Etablierte und Außenseiter

Etablierte und Außenseiter

Etablierte und Außenseiter ist ein Buch von Norbert Elias und John L. Scotson, welches zuerst in englischer Sprache (The Established and the Outsiders) 1965 veröffentlicht wurde.

In dem Buch werden die Ergebnisse einer empirischen Studie über die Beziehung zweier Einwohnergruppen einer englischen Gemeinde untersucht, die Beziehung zwischen den etablierten „Alteingesessenen“ und den zugezogenen Außenseitern, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Gemeinde umgesiedelt wurden. Beide Gruppen unterschieden sich nur bezüglich der Zeit, die sie in der Gemeinde wohnten (soziales Alter). Damit konnten „rassische“ oder ethnische Differenzen für die soziologische Untersuchung ausgeschlossen werden. Der Untersuchungszeitraum war zwischen 1958 und 1960.

Inhaltsverzeichnis

Grundzüge der Studie

Ansatzpunkt der Studie war die Beobachtung, dass sich die Etablierten von den neuen Mitbewohnern distanzierten und sich auf keine privaten Kontakte mit den „Neuen“ einließen. Stattdessen kam es zu massiver Stigmatisierung der zugezogenen Einwohner. Elias und Scotson versuchen dies im Buch zu erklären.

Ausschlaggebend für solche merkwürdigen Distanzierungen zwischen eigentlich gleichen Menschengruppen sind nach den Autoren des Buches „ungleiche Machtbalancen“ (S. 14). Die Etablierten haben eine größere Macht, da sie eine homogene Gruppe bilden, die sich über eine längere Zeit entwickelt hat, während die Außenseitergruppe eine größere Heterogenität aufweist, da die „Neuen“ sich erst seit Kurzem kennen. Aus diesem Grund sind die Etablierten in der Lage, die Neuen zu stigmatisieren. Dieser soziale Prozess wird von den Autoren wie folgt dargestellt:

Die „alten Familien“ haben über Generationen in ihrer Gemeinde „eine gemeinsame Lebensweise und einen Normenkanon ausgebildet“ (S. 16) Diese werden durch die neuen Familien unbewusst gestört, da sie die ortsüblichen Verhaltensmuster und den dazugehörigen Normenkanon nicht kennen. Deshalb fühlen sich die alten Familien unbewusst in ihrer gewohnten Art zu leben bedroht – sie werden unsicher.

Die Etablierten schließen sich immer enger zusammen, die Kohäsion nimmt zu, hervorgerufen durch einen Mechanismus von „Zuckerbrot und Peitsche“. Belohnt werden diejenigen, die sich an die Normen der Alten halten. Sie können in der sozialen Rangordnung der Etablierten aufsteigen. Wer sich etwa mit den Neuen einlässt, der wird bestraft durch einen sozialen Abstieg bei den Etablierten. Es sind somit verschiedene Zwänge, denen die Menschen unterliegen: Zwänge, die der Einzelne sich auferlegt (Selbstzwänge), hervorgerufen durch eine Gruppenmeinung und die damit verbundene Bedrohung durch den sozialen Abstieg (Fremdzwänge). „Die Teilhabe an der Überlegenheit und dem einzigartigen Charisma einer Gruppe ist gleichsam der Lohn für die Befolgung gruppenspezifischer Normen“. (S. 18) Hier besteht auch ein Zusammenhang zu dem von Elias beschriebenen, langfristigen Prozess der Zivilisation: die Menschen verinnerlichen im Laufe der Entwicklung von Generationen immer mehr Fremdzwänge zu Selbstzwängen.

„Selbstverständlich sieht es dann so aus, dass die Mitglieder einer Außenseitergruppe diesen Normen und Zwängen nicht gehorchen.“ (S. 18) Die Etablierten nehmen sie also als etwas Fremdes und Bedrohliches wahr und die Außenseiter bemerken natürlich auch den Unterschied und die Stigmatisierung durch die Etablierten. Sie werden in eine Gegnerschaft hineingetrieben, „ohne recht zu verstehen, was da geschah, und gewiß ohne eigenes Verschulden.“ (S. 247) Interessanterweise verhalten sich die Außenseiter dann zum Teil tatsächlich so, wie die Etablierten es verurteilten. Sie waren scheinbar unzuverlässig, undiszipliniert, gesetzlos und unsauber. „Gib einer Gruppe einen schlechten Namen und sie wird ihm nachkommen.“ (S. 24) Das Verhalten von Etablierten und Außenseitern steht in interdependentem Zusammenhang. Die Außenseiter messen sich selbst am Maßstab ihrer Unterdrücker (S. 22). Aber auch das Selbstwertgefühl und das Selbstbild der Etablierten ist von der Existenz der Außenseiter abhängig.

Wenn sich die Machtbalance zwischen den beiden Gruppen ausgleicht oder die Außenseiter sogar mehr Macht erhalten, kann es zu Gegenstigmatisierung kommen (S. 15). Die Außenseiter rächen sich an den Etablierten. Bei einer Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Außenseiter beginnen auch die traditionellen Selbstzwangmuster, die Verhaltensmuster der Etablierten, zusammenzubrechen. Die Belohnung für dies Verhalten bleibt aus, so dass die Etablierten andere Verhaltensmuster lernen müssen, um wieder Erfolg haben zu können (S. 46f).

Übertragbarkeit der Theorie

Nach Elias ist die in diesem englischen Ort beobachtete soziale Dynamik als typisch für Figurationen mit Etablierten-Außenseiter-Verhältnis anzusehen. Im Kern so einer Figuration steht eine ungleiche Machtbalance, der größere Zusammenhalt, der es den Etablierten ermöglicht, den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe sozial höherwertige Positionen zu reservieren, was wiederum den Zusammenhalt stärkt, und die Mitglieder anderer Gruppen davon auszuschließen (S. 12). Bei so einer Etablierten-Außenseiter-Figuration neigt die Etabliertengruppe dazu, den Außenseitern die schlechtesten Eigenschaften ihrer „schlechtesten“ Mitglieder zuzuschreiben, während sich die Etablierten umgekehrt mit den Eigenschaften der „besten“ ihrer Gruppe identifizieren (S. 13).

Die Autoren weisen an anderer Stelle darauf hin, „dass das Aufwachsen in einer Gruppe von stigmatisierten Außenseitern zu bestimmten intellektuellen und emotionalen Defiziten führen kann.“ (S. 26) Die Außenseitergruppe leidet unter einem Mangel, der hier nicht ökonomischer, sondern sozialer Natur ist: „Wie soll man ihn benennen? Mangel an Wert? Oder Sinn? An Selbstliebe und Selbstachtung?“ (S. 32). Es lässt sich hieraus ein Selbstwertbedürfnis der Menschen ableiten.

Die Autoren weisen auch auf andere Figurationen von Etablierten und Außenseiterbeziehungen hin. Zum Beispiel die Burakumin in Japan, die unterste Kaste in Indien, die Juden in Deutschland usw. aber auch mächtige Nationen gegenüber schwachen Nationen (S. 8).

Literatur

  • Norbert Elias, John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2002, ISBN 3-518-38382-5

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