Altenberg-16

Altenberg-16

Mit Altenberg-16 wird eine Gruppe internationaler Evolutionstheoretiker bezeichnet, die sich für eine Erweiterung der klassischen Evolutionstheorie aus den 1930er-Jahren einsetzen. Die Gruppe traf sich im Juli 2008 auf Einladung von Gerd B. Müller am Konrad Lorenz Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung (KLI) in Altenberg in Niederösterreich zu einem Symposium im Rahmen der Altenberg Workshops in theoretical biology. Ziel des Symposiums war, eine gemeinsame Grundlage dafür zu schaffen, wie die darwinistische Synthetische Evolutionstheorie in eine Erweiterte Synthetische Evolutionstheorie überführt werden kann. Die Ergebnisse wurden im April 2010 in dem von Gerd Müller und Massimo Pigliucci herausgegebenen Werk Evolution - The Extended Synthesis publiziert.

Inhaltsverzeichnis

Offene Themen in der Synthetischen Evolutionstheorie

Die Gruppe argumentiert, dass die sogenannte Synthetische Evolutionstheorie, das klassische Theoriegebäude zur Evolution der Organismen, eine Reihe von Faktoren außer Acht lässt. Viele dieser Faktoren wurden erst im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte in ihrer Bedeutung erkannt oder empirisch untersuchbar:

Ontogenese

Die Embryonalentwicklung wird in der Synthese als "Black Box" behandelt. Die Herstellung phänotypischer Variation in der Entwicklung wird als gegeben angenommen. Die Synthese beruft sich auf das Eintreten zufälliger Mutationen bei der Vererbung und die Frequenzen genetischer Varianten in Populationen. Wissenschaftler, die auf die Bedeutung der Entwicklung schon früh aufmerksam gemacht haben wie etwa Conrad Hal Waddington, wurden von der Synthese nicht berücksichtigt. Die neue, seit Anfang der 1980er Jahre entstandene Evolutionäre Entwicklungsbiologie wird zu einem wichtigen Bestandteil der Erweiterten Synthese. Im Gegensatz zu den mathematisch-statistischen Prinzipien der Synthese liefert Evo-Devo kausal-mechanistische Erklärungen.

Ökologie

Die Synthese beruhte wesentlich auf der Annahme der Weismann-Barriere, nach der es nicht möglich ist, dass Keimzellen und damit die DNA für die nächste Generation durch Umwelteinflüsse vererbbar verändert werden können. Diese auch als neodarwinistisches Dogma bezeichnete Einschränkung gilt heute allgemein als überholt. Die moderne Evolutionsforschung kennt mittlerweile eine große Zahl empirischer Untersuchungen, wonach Umweltbedingungen die Evolution beeinflussen (z.B. Arbeiten zu den Darwinfinken, die Zähmung von Silberfüchsen durch Belyaev etc.). Siehe hierzu auch die Versuche von Conrad Hal Waddington.

Die Theorie der Nischenkonstruktion des Briten John Odling-Smee [1] stellt einen essenziellen Pfeiler der Erweiterten Synthese dar. Sie zeigt, wie Populationen von Organismen sich ihre eigene Umgebung erzeugen (z.B. Termitenbauten) und diese Umgebungseigenschaften ihrerseits wiederum die Evolution jener Lebewesen beeinflussen. Dies gilt z.B. auch für die Ausbreitung von Algen und die damit verbundene Sauerstoffproduktion in der Atmosphäre bis hin zum Menschen, der Kultur schafft, in deren Umfeld sich seine eigene Evolution vollzieht.[2]

Genotyp-Phänotyp-Beziehung

Die Synthese ging noch davon aus, dass eine 1:1-Beziehung zwischen Genen und phänotypischen Merkmalen besteht. Später wird diese Sicht gelockert, die Theorie bleibt jedoch auf eine deterministische Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp beschränkt. Die neuere Forschung zeigt, dass sowohl auf Grund von Umwelteinflüssen während der Entwicklung (Plastizität) als auch wegen der emergenten Eigenschaften in der Entwicklung komplexer Systeme nicht mehr von einer deterministischen Beziehung gesprochen werden kann. So formuliert West-Eberhard: [3] "Vom individuellen Genom kann man niemals behaupten, dass es die Entwicklung kontrolliert. Entwicklung hängt in jedem Schritt von der vorher existierenden Struktur des Phänotyps ab, einer Struktur, die komplex determiniert ist durch eine lange Historie von Einflüssen sowohl des Genoms als auch der Umwelt."

Internalistische Faktoren der Evolution

Die Synthese erklärt die Evolution primär durch das Wirken der natürlichen Selektion und betont damit die Rolle der externen, von außen auf organismische Populationen wirkenden Faktoren. Die Erweiterte Synthese fügt diesem Ansatz die Bedeutung entwicklungsbiologischer Komponenten bei und betont die Wirkung interner Organisationsprinzipien.

Nicht gradualistische Variation

Für die Synthese vollzieht sich evolutiver Wandel ausschließlich in graduellen, kleinsten Schritten, die sich im Verlauf vieler Generationen zu phänotypisch größeren Variationen kumulieren können. Eine solche Sicht erteilt der natürlichen Selektion "die Regie" über das, was adaptiv entsteht. Die Evolutionäre Entwicklungsbiologie und die Erweiterte Synthese akzeptieren auch diskontinuierliche Formen der Variation und phänotypischer Innovation in der Evolution. Diese werden in der klassischen Ansicht durch genetische Mutation und natürliche Selektion hervorgerufen, können aber nach West-Eberhard und anderen Evo-Devo-Vertretern durch direkte Umweltwirkungen auf die Embryonalentwicklung entstehen. Die Kontinuität der veränderten Umweltbedingungen hält die neue Variation in der Population aufrecht bis die neuen Merkmale im weiteren Verlauf der Evolution durch genetische Assimilation fixiert werden. Die Erweiterte Synthese übernimmt dieses Konzept der erleichterten Variation.

Evolvierbarkeit

Evolvierbarkeit

Die Evolution der Evolutionsfähigkeit selbst, bzw. die Evolution der Fähigkeit einer Population, neue phänotypische Variation hervorzubringen, ist nicht Gegenstand der Synthese. Die heute dazu existierenden Konzepte werden in die Erweiterte Synthese aufgenommen.

Agendapunkte des Altenberg16-Symposiums

Das Symposium befasste sich mit folgenden Fragen:

  • Wie soll man den Faktor Embryonalentwicklung gewichten?
  • Ist Evolution immer graduell?
  • Ist Selektion das einzige organisierende Prinzip?
  • Auf welchen Ebenen wirkt die natürliche Selektion
  • Gibt es Diskontinuitäten in der Makroevolution?
  • Existieren nicht DNA-basierende Formen der Vererbung?
  • Wie entstehen evolutionäre Neuheiten?
  • Welche Rolle spielen exogene Einflüsse?
  • Welche Rolle spielen genomische Faktoren?
  • Existiert ein Paradigmenwechsel in der Evolutionstheorie?

Die Teilnehmer

Teilnehmer Universität Fach u. ausgewählte Schwerpunkt
John Beatty (USA) Vancouver Geschichte und Philosophie der Biologie
Werner Callebaut (Belgien) Limburgs Philosoph, Wissenschaftstheorie
Sergey Gavrilets Tennessee Mathematik, Ökologie, Populationsgenetik, Adapt. Landschaften
Eva Jablonka (Israel) Tel Aviv Genetische u. epigenetische Vererbung, Verhaltens- u. kulturelle Evolution
David Jablonski (USA) Chicago Geophysik, Biogeografie,

Geschwindigkeit u. Arten v. Makro-Evolution, Nicht-zufällige Innovationen

Marc Kirschner (USA) Harvard Systembiologie, EvoDevo, erleichterte Variation
Alan Love (USA) Minnesota Philosophie, Wissenschaftstheorie, Entwicklungsbiologie
Gerd B. Müller (Österreich) Wien Theoretische Biologie, EvoDevo, Innovationen, Evolution der Entwicklungsprozesse
Stuart A. Newman (USA) New York Zellbiologie, Entwicklungsbiologie, Anatomie, Physikalische Evolutionsbiologie, Evolution von Metazoen, Theorie der DPM´s
John Odling-Smee (Großbritannien) Oxford Verhaltensbiologie, Nischenkonstruktion, Vererbung
Massimo Pigliucci (USA) Stony Brook Biologie u. Philosophie. Philosophie der Biologie, Geschwindigkeit u. Arten v. Makroevolution; Innovationen, Phänotypische Plastizität
Michael Purugganan (Philippinen) New York Biologie, Genetik, Genomische Netzwerke
Eörs Szathmáry (Ungarn) Budapest Genetische u. epigenetische Vererbung, Sprachevolution, Systemübergänge, Evolutionstheorie
Günter Wagner (USA) Yale Entwicklungsevolutionäre Entstehung morphologischer Merkmale, Evolvierbarkeit
David Sloan Wilson (USA) Binghampton Multilevel Selektionstheorie
Gregory Wray (USA) Duke Entwicklungsbiologie, embryonale Genexpression, genomische Netzwerke

Literatur

  • Mazur, Suzan (2009): The Altenberg 16 An Exposé of the Evolution Industry. Berkeley, California
  • Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd B. (Hg.) (2010): Evolution – The Extended Synthesis. MIT Press

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Odling-Smee, John (2010): Niche Inheritance, in Pigliucci/Müller 2010 S. 175ff
  2. Richerson, J. & Boyd, R.: Not by Genes alone. How culture transformed Human Evolution. University of Chicago Press
  3. West-Eberhard, Mary Jane (2003): Development Plastizity and Evolution. Oxford University Press. S. 29

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