Agoraphobie

Agoraphobie
Vergleichende Klassifikation nach
ICD-10   DSM-IV
F40.0 Agoraphobie 300.21 Panikstörung mit Agoraphobie
    300.22 Agoraphobie ohne Panikstörung in der Vorgeschichte
ICD-10 online DSM IV online

Als Agoraphobie (von griechisch ἀγορά agoráMarkt[platz]“ und φόβος phóbosFurcht“) bezeichnet man eine Angst bzw. ein starkes Unwohlsein an bestimmten Orten, die aus diesem Grunde gemieden werden. In schweren Fällen kann die eigene Wohnung nicht mehr verlassen werden.

Eine Agoraphobie liegt auch dann vor, wenn Menschen weite Plätze (z. B. Marktplätze) oder weite Reisen allein vermeiden. Allen diesen Situationen ist gemeinsam, dass die Betroffenen befürchten, dass sie im Falle einer Panik oder potentiell bedrohlicher Körperzustände nicht schnell genug flüchten könnten, Hilfe nicht schnell genug verfügbar wäre oder sie in peinliche Situationen geraten könnten. Die Agoraphobie tritt in mehr als 95% der Fälle gemeinsam mit einer Panikstörung auf.[1]

Die Angst vor weiten Plätzen wird in der Psychologie Platzangst genannt, ein Terminus, der in der Umgangssprache für den entgegengesetzten Angstzustand verwendet wird, nämlich die Klaustrophobie, Angst vor engen Räumen (isolierte Phobie gemäß der Norm ICD-10 F40.2).

Inhaltsverzeichnis

Geschichte des Krankheitsbildes

Zum ersten Mal wurde das Krankheitsbild 1871 von Carl Friedrich Otto Westphal bei einem männlichen Patienten beschrieben.[2] Sigmund Freud verstand diese Angst als eine Phobie, die nahe mit der Angst vor Versuchungen verbunden war. Sobald der Agoraphobiker alleine auf die Straße geht, erleidet er einen Angstanfall. Die meisten Phobien deutete Freud auf eine Angst des Ichs vor den Ansprüchen der Libido. Er schilderte dies anhand der Angst vor der Begegnung mit Prostituierten in unbekannten Gegenden einer Stadt.

Symptome

Hauptmerkmal ist die Angst, einer möglichen Gefahrensituation nicht entkommen oder sich nur unter peinlichen Umständen in Sicherheit bringen zu können. Die Betroffenen zeigen starkes Vermeidungsverhalten, da in unterschiedlichem Ausmaß Panikattacken auftreten können. Die Angst kann sich darauf beschränken, öffentliche Plätze oder Geschäfte zu betreten, wobei oft speziell Menschenansammlungen vermieden werden. In ausgeprägten Fällen setzt die Angst bereits in der Wohnung ein, sodass diese nicht mehr verlassen wird.

Diagnose

Früher wurde der Begriff ausschließlich für die Angst vor öffentlichen großen Plätzen verwendet. Inzwischen umfasst er auch die Angst vor anderen Situationen, sodass laut ICD-10 mindestens zwei als Angstauslöser nachweisbar sein müssen:

  1. Menschenmengen
  2. öffentliche Plätze
  3. Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause
  4. Reisen alleine

Der letzte international gültige ICD-10 2006 unterscheidet nicht nach Vorhandensein oder Fehlen von Panikattacken. Im nur in Deutschland gültigen ICD-10 2010 GM (German Modification) wird das Auftreten oder Fehlen von Panikattacken innerhalb der Diagnose Agoraphobie (F40.0) spezifiziert. Die Agoraphobie wird als übergeordnet angenommen und kann ohne Angabe einer Panikstörung (F40.00) bzw. mit Panikstörung (F40.01) klassifiziert werden. Demgegenüber ist die Agoraphobie im DSM-IV der Panikstörung untergeordnet. Die Panikstörung ist primär und kann mit oder ohne Agoraphobie spezifiziert werden. Die Diagnose Agoraphobie ohne Panikstörung in der Vorgeschichte besteht separat.

Prävalenz, Studien

Nach einer Untersuchung von McCabe et al. (2006) wurde bei 0,61 % einer Studienpopulation von 12.792 (55-jährig oder älter) eine Agoraphobie nachgewiesen. Damit war die Häufigkeit der Störung hier geringer als sonst berichtet wird.

Anhand der „National Comorbidity Survey Replication“-Erhebung in den USA wurden ebenfalls 2006 Zahlen zur Beziehung zwischen Agoraphobie, Panikattacken und einer Panikstörung (nach der Definition des DSM-IV) veröffentlicht. Demnach betrug die Lebenszeitprävalenz bei 9282 Untersuchten, die mindestens 18 Jahre alt waren, in den möglichen Kombinationen:

  1. 22,7 % für isolierte Panikattacken
  2. 0,8 % für Panikattacken in Kombination mit Agoraphobie
  3. 3,7 % für Panikstörung ohne Agoraphobie
  4. 1,1 % für Panikstörung mit Agoraphobie

Es konnte gezeigt werden, dass es von der 1. bis zur 4. Gruppe zu einem durchgehenden Ansteigen der einzelnen untersuchten Merkmale wie Anhalten der Beschwerden, Anzahl der Attacken, Anzahl der Krankheitsjahre, Schweregrad der einzelnen Episoden und Begleitkrankheiten kam.

Kituchi et al. von der Universität Kanazawa in Japan untersuchten 2005 233 ambulante Patienten mit Panikstörung (99 Männer, 134 Frauen), davon 63 ohne und 170 mit Agoraphobie. Letztere Gruppe wies dabei im Schnitt eine länger bestehende Panikstörung und eine höhere Prävalenz einer generalisierten Angststörung auf. Keine Unterschiede gab es bzgl. ausgeprägter depressiver Episoden, Schweregrad der einzelnen Panikattacken oder Verteilung der Geschlechter. Weiter zeigte sich, dass bei knapp über 40 % derjenigen Studienteilnehmer, die eine Panikstörung entwickelt hatten, innerhalb von 24 Wochen auch eine Agoraphobie auftrat und sich auch diese Gruppe nicht bzgl. Alter oder Geschlecht unterschied.

Als mögliche Ursache muss immer auch eine eventuelle Traumatisierung in Betracht gezogen werden. Die Agoraphobie wird zu den möglichen psychischen Störungen gezählt, die sich zusätzlich zu den klassischen Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und auch zu den Symptomen der Komplexen PTBS entwickeln können (Komorbidität).[3]

Therapie der Agoraphobie

Die nachweislich wirksamste Behandlung der Agoraphobie ist die Expositionstherapie bzw. Konfrontationstherapie, die im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie durchgeführt wird. Dabei begeben sich der Betroffene und sein Therapeut an den jeweiligen Ort, der Angst auslöst und daher vermieden wird. Mit Hilfe des Therapeuten stellt sich der Betroffene seinen Ängsten und lässt sie in voller Stärke zu, um erleben zu können, dass die Angst unbegründet ist und mit der Zeit ganz von allein nachlässt. Beide bleiben so lange in der Situation, bis bei dem Patienten die Angst vollständig abgeklungen ist. Das kann bei den individuellen Patienten unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Der Therapeut unterstützt den Patienten darin, die Situation aufzusuchen, in der Situation zu bleiben und keine Vermeidungsstrategien anzuwenden. Vermeidungsverhalten (z. B. sich ablenken, Musik hören, die Situation verlassen) kann die Angst zwar kurzfristig lindern, führt jedoch langfristig zur Aufrechterhaltung der Angst. Die Exposition ist im Vergleich zu „reinen Gesprächen“ eine vergleichsweise aufwändige, aber dafür sehr wirksame Therapie.

Es gibt mindestens zwei verschiedene Arten der Konfrontations-Therapie. Einerseits die Desensibilisierung, die schrittweise erfolgt, wobei zusätzlich meist auch noch Imaginations-Therapie und Gesprächstherapie zum Einsatz kommen. Entspannungsübungen und verschiedene individuelle Bewältigungsstrategien werden dabei allmählich eingeübt und gefestigt, bis sich der Klient durch Übung mit der Zeit auch den für ihn stärksten panik-auslösenden Situationen stellen kann. Die Stärke und Häufigkeit der Panikattacken geht dabei für gewöhnlich nachverfolgbar zurück, wofür auch das Führen von Aufzeichnungen über die Übungen und die erlebten Panikzustände als zur Desensibilisierung dazugehörig empfohlen wird.

Andererseits gibt es auch noch das sogenannte "Flooding", bei dem der Klient sich einer besonders angst-auslösenden Situation sofort stellt. Meist bleibt beim "Flooding" der Klient allein und der Therapeut im Hintergrund bzw. in größerem Abstand. Erzwungenes Flooding, dem der Klient nicht freiwillig zustimmt, kann jedoch die gegenteilige Wirkung haben und die Problematik verschlimmern.

Beide Therapien können zunächst sehr wirksam sein, aber es besteht ein Rückfall-Risiko nach einigen Wochen bis Jahren. Die Rückfall-Rate wird in Statistiken selten berücksichtigt, scheint aber nach Patientengeschichten und Gesprächen keineswegs niedrig zu sein. Problematisch ist hierbei zudem die Einnahme von Medikamenten und/oder anderen psychoaktiven Substanzen wie etwa Alkohol als "Bewältigungshilfe". Konfrontations-Therapien sind während einer gleichzeitigen Einnahme von Substanzen, die die Psyche beeinflussen, deutlich weniger und kürzer wirksam; und die Rückfallgefahr ist auffallend groß, sobald die Substanzen nach der scheinbar erfolgreichen Therapie abgesetzt werden.

Literatur

  • Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst. In: Freud: Studienausgabe Bd. 6 Hysterie und Angst, Frankfurt a. M., 1970, S. 253, S. 284.
  • G. Lazarus-Mainka, S. Siebeneick: Angst und Ängstlichkeit. Hogrefe 2000. ISBN 3-8017-0969-8
  • Kathleen A. Brehony: Women and agoraphobia. In: The stereotyping of women, New York, 1983

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Agoraphobie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Artikel Phobie in Werner D. Fröhlich: Wörterbuch Psychologie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008 (26. Auflage), ISBN 978-3-423-34231-5
  2. Carl Friedrich Otto Westphal: Die Agoraphobie, eine neuropathische Erscheinung, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Berlin, 1871–72; 3: 138–161.
  3. Willi Butollo u. a.: Kreativität und Destruktion posttraumatischer Bewältigung. Forschungsergebnisse und Thesen zum Leben nach dem Trauma. 2. erw. Auflage. Stuttgart, 2003, hier S. 61
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