nische bzw. Nischenkonstruktion verleitet zu der Einschätzung, es könnte sich um Nebensächliches oder Randerscheinungen handeln. Das ist insofern nicht der Fall als viele Arten, darunter in besonderem Maß der Mensch, sich ihre eigene Umwelt schaffen, in der sie evolvieren. Erst die Nischenkonstruktion bringt eine Sicht in die Evolutionstheorie, dass Prozesse interdependent und reziprok sind. Das hat die Synthetische Evolutionstheorie nicht erkannt. Sie war unter Umgehung von Umwelteinflüssen "unimodal ausgerichtet"[3] auf: Zufällige Variation → natürliche Selektion → Adaption in der Population. Die Theorie der Nischenkonstruktion trägt einen beachtlichen Teil dazu bei, dieses Denken zu überwinden.

Beispiele

Algen bilden Sauerstoffatmosphäre

Das Leben auf der Erde wäre in der Vielfältigkeit, wie es heute existiert, nicht wahrscheinlich gewesen ohne die Entstehung einer mit Sauerstoff angereicherten Atmosphäre. Diese war ursprünglich nicht vorhanden. Wir haben erst der globalen, maritimen Ausbreitung bakterieller Algen zu verdanken, die die Photosynthese in großem Maßstab in Gang gesetzt hat.[4]) Das hat sicher die Evolution anderer Arten angekurbelt, mehr als vielleicht die der Algen selbst. Doch das ist zunächst sekundär. Wichtig ist: Auf diesem Weg wurde eine Umwelt oder besser noch: eine Welt geschaffen, deren Komponente Sauerstoff elementar war für alles Leben, das danach kam.

Lactosetoleranz führt zur Entwicklung der Viehwirtschaft

Ein anderes Beispiel ist die Lactosetoleranz (Normalzustand=Lactoseintoleranz)des Menschen erläutert. Sie geht zurück auf eine Mutation, die jünger ist als 10.000 Jahre. Parallel geht mit der Ausbreitung dieser lokalen, an der heutigen Ostsee erstmals aufgetretenen Mutation die Einführung der Viehwirtschaft einher. Die Viehbewirtschaftung ist im Sinne Odling-Smees die Nischenkonstruktion, die der Mensch sich selbst schafft [5]. Dieses neuartige kulturelle Umfeld hat mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Erhöhung der Genfrequenz des mutierten Lactase-Gens in der Population geführt, und das wiederum zur noch konsequenteren Ausweitung der Viehhaltung bis heute. Hier wird deutlich, wie die Dinge ineinander greifen und sich gegenseitig fördern. Die Nische (Viehhaltung) ist ein neues, vom Menschen geschaffenes Umfeld, neuer Selektionsstoff für die weitere Evolution des Menschen. "Nischen sind also nicht im vorhin existierende Slots in der natürlichen Umgebung, die von einem Organismus besetzt werden, der dafür das passende Eigenschaftenset mitbringt. Nischen sind ausgewählt und in vielen Fällen konstruiert durch ihre Bewohner."[6]

Weitere Beispiele

Odling-Smee nennt weitere Beispiele, etwa Insektenstaaten, die in ihren Bauten ganz spezifische Umweltbedingungen schaffen, Temperaturen, Luftfeuchtigkeit, etc. Bedingungen unter denen die Nachkommen gedeihen und die Art auch nur evolvieren kann. Ein frühes Standardbeispiel, mit dem schon Darwin sich im hohen Alter ausführlich beschäftigt hat, sind Regenwürmer, die den Boden umgestalten, nicht nur seine Drainage, sondern auch seine chemische Zusammensetzung, und damit das Wachstum von Pflanzen fördern. Regenwürmer sind ihrer Herkunft nach aquatische Tiere, schlecht ausgerüstet für ein Leben an Land. Dennoch leben sie an Land. Auf ihre Weise schaffen sie sich einen Lebensraum, eine Nischenkonstruktion, ohne mit physiologischen Adaptionen zu evolvieren [7]. Aber auch Biber werden in diesem Zusammenhang immer wieder genannt als Arten, die ihre Umgebung mit dem Bau von Dämmen in großem Stil verändern und sich ihre Welt schaffen, in der sie selbst weiter evolvieren.[8]

Nischenkonstruktion als eigener Evolutionsfaktor

Nischenkonstruktion kann nicht als Teil der natürlichen Selektion verstanden werden. Odling-Smee wehrt sich gegen diese verengte Sicht, wenn er betont: "Weil frühere Aktivitäten von Nischenkonstruktion der Organismen zumindest für einen Teil der selektiven Umgebung verantwortlich sind, die wiederum weitere Nischenkonstruktion begünstigt, kann man nicht folgern, dass die ultimative Ursache von Nischenkonstruktion die Umwelt selbst ist. Solche Rekursionen wären endlos und würden bis zum Anfang des Lebens führen."[9]

Nischenkonstruktion hat zusätzliche Qualität zur natürlichen Selektion. Für Odling-Smee ist Nischenkonstruktion ein mit natürlicher Selektion ebenbürtiges Prinzip. Sie ist ein eigener Evolutionsfaktor, ein zweiter selektiver Prozess in der Evolution und zwar sehr unterschiedlich zur natürlichen Selektion (www. nicheconstruction.com). Möglich ist das Konzept der Nischenkonstruktion nur, wenn deutlich unterschieden wird, dass es zwei getrennte Vererbungswege gibt: die genetische Vererbung auf der einen Seite und die Vererbung einer modifizierten Umwelt, von Odling-Smee als ecological inheritance bezeichnet auf der anderen (www.niche-construction.com). Beispiel Viehhaltung: Es gibt kein „Viehhaltungs-Gen“, dass ein solches kulturelles Verhalten möglich macht und vererbt. Vielmehr ist die Viehhaltung ein menschliches Verhalten, das seine ultimative Ursache eher in einer allgemeinen Lernfähigkeit des Menschen hat.

Negative Nischenkonstruktion

Auch negative Nischenkonstruktion kann entstehen, etwa durch Überbevölkerung oder Umweltverschmutzung.[10] Damit evolutionäre Effekte zustande kommen, müssen die veränderten Bedingungen lange anhalten, entsprechende Intensität haben und die Population selbst bzw. die Art selbst muss lange genug in der Region vorherrschen, in der sie die Veränderungen, „negative“ wie „positive“, verursacht.

EvoDevo

Wichtiger ist auch die Brücke der Nischenkonstruktion zur EvoDevo-Welt. Diese Brücke zeigt, dass das Modell von Odling Smee kein losgelöster Theorieteil ist. Vielmehr vollziehen sich im Embryo Entwicklungsschritte einzelner Teile nicht selbständig und losgelöst von ihrem weiteren Umfeld und von der Umwelt draußen sondern in enger reziproker Abstimmung miteinander. Komponenten des Auges der Maus kommen so während ihrer Entwicklung in Kontakt mit Nerven aus dem angrenzenden sich parallel entwickelnden Vorhirn. Die Entwicklung der einen Komponenten induziert dann die Entwicklung der anderen und das auch reziprok. Das ist spezifische Nischenkonstruktion in der Entwicklung.[11] Nischenkonstruktion hilft somit mit zur Erklärung der evolutionären Entstehung komplexer Organe, ein Problem, das schon Darwin in Entstehung der Arten sehr schwierig genannt hat, da die Elemente des Auges aufeinander "abgestimmt" entstanden sein müssen.[12]

Menschliche Kultur

Es liegt nahe, dass die Theorie der Nischenkonstruktion anwendbar ist auf menschliche Kultur. Der Wirkungszusammenhang von Richerson/Boyd wird nicht viel anders dargestellt von Odling-Smee [13], wobei er ausdrücklich betont, dass genetische Vererbung im Zusammenspiel mit Nischenkonstruktion das Gewicht menschlichen Verhaltens und kultureller Prozesse für die Evolution des Menschen verstärken.

Literatur

Grundlagen

  • Odling-Smee, John (2010): Niche inheritance in: Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd (2010) Evolution – The Extended Synthesis. MIT Press
  • Day, Rachel, L., Laland Kevin N., Odling-Smee, John (2003): Rethinking Adaption – the niche-construction perspective

Weiterführend

Richerson, J. & Boyd, R. (2005): Not by Genes alone. How culture Transformed Human Evolution. University of Chicago Press.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Konrad Lorenz (1973): Die Rückseite des Spiegels (1973)
  2. Richerson, J. & Boyd, R. (2005): Not by Genes alone. How Culture Transformed Human Evolution. University of Chicago Press.
  3. West-Eberhard, Mary Jane (2003): Development Plastizity and Evolution. Oxford University Press S.6ff
  4. Odling-Smee, John (2010): Niche inheritance in: Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd (2010): Evolution – The Extended Synthesis. MIT Press S.195
  5. www.nicheconstruction.com
  6. Newman, Stuart A. (2010): Dynamical Patterning Modules in: Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd (2010): Evolution – The Extended Synthesis. MIT Press S. 295
  7. Odling-Smee 2010, S. 194 mit Bez. auf Turner 2000
  8. Odling-Smee 2010, S. 194
  9. Day/Laland/Odling-Smee 2003 S. 83
  10. Odling-Smee 2010 S.191
  11. Gilbert, Scott F. & Epel, David (2009): Ecological Development Biology. Integrating Epigenetics, Medicine and Evolution. Sinauer. S. 393f.
  12. Darwin, Charles (1872): Die Entstehung der Arten S. 220
  13. www.nicheconstruction.com (Fig.10)

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