Verwöhnung

Verwöhnung

Verwöhnung oder Verzärtelung ist ein Beziehungsmuster zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, das in der frühen Kindheit durch die Haltung der Erzieher (Erziehungsstil) und die schöpferische Antwort des Kindes (Lebensstil) geprägt wird.

Inhaltsverzeichnis

Verwendung des Begriffs

Die Verwendung des Begriffs in der Psychologie geht auf den Wiener Arzt und Begründer der Individualpsychologie Alfred Adler zurück.[1] Die heutige Tiefenpsychologie verwendet für diese Erziehungseinflüsse den englischen Begriff Overprotection.

Verwöhnender Erziehungsstil

Der verzärtelnde oder verwöhnende Lebensstil eines Menschen kann gemäß Adler sowohl das Resultat des verwöhnenden als auch des vernachlässigenden Erziehungsstils sein. Er betonte jedoch, dass ein solcher Lebensstil nicht aus dem Verhalten der Mutter abgeleitet werden kann, sondern es ist die Schöpfung des Kindes, die sich häufig auch dort durchsetzt, wo von Verzärtelung durch eine zweite Person keine Rede sein kann. Ein Individuum mit einem verzärtelten Lebensstil sei ein Mensch, der vielmehr verwöhnt werden will, als jemand, der wirklich verwöhnt worden ist.[2] Die Verwöhnung tritt in vielen Varianten und Ausprägungen auf. Schriftsteller wie Iwan Alexandrowitsch Gontscharow in seinem Roman Oblomow haben dieses treibhausartige und symbiotische Erziehungsklima genau beschrieben.

Anhaltspunkte für verwöhnende Erziehung sind nach Wexberg[3]: Überhäufen mit Zärtlichkeit, überschwängliche Bewunderung für jede Leistung, masslos auf seine Schönheit und Intelligenz eingebildet zu sein, das Kind all dies merken zu lassen und es zum Mittelpunkt der Familie machen, jeden Wunsch von den Augen ablesen, dem Kind gehorchen und sich von ihm beherrschen und tyrannisieren zu lassen, dem Kind alles abnehmen und ihm gleichzeitig jede Möglichkeit der eigenen Entwicklung zu nehmen. Mit Helikopter-Eltern und ähnlichen Begriffen werden heute verschiedene Aspekte des Verhaltens von Eltern umschrieben, die in ständiger Sorge und mit überhöhten Erwartungen um ihre zum Lebensmittelpunkt gemachten Kinder schwirren, um ihnen alle Steine aus dem Wege räumen zu können.[4]

Verwöhnung darf nicht mit echter emotionaler Zuwendung verwechselt werden, denn diese stärkt das Kind, in dem es ihm den nötigen Beistand und Rückhalt zur tätigen Auseinandersetzung mit den Lebensaufgaben gibt. Die Verwöhnung dagegen schwächt das Kind, weil es an einer aktiven Lebensbewältigung gehindert wird.

Charakterzüge des verwöhnten Kindes

Die Situation in der das verwöhnte Kind aufwächst, wird in der Individualpsychologie mit einer unrealistischen Welt verglichen, in der das Kind das Gefühl entwickelt, dass sein Eigenwert nur darin besteht, da zu sein. Es lernt nicht, einen nützlichen Beitrag an die Gemeinschaft zu geben. Unbewusst verhindert der Erzieher, dass ein soziales Interesse entstehen kann. Das Kind erwartet alles von den anderen, aber hat diesen nichts zu geben. Es möchte immer im Mittelpunkt stehen und wird zum Spielverderber, wenn das nicht möglich ist. Es leidet unter dem Gefühl, zu kurz zu kommen, wenn es im Leben die verwöhnende Situation nicht mehr gibt. Der Mangel an Gemeinschaftsgefühl erschwert den verwöhnten Kindern das Sicheinreihen und das Mitmachen.

Die Stellungnahme des Verwöhnten zur Schule und den Lebensaufgaben

Für den Individualpsychologen zeigt sich die Kooperationsfähigkeit des Kindes beim Eintritt in die Schule. Ohne die schützende Nähe der Mutter und ohne Mittelpunktstellung fühlt sich das verwöhnte Kind schwach und entmutigt. Es braucht die psychologische Hilfe des Lehrers, der das Kind beruhigt und zur Kooperation anleitet. Die Individualpsychologie unterscheidet die drei Lebensaufgaben Liebe, Arbeit und Gemeinschaft. Da diese sozialer Natur sind, ist der Verwöhnte mit seinem Mangel an Gemeinschaftsgefühl für diese Aufgaben schlecht vorbereitet. Es fällt ihm schwer, sich auf andere Beziehungspersonen als die Mutter einzulassen.

Mögliche psychische Störungen

Die Neurosenlehre der Individualpsychologie sieht seelische Fehlschläge nicht als grundsätzlich andere seelische Phänomene als bei gesunden Menschen. Der Auslöser für psychische Erkrankungen ist oft eine Aufgabe, für deren Lösung der Betroffene ein entwickeltes Gemeinschaftsgefühl benötigen würde. Psychische Erkrankungen können demzufolge ein mögliches Resultat einer verwöhnenden Erziehung sein.

Psychoanalytische Betrachtungsweise

Freud betrachtete den Ödipuskonflikt als normales und universelles Stadium des menschlichen Lebens, während sie für Adler das Ergebnis der falschen Erziehung eines verwöhnten Kindes darstellte. Für die Neopsychoanalytikerin Karen Horney ist der Ödipuskomplex eine Art Entwicklung, die bei einem schon vorher verwöhnten Kind eintritt.[5]

Siehe auch

Literatur

  • Alfred Adler: The pattern of life. Cosmopolitan Book Co., New York NY 1930 (Deutsch: Kindererziehung. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-596-26311-5).
  • Heinz L. Ansbacher, Rowena R. Ansbacher (Hrsg.): Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. 3. ergänzte Auflage. Ernst Reinhardt, München u. a. 1982, ISBN 3-497-00979-2.
  • Foster W. Cline, Jim Fay: Parenting with Love and Logic. Teaching Children Responsibility. Pinon Press, Colorado Springs CO 1990, ISBN 0-89109-311-7.
  • Jürg Frick: Die Droge Verwöhnung. Beispiele, Folgen, Alternativen. 3. überarbeitete und ergänzte Auflage. Verlag Huber, Bern u. a. 2005, ISBN 3-456-84171-X.
  • Barbara Oehler: Der Einfluss der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung auf die gesunde und kranke Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit. Eine Untersuchung zur Individualpsychologie. Dissertation Universität Zürich, 1977.
  • Walter Toman: Familienkonstellationen. Ihr Einfluss auf den Menschen. Beck, München 1961 (7. durchgesehene Auflage. (= Beck'sche Reihe 112). ebenda 2002, ISBN 3-406-49407-2

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Alfred Adler: Der Arzt als Erzieher, Ärztliche Standeszeitung, Bd. 3, Nr. 13-15, 1904
  2. Alfred Adler: Vorbeugung der Neurose, In: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie. 13. Jahrgang 1935, Seite 13
  3. E.Wexberg: Verzogene Kinder, In: Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst für Ärzte und Psychologen, München 1922
  4. Foster W. Cline und Jim Fay: Parenting with Love and Logic Teaching Children Responsibility. Pinon Press 1990; Wendy Mogel: The Blessings of a Skinned Knee: Using Jewish Teachings to Raise Self-Reliant Children, Scribner, 2008, ISBN 1416593063 (Erstauflage 2001)
  5. Die Entdeckung des Unbewussten: Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Huber Verlag, Bern, Stuttgart, Wien 1973, Neuausgabe: diogenes, Zürich 2005, ISBN 3-257-06503-5

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