Pia desideria

Pia desideria

Pia desideria“ oder „herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche“ ist der Titel einer 1675 erschienenen Schrift von Philipp Jakob Spener. Sie enthält das Kirchenreformprogramm des Pietismus.

Als gelehrte Redensart (von lat. pius „fromm“ und desiderium „Wunsch“) bezeichnet pia desideria gutgemeinte, aber unerfüllbare Wünsche.[1]

Inhaltsverzeichnis


Anlass

Philipp Jakob Spener hatte 1670 in Frankfurt die Bildung der ersten Konventikel (lat. „collegium pietatis“) betrieben, um in einer (seiner Meinung nach) glaubensstarr gewordenen (lutherischen) Volkskirche ein erneuertes, lebendiges Glaubensleben zu befördern. 1675 besorgte er eine Neuausgabe der „Postille“ von Johann Arndt, dessen Schriften zu seinen hauptsächlichen Inspirationsquellen gehörten. Dieser Neuausgabe fügte er ein Vorwort bei, das im gleichen Jahr als Sonderdruck unter dem Titel „Pia desideria“ erschien.[2]

Inhalt

Im ersten Teil kritisiert Spener schonungslos die zerrütteten und glaubenslosen Zustände seiner Zeit und nimmt dabei die radikale Kirchenkritik separatistischer und spiritualistischer Kreise auf.[3] Gerade die evangelische Kirche, die doch das Licht des Evangeliums am reinsten habe, müsste doch ein besseres Bild abgeben.[4] Stattdessen sieht Spener mannigfaltige “Gebrechen” in allen drei Ständen. Die Obrigkeit kranke an sittlichem Verfall und Machtmissbrauch.[5] Der geistliche Stand leide oftmals an „Fleischeslust, Augenlust und hoffärtigem Leben“, führe zwar die Lehre im Munde, sei aber selbst nicht zu einem in der Liebe lebendigen Glauben im Herzen durchgedrungen und darum auch kein Vorbild für die Gemeinde. Hierfür macht er u.a. die theorielastige Ausbildung der Pfarrer verantwortlich.[6] Der Laienstand wiederum leide in der Folge an mangelnder Orientierung, die sich in Trunksucht, der Neigung zu Rechtsprozessen, fehlender Nächstenliebe, rein äußerlichem Hören des Wortes (das aber nicht ins Herz dringt) und anderem äußert[7]. Der Mangel an wahrem, lebendigen Glauben zieht sich als Hauptursache durch den ersten Teil der Schrift.

Über dem schlechten Zustand der evangelischen Christenheit erkennt Spener jedoch die biblische Verheißung eines besseren Zustandes der Kirche, der ihm Hoffnung gibt: Diese Hoffnung ist eschatologischer Art, vom Chiliasmus beeinflusst[8][2]. Sie setzt Kräfte frei. Um Abhilfe zu schaffen, schlägt Spener ein Sechs-Punkte-Programm vor[9]:

  1. Das Wort Gottes soll reichlicher unter die Menschen gebracht werden. Dies ist das Hauptmittel zur Besserung und soll auf dem Weg des gemeinschaftlichen Bibelgesprächs in Erbauungsversammlungen erfolgen.
  2. Das “Allgemeine Priestertum aller Gläubigen” soll dem Laienstand neu zu Bewusstsein und durch dessen Befähigung auch zur Entfaltung gebracht werden: Die Laienmitarbeit hält in der Kirche wieder Einzug.
  3. Verlagerung des Schwerpunktes vom Glaubenswissen auf die Glaubenstat
  4. Einschränkung der konfessionellen Polemik
  5. Reform der theologischen Ausbildung in Hinsicht auf die “Praxis pietatis” (Praxis des Glaubens)
  6. Neuausrichtung der Predigten von der Lehrvermittlung hin zur Erbauung des inneren Menschen.

Der Sinn dieses Reformprogramms lag nicht in der Besserung der Unverbesserlichen, sondern gerade in der (freiwilligen) Förderung der am Glaubensleben Interessierten.[2]

Wirkung

Speners „Pia desideria“ fand in der Kirche einen ungeheuren Widerhall. Kritische Stimmen wie von Erdmann Neumeister[10] konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den Nerv der Zeit durchaus getroffen hatte. Seine Reformvorschläge wurden denn auch im Pietismus nach und nach aufgenommen und umgesetzt.

Literatur

  • Spener, Philipp Jakob: Pia desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche, 1675 von 1841
  • Hyeung-Eun Chi: Philipp Jacob Spener und seine Pia desideria. Die Weiterführung der Reformvorschläge der Pia desideria in seinen späteren Schriften. Lang, Frankfurt/M. 1997, ISBN 3-631-49393-2.
  • Schmidt, Kurt Dietrich: Kirchengeschichte, 81984, S. 422-431
  • Schmidt, Martin: Art. „Spener“, in: RGG 3, 6. Band, Tübingen 1962, Sp. 238f.
  • Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, 41993, S. 137f.

Einzelnachweise

  1. Georg Büchmann, Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, Frankfurt am Main/Berlin 1986, S. 303
  2. a b c Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, Tübingen 1993, S. 136-139.
  3. z.B. Theophil Großgebauer: Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion.
  4. Pia desideria, erster Abschnitt, erstes Capitel: Allgemeine Klage über das Verderben der gesamten Christenheit.
  5. Pia desideria, erster Abschnitt, zweites Capitel: Gebrechen des weltlichen Standes
  6. Pia desideria, erster Abschnitt, drittes Capitel: Gebrechen des geistlichen Standes.
  7. Pia desideria, erster Abschnitt, viertes Capitel: Gebrechen des Hausstandes.
  8. Pia desideria, erster Abschnitt, sechstes Capitel: Von der Hoffnung eines besseren Zustands in der Kirche.
  9. Pia desideria, zweiter Hauptteil
  10. Erdmann Neumeister: Kurtzer Auszug Spenerischer Irrthümer.

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