Eurydike (Verstorbenen-Kommunikation)

Eurydike (Verstorbenen-Kommunikation)
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Hermes, Eurydike und Orpheus (Relief in der Villa Albani, Rom)

Eurydike: die Weithin Redende. Griechisch „eurys“ bedeutet ´weithin´ (z. B. Europa ´das Irgendwie Weite´). Das griech. „dikein“ drückt ´sagen´ aus und ´sprechen´. In diesem Sinne ist Eurydike „die Weithin Sprechende“. Damit ist nicht etwa die Volksrednerin gemeint, die über hunderte von Metern lauthals ruft oder richtet. Sondern bezeichnet wird mit diesem Namen die aus dem Jenseits Sprechende: eine mythologische Gestalt, die aus unendlicher Ferne zu jemandem spricht. Der Name ist also an und für sich schon mythologisch bedeutsam und bezieht sich unmittelbar auf die griechische Sage von Orpheus und Eurydike.

Inhaltsverzeichnis

Mythologische Erklärung

Eurydike wird in der antiken Mythologie als die früh verstorbene Gemahlin des Musikers Orpheus dargestellt. Nachdem Orpheus mit seiner Kunst die Götter des Hades (griechisch Unterwelt) zur Rückgabe der Geliebten bewegen konnte, folgt die Gattin - wenngleich unter Aufsicht des Götterboten Hermes. Denn Orpheus darf sich auf dem Weg in die Oberwelt nicht nach Eurydike umdrehen. Selbstverständlich passiert das Unvermeidliche. Wie das berühmte Relief des Parthenon-Tempels zeigt, entdeckt der Götter-Bote die menschliche Entgleisung. Eurydike wird in den Hades zurückgezogen, aber ihre Liebe verändert das Jenseits durch Verstorbenen-Liebe. Die Kunst des Orpheus ist der Auslöser, aber das phylogegenetisch entscheidende Moment für die Entwicklung der Liebe, wie es 500 Jahre später von Christus verkündet wird, ist in der Liebe der verstorbenen Seele erkennbar. Der Hades wird zum Himmelreich durch Eurydike-Liebe.

Systematische Erklärung

Verstorbenen-Kommunikation ist ein in den Jenseits-Theorien (Eschatologien) der Weltreligionen unterschiedlich behandelter Begriff, der die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Lebende mit Verstorbenen in Verbindung treten und Informationen austauschen. Grundlegend für diese Art der Kommunikation ist eine körperliche Ruhestellung in Kombination mit hoher Konzentration und meditativer Innenwendung des Bewusstseins (Röthlisberger 2007). In der musikalischen Praxis gehört das Auswendig-Spielen mit Augenschluss und hoher Konzentration auf die spirituelle Bedeutung des jeweils gespielten Stückes zur Verstorbenen-Kommunikation. Es werden jedoch auch rezeptive Techniken der Verstorbenen-Kommunikation beschrieben (Matzker 2008).

Das Christentum kennt die Verstorbenen-Kommunikation als Begegnung mit Jesus Christus und den Heiligen. Eine Kommunikation des alltäglich Hinterbliebenen mit seinem Partner (beziehungsweise Partnerin) wird als häretisch verworfen (Koch 1998). Okkultismus und Mystik sind als weltliche und mönchische Gegenbewegungen beschrieben (Schreiber 2003).

Der Buddhismus liefert das Modell der gegenwärtig zahlreichen esoterischen Verstorbenen-Kommunikationen. Die transzendentale Meditation ermöglicht die Wahrnehmung feinstofflicher Strukturen, die als Korrelat der seelischen Existenz (nach Lösung vom physischen Körper) fortleben. Der Meditierende erfährt diese feinstofflichen Signale und kann im Verlauf einer komplizierten Abfolge von Kultivierung, Aktualisierung, Verifizierung und Erlangung des Weges (von Brück et al. 1997, S. 417) zu Offenbarungen gelangen, die grundsätzlich von Geistwesen aller Hierarchieebenen stammen können.

Der Islam kennt den Zustand der Erlösten und der Verdammten. Beide können von Diesseitigen im Vollzug des Trauenrs und Klagens erfahren werden. Es wird eine ständige Präsenz der Verstorbenen im Leben des Hinterbliebenen angenommen (Parawelt). Der Verstorbene hat eine höhere Stufe der spirituellen Entwicklung erreicht und supervidiert den Hinterbliebenen (Küng 2004).

Die Mystik des Judentums ist als Kabbala verschiedener Manifestationen beschrieben (Laitmann 2007). Auch hier spielt die Verstorbenen-Kommunikation eine zentrale Rolle. Auch im Hinduismus, altgriechischen, altägyptischen, indianischen und afrikanischen Religionen sind Konzepte von Verstorbenen-Kommunikation nachgewiesen (Hildebrand et al. 2005).

Kulturgeschichte

Im Vergleich der Weltkulturen ist die griechisch-europäische dadurch ausgezeichnet, dass die Jenseits-Begegnung des Menschen musisch erfahren wird (vgl. Abaelard 2008).

Überblick

In einer Analyse der Kulturgeschichte Eurydikes wird gezeigt, dass die altgriechische Auffassung der Eurydike-Liebe für circa 2000 Jahre - besonders durch Moraltheologie - überformt wurde. Mit dem Klassizismus begann die neue Bewusstwerdung: zunächst allegorisch (Gluck), dann symbolisch (Goethe). Mit der Romantik und besonders den Präraffaeliten wurden bedeutsame Theorien der Aus-dem-Jenseits-Redenden vorgelegt. Das 20. Jahrhundert bietet atheistischen (bis nihilistischen) Eurydike-Pessimismus, aber auch symbolistische, surrealistische und spirituelle Lösungen (Chagall, Hesse, Marcel Camus, Davreux, Kerstetter). Der neue Spiritualismus des 21.Jahrhunderts setzt die große Tradition der Eurydike-Kommunikation fort (Godfrey, Smith, Abaelard).

Literaturgeschichte

Die Anfänge der griechischen Orpheus-Literatur sind vollkommen androzentrisch, das heißt dass es dem Mann gelingt, die Gottheiten zur Freigabe der Geliebten zu bewegen, dass der Mann die Verfehlung begeht, sich auf dem Rückweg umzudrehen, und dass schließlich der Mann das Schicksal der Hinrichtung durch thrakische Mänaden und der Verklärung zur Himmelsgestalt erfährt (Aristophanes: "Die Vögel", Ovid: "Metamorphosen“ Anm.1).

Zugleich ist der Hades ein Schattenreich beziehungsloser Gestalten (ähnlich dem althebräischen Schaol).

Die mittelalterlich-christliche Verehrung der weiblichen Verstorbenen gilt Maria. An sie ist auch die hochmittelalterliche Minnelyrik gebunden (Marienverehrung).

Erst mit der Renaissance setzt die Orpheus-Literatur wieder ein, aber sie ist noch zu sehr an die Moraltheologie von Hölle, Hexe und Teufel gebunden, als dass man im Jenseits die Liebe der verstorbenen Gemahlin thematisierte. Lediglich Dantes »Vita Nuova« ist Verherrlichung der früh verstorbenen Beatrice.

Erst in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts wird der Durchbruch zur heute verfügbaren Auffassung der Eurydike-Liebe erreicht.

Die klassische Walpurgisnacht Goethes (Faust II, 3. Akt) ist vorüber. Faust steht im Gewölk eines Hochgebirges und erlebt die Vision seiner Eurydike (Gretchen):

»Täuscht mich ein entzückend Bild als Jugend erstes längst entbehrtes höchstens Gut?«

Später im fünften Akt haucht »Sorge« den Sterbenden an, so dass er erblindet. Faust bemerkt:

»Die Nacht scheint tiefer tief herein zu dringen, allein im Innern leuchtet helles Licht.«

Und schließlich im letzten Auftritt erscheinen Geistwesen, die einst Gretchen waren. Sie bedauern, aus ihrem irdischen Leben früh dahingerafft worden zu sein. Jetzt aber wird die Freude am Wiedererleben des Geliebten in der Jugend ausgedrückt.

Marianus: »Hier ist die Aussicht frei der Geist erhoben. Dort ziehen Frauen vorbei, schwebend nach oben. Die Herrliche, miteninn, im Sternenkranze, die Himmels Königin, ich seh's am Glanze.«

Und so kommt es zum Resultat der Wiederbegegnung mit den zwei Schlussversen: »Das ewig Weibliche zieht uns hinan.« (Anm. 2)

Novalis´ (Friedrich Hardenberg) fünfte Hymne an die Nacht entspricht Fausts Vision kongenial:

»Getrost das Leben schreitet zum ewgen Leben hin; von innrer Glut geweitet, erklärt sich unser Sinn. Die Sternwelt wird zerfließen zum goldenen Lebenswein, wir werden sie genießen und lichte Sterne sein.« (Anm. 3)

Jedoch wird die romantische Auffassung der Eurydike-Liebe im 20. Jahrhundert drastisch verdrängt. Besonders das Gedicht Rilkes »Orpheus, Eurydike, Hermes« (1904) stellt Eurydikes Entrückung im Tod als Verfremdung dar:

»Und als plötzlich der Gott sie anhielt und mit Schmerz im Ausruf die Worte sprach: er hat sich umgewendet -, begriff sie nichts und sagte leise: wer?« (Anm. 4)

Dieser von Nietzsches Atheismus getragenen Sicht ist vor allem der expressionistische Gottfried Benn gefolgt. Die erste Strophe seines Gedichtes »Orphische Zellen« stellt die Vision der Jenseits-Liebe als illusionäres Konstrukt in fehlgebildeten Zellen dar:

»Es schlummern orphische Zellen in Hirnen des Okzident.«

Und schließlich im Schluss der letzten Strophe:

»Ihm (Orpheus: Anmerkung des Verfassers) bebenden Schmerz und Schaden im Haupt, das niemand kennt, die Brandungsvögel baden, das Opfer brennt.« (1927, Anm. 5)

Auch der Surrealismus des Jean Cocteau stellt Eurydikes Liebe als verfehlte Illusion des blöden Sängers dar.

Der Eurydike-Pessimismus des 20. Jahrhunderts kommt besonders prägnant in Cocteaus Eurydike-Gedicht zum Ausdruck.

»Orpheus, dein Schreien kommt als Melodie einher. Die Feenharfe macht dir das nicht allzu schwer. Nur einen Schemen quält dein närrisches Betragen. Reißt dir ein Bein aus! Willst die Schildkröte erschlagen! Rekrutenschärpe hat mit Göttergold gepaart Orpheus, der Oden laut mit Karpfenmaul geschrien. Die Schwalbe kippt und schreit dabei auf andere Art, Als der dich lesen wird, um ihrer Liebe wegen Und ihres Namens Geist (das war zu leicht gediehen), auf Schiefer, abgewischt von ein paar Flügelschlägen. Nein, nein und nochmals nein.« (Anm. 6)

Margaret Atwood formuliert es mit den Worten Eurydikes selbst:

»Du konntest niemals glauben, dass ich mehr war als dein Echo.« (Anm. 7)

Andererseits zeigt sich beim späten Rilke eine deutlich geänderte Auffassung gegenüber dem oben zitierten Orpheus-Gedicht in den Orpheus-Sonetten, die als »Grabmal für Wera Ouckama Knoop" geschrieben wurden:

»Doch selbst in der Verschweigung ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.« (1922, Anm. 8).

Besonders durch das Werk Hermann Hesses ist die Vorstellung der in transzendentaler Meditation erfahrenen Liebe in den Horizont der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts eingedrungen ("Siddharta", "Glasperlenspiel", Anm. 9).

Ingeborg Bachmanns »Eurydike«-Gedicht spricht ebenfalls mit den Worten Eurydikes selbst:

»Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben, und mir blaut dein für immer geschlossenes Aug.« (Anm. 10)

So ist es nicht verwunderlich, dass im neuen Jahrtausend - theologisch vorbereitet durch den neuen Dialog zwischen Christentum und Buddhismus (von Brück et al. 1997) und eine entsprechend Religions-vergleichende überkonfessionelle Spiritualität (Küng 1984) auch die dichterische Gestaltung der Eurydike-Liebe neuen Ausdruck findet. Abaelards »Eurydike. Bekenntnisse eines Leukämie-Ehemannes« (2008) ist konsequenter Ausdruck dieser spirituellen Wende in der Eurydike-Literatur des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Kunst- und Musikgeschichte

Steinzeit

Handnegativ: Pech Merle

Die Kunstgeschichte der Eurydike-Liebe beginnt in den Höhlen Südfrankreichs circa 40 000 Jahre vor Christus (z. B. (Pech-Merle). Der neue Mensch, den man später ´sapiens´ nennen sollte, legte die Hand der (oder des) Verstorbenen auf einen felsigen Untergrund und bemalte alles drum herum, so dass eine Art Negativ von der Hand des Toten für die Jahrtausende erhalten blieb.

Venus von Willendorf

Etwa 15.000 Jahre v. Chr. entstanden Fruchtbarkeitsstatuen, die eine plastische Darstellung besonders der sexuellen Reize der Verstorbenen aufwiesen (zum Beispiel Venus von Willendorf, Anm. 11).

Hermes,Orpheus,Eurydike

Antike

In der Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. beginnt die Orpheus-Darstellung im engeren Sinne. Wahrscheinlich ist Phidias der Bildhauer des Reliefs am Parthenon-Tempel der Akropolis, in dem der klassische Moment der Blickwendung dargestellt wird. Diese spirituelle Zuneigung der Geliebten zeigt die Unmittelbarkeit der das Jenseits überwindenden Liebe.

Orpheus-Christus Darstellung in den Marcellinus-Petrus-Katakomben (Rom)

Ein Wandgemälde, das vor 79 v. Chr. in der römischen Hafenstadt Pompeji entstanden sein muss, zeigt Orpheus als Tier-Kommunikator und Vogelschauer. Die römische Orpheus-Kunst hat Eurydike nicht die Beachtung geschenkt, die wir von den klassischen Griechen her kennen. Aus der Zeit der Christenverfolgung stammt eine Darstellung des Orpheus als Prophet Christi (Marcellus-Petrus-Katakombe).Auch hier fehlt von Eurydikes Liebe nahezu jede Spur. Die Christen hatten durch Jesus die Liebe aus dem Jenseits erfahren. Für Eurydike als Vorläuferin Marias fehlte ihnen der Sinn.

Mittelalter

Kraf von Toggenburg

In den Klöstern des Mittelalters stört zunächst das Abbildungsverbot ganz besonders die Darstellung schöner Verstorbener. Erst die Miniaturen der hoch- und spätmittelalterlichen Handschriften zeigen Minneherrinnen, die den Sänger bekränzen oder inspirieren, indem sie die Liebe Marias verwirklichen (zum Beispiel Manesse-Handschrift: Kraft von Toggenburg).

Fra Angelico

Lediglich die throhnende Madonna im Kreise der Engel ist Motiv der Darstellung dieser neuen Liebe, die aus dem Himmelreich Jesu Christi zu uns herüber leuchtet (z. B. Fra Angeliko: Thronende Madonna im Kreis von Engeln (1401 bis 1455).

Arcangelo

Renaissance

Jakopo di Sellajo (alias Arcangelo 1441 bis 1493) ist einer der ersten Maler im neuen Bewusstsein der Antike. Eurydike wird als Opfer der Schlange (und damit des Sündenfalles) dargestellt. Die Moraltheologie des Mittelalters soll noch für Jahrhunderte dafür sorgen, dass Eurydike vor allem als Sünderin präsentiert wird.

Bosch

Für den Aufstieg ins himmlische Paradies wählte man Engel als Begleiter (z. B. Hieronymus Bosch1450 bis 1516).

Ticiano Vecellio

Die Orpheus-Kunst konzentrierte sich auf die Abbildung der Höllenqualen, wenn Orpheus die Unterwelt besuchte (z. B. Ticiano Vecellio 1490 bis 1576; oder Ambrosius Francken der Ältere 1544 bis 1618; oder Jan Breugel der Ältere 1568 bis 1625).

Benedetto Gennari

Barock

Erst Benedetto Gennari, dem Älteren (1570 bis 1610) gelingt eine neue Sicht des jungen Paares im Angesicht der Unterwelt-Gottheit. Die liebende Zuwendung der Jenseitigen wird zum Thema der Eurydike-Abbildungen.

In diese Zeit fällt auch die erste große musikalische Ausarbeitung, die aber noch ganz von den Motiven des männlichen Künstlers ausgeht (Monteverdi »L´Orfeo« 1607). Zum Schluss der Oper steigt Apoll vom Himmel, um den Künstler in die Welt der Sterne zu geleiten.

Peter Paul Rubens

Peter Paul Rubens stellt erstmals die vom göttlichen Licht erleuchtete Eurydike ganz in den Mittelpunkt seines Gemäldes zum Thema. Wie so oft in dieser Zeit ergibt sich die Deutung des Bildes aus der Beleuchtung. Das von rechts aus Richtung der Götter einfallende Licht lässt Eurydikes halbnackten Körper erstrahlen, so dass die liebende Verstorbene erstmals in der Geschichte der Eurydike-Kunst zum Mittelpunkt des gesamten Geschehens wird.

Varotari

Es folgt ein Gemälde des Alessandro Varotari (1588 bis 1648), in dem die ganz und gar nackte Verstorbene sich den begehrenden Armen des Orpheus entzieht. Sie ist nicht mehr die Gespielin des jungen Mannes, sondern, durch den Tod entrückt, kann sie nur mittels Gesang und Imagination erreicht werden. Sie ist schon das, was Goethe 150 Jahre später als das Ewig Weibliche bezeichnen wird. Sie ist im Lichte Gottes.

Klassizismus

Der Klassizismus des 18. Jahrhunderts bereitet den Durchbruch der neuen Eurydike-Auffassung vor. Während noch einige Maler die überholte Moraltheologie von höllischen Qualen und Strafgericht darstellen (z. B. Johann Heinrich Füger), gelingt vor allem Christoph Willibald Gluck in seiner Oper »Orpheus und Eurydike“ die neue Sicht.


Es geht erklärtermaßen um Eurydike, die das Motiv für die verhängnisvolle Blickwendung liefert. Sie beschuldigt Orpheus, anscheinend Liebe er sie nicht mehr genügend. Denn er halte es nicht einmal für nötig, seine Geliebte anzuschauen. Und schließlich lässt Gluck die vom Hades zurückgezogene Verstorbene durch den Gott Amor auferwecken: eine unmissverständliche Allegorie der Jenseits-Liebe, die Eurydike befähigt, ihrem Orpheus auf immer nahe zu sein.

Romantik - Spätromantik

Während der Klassizismus noch von allerhand Höllen- und Strafgerichts-Motiven überschattet wurde (Perrier, Francois (1650); Poussin, Nicolas (1594-166); Cervelli, Frederico (1625-98); Burrini, Giovanni Antonio (1656-1727), 1697; Restout, Jean (1763), Tiepolo, Giovanni Battista (1750) und Füger, Heinrich Friedrich (1751-1818)), bringt das 19. Jahrhundert neues Licht in die Spiritualität der Eurydike-Darstellungen.

Blake

Zunächst entsinnt sich William Blake (1757 bis 1827) der geliebten Verstorbenen des italienischen Dichters Dante: »Beatrice in der Kutsche spricht Dante an« (1824/7).

Corot

Es folgt ein Gemälde von Jean Baptiste Corot (1796 bis 1875): »Orpheus geleitet Eurydike aus der Unterwelt«. Keine Spur ist mehr zu sehen von Höllenqualen und Moraltheologie. Das junge Paar strebt der aufgehenden Sonne entgegen. Im Nebel liegt noch die Vergangenheit einer unerlösten Menschheit mit all den Quisquilien strafender Götter und unmöglich erfüllbarer Bedingungen. Vor uns liegt das Reich der Liebe, und dahin strebt mit guter Gewissheit das junge Paar.

Delacroix

Eugene Delacroix, der oftmals als König der Romantiker bezeichnet worden ist (1798 bis 1863), zeigt auch den Weg hinauf ans Licht. Eurydike bricht in sich zusammen, aber das Licht Gottes hat die beiden bereits erleuchtet. Nicht das Scheitern des Menschen an unerfüllbaren Bedingungen, sondern die Rettung der Liebenden durch die Allgewalt des Lichtes kommt zur Darstellung.

Rosetti

Es ist vor allem das Verdienst der Londoner Praeraffaeliten, die Liebe der Jenseitigen ins künstlerische Bildnis gesetzt zu haben. Dante Gabriel Rosetti (1828 bis 82) zeigt den betenden Dichter Dante, wie er mit geschlossenen Augen ins Jenseits blickt, um seiner Verstorbenen Beatrice gewahr zu werden (1864).

Leighton

Frederic Leighton (1830 bis 1896) zeigt Eurydike, wie sie verzweifelt in Orpheus´ Antlitz die Liebe zu erkennen sucht (1864). Sir Edward Poynter (1839 bis 1919) stellt die widerstrebend folgende Eurydike dar. An langen Armen zerrt der vorausgehende Orpheus. Gequält folgt Eurydike. Denn der richtige Weg führt nicht aus dem Tod heraus ans Licht der Inkarnierten, sondern der Weg führt ins Licht der Seligen, wo Eurydike verbleibt. Vergebens strebt Orpheus in die falsche Richtung.

Waterhouse

John William Waterhouse (1849 bis 1917) hat in mehreren Gemälden das Eurydike-Thema behandelt. In einer Skizze aus den Jahren um 1900 kommt das Jenseits Eurydikes besonders schön zur Darstellung. Nymphen der Insel Lesbos knien im Moor, um in der Tiefe den Kopf des Orpheus zu erschauen. Entscheidend ist, dass man nur die blickenden Mädchen sieht, während das Jenseitige außerhalb des Bildes liegt.

Ricketts

Charles de Sousy Ricketts (1866-1931) malt im Stil des Symbolismus einen schlafenden und einen klimmenden Orpheus. Er hält sich an einem Gebälk, das aus dem Himmel zu stammen scheint und vollführt den Kraftakt eines Klimmzuges – zum Zeichen transzendentaler Meditation oder luziden Träumens. Hinter seinem Rücken wird auf diese Weise die weiße Gestalt Eurydikes sichtbar.

Jaques Offenbach hat in seiner Oper die Eurydike-Liebe ganz und gar in die Doppelmoral der Pariser Gesellschaft verkehrt. Die seit langem mit anderen Männern verbundene Eurydike folgt ihrem ebenfalls fremd orientierten Orpheus nur deshalb, weil der Leumund ungünstig ausfallen könnte. So wird die Verfremdung der Eurydike-Liebe, wie sie im 20. Jahrhundert eintreten sollte, vorweggenommen.

20. Jahrhundert

Das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch stark voneinander abweichende Darstellungen der Eurydike-Liebe. Sie reichen von atheistisch-nihilistisch bis spirituell. Besonders der Vergleich zwischen Picasso und Chagall kann dieses Schisma des Jahrhunderts aufzeigen. In Picassos[1] "Orpheus" starren die mörderischen Thrakerinnen über den Leichnam ihres Opfers hinaus in die Tiefe. Nichts als Entsetzen steht in ihren Gesichtern geschrieben. Denn, was sie sehen, ist nichts als der Tod, dessen Grauen sich in den Gesichtern der Starrenden widerspiegelt.

Chagall hingegen malt schwebende Geiger: zum Beispiel »Der blaue Geiger« [2], »Der russische Geiger«. Er betitelt seine Musiker nicht als Orpheus, aber das Jenseits-Erlebnis dieser Musiker ist jedenfalls Orphisch: sie schweben in den Himmel, begegnen den friedfertigen Geschöpfen Gottes und gewahren das Licht der Liebe - sei es strahlend blau oder weiß oder in irgendwelchen Farbkombinationen, die Eurydike ahnen lassen.

Marcel Camus´ "Orfeu Negro" wurde 1959 uraufgeführt und mit mehreren internationalen Filmpreisen ausgezeichnet. Die Oper wird als Durchbruch des Bossanova gefeiert, denn die gesamte Handlung ist in ein fortdauerndes Karneval-Zeremoniell Rio de Janeiros eingebettet. Entscheidend für die Verstorbenen-Kommunikation mit Eurydike ist die Szene des Unterweltgesanges. Orpheus, aufgefordert, jetzt zu singen, schließt die Augen und öffnet die Lippen, als ob er singen würde. Jedoch meditiert er den musikalischen Vortrag und bewerkstelligt dadurch Eurydikes Erscheinung.

Selbst im Stil des Cartoon sind Orpheus und Eurydike gemalt worden. Mc Bride [3]zeigt ein kleines Musiker-Männlein, das der Gewalt eines Höllen-Ungeheuers weichen muss. Doch bei allem Pessimismus dieses Gewalt-bereiten Hades-Gottes erstrahlt in der Tiefe des Gefängnisses das Weiß der Liebe: man erkennt Eurydike, die zwar dem Hades nicht entkommt, aber dieser wesenlosen Unterwelt ihr neues Licht der Liebe bringt.

Davreux [4]stellt Eurydike als Motorrad-Braut dar. Sie sitzt nackt im Gras. Ihr Haar scheint von Zytostatika ausgefallen: ein Bild des Jammers eventuell kurz vor dem Tode. Jedoch Orpheus knattert auf einem Motorrad heran. Er hält voller Zuversicht einen riesigen Schlüssel in der Hand, und über ihm spannt sich das Spinnennetz eines Weltalls, in das hinein die Fahrt zu führen scheint. Ein menschlich anmutendes Gottes Gesicht blickt herab und breitet seine allgewaltigen Spinnenbeine weit in das Netz der Ewigkeit.

Kerstetter

Abstrakte Lösungen des Eurydike-Themas sind mehrfach versucht worden. Barbara Kerstetter mutet dem Betrachter eine ungeordnet erscheinende Anzahl von Farbklecksen zu: als ob jemand mehrere Eimer voll Farbe an eine Wand verspritzt hätte. Jedoch bei längerer Betrachtung klärt sich die Unordnung, und es werden Ahnungen von Jenseits-Visionen ausgelöst: als ob man im Hintergrund eine kleinere Gestalt erkennen könnte, die nur noch entfernt an einen Menschen erinnert. Auch eine größere Männergestalt lässt sich bei längerer Betrachtung assoziieren. Vielleicht ist es bei abstrakter Malerei ganz allgemein so, dass man wie bei transzendentalen Meditationen in die Tiefe der Welt schaut, ohne je ganz sicher sein zu können, dass das Erblickte nicht einzig auf eigener Einbildung beruht.

Godfrey

Ein Gemälde von Yarek Godfrey lässt sich wohl schon mit der neuen Spiritualität des einundzwanzigsten Jahrhunderts in Verbindung bringen. Zwei Köpfe Verstorbener sind einander zärtlich zugeneigt. Man erkennt, dass der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten ist. Die Augen wirken gebrochen, und die Farben erinnern an Spuren der Verwesung. Jedoch sind Wangen und Lippenbögen dieser Gesichter wunderbar lebendig und lassen eine zarte Zugewandtheit der Verstorbenen erkennen. Die Eurydike-Liebe ist im Jenseits der beiden wundersam realisiert.

Religionstheoretische Aspekte

Der Polytheismus des griechischen Mythos hat in späteren Zeiten diverse Umdeutungen erfahren. Zunächst war es Clemens von Alexandrien, der Orpheus als Propheten Christi bezeichnet hat. Diese Auffassung ist in der Zeit Kaiser Konstantins des Großen verworfen worden. Zugleich wurde auch die sokratische beziehungsweise gnostische Reinkarnationstheorie, die im frühen christlichen Glauben eine wichtige Rolle spielte, bei Todesstrafe verboten. Clemens von Alexandrien wurde aus der Liste der Kirchenväter gestrichen (Anm. 12).

Vor allem das altetestamentliche Verbot, sich ein Bildnis zu machen, hat dazu geführt, dass das Mittelalter keine Theologie der Kunst hervorgebracht hat, die mit der Wahrnehmung der Liebe Eurydikes in Verbindung stünde. Jedoch ist die Marienverehrung des Mittelalters und die daran anschließende Lyrik der Hohen Minne prinzipiell mit Eurydike-Theologie vergleichbar. Auch die Isolde-Verehrung des Straßburger Tristan-Epos trägt Züge einer als mystisch-häretisch gekennzeichneten Jenseits-Liebe. Die Theologie der »Vita Nuova« Dantes ist ebenfalls für eine Würdigung mittelalterlicher Jenseits-Kommunikation heranzuziehen.

Mit der Renaissance wird die Theologie der Eurydike-Liebe sozusagen wiedergeboren. Zunächst steht die Moraltheologie einer im Fegefeuer leidenden Sünderin im Vordergrund. Das Kunstwerk wird zum Werkzeug kirchlicher Moral-Unterweisung: Memento mori - oder: Denke daran, dass es dir wie Eurydike ergehen kann!

Zugleich aber entsteht - besonders unter dem Einfluss der Oper Monteverdis - die Vorstellung eines von Gott erhobenen Künstlers, dessen Bindung an die Liebe im Jenseits zum leuchtenden Beispiel menschlicher Qualifikation vor Gott wird.

Während das Barock-Zeitalter noch weitgehend der Moraltheologie der Memento-mori-Auffassung verpflichtet ist, entwickelt sich im Klassizismus ein für die Neuzeit entscheidender Durchbruch. Bereits die allegorische Deutung der Auferstehung Eurydikes in Glucks Oper lässt den neuen Blick auf das alte Thema des »Ewig Weiblichen« erkennen. Besonders im Spätwerk Goethes gelangt diese Auffassung zum Durchbruch: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Das Unzulängliche: Hier wirds Ereignis.« (vgl. Anm. 2)

Die Seele Gretchens - und schließlich auch die des Faust - lebt fort in der Liebe, die der Welt den Sinn verleiht. Inkarnation bedeutet Verpflichtung zum Lernen und damit zur Vervollkommnung der Seele, bis sie sozusagen das Niveau der Liebe Jesu, Mariae oder auch Eurydikes erreicht hat: das Niveau des Ewig-Weiblichen.

Die Naturmystik der Romantik setzt die im Klassizismus angebahnte Auffassung der Eurydike-Liebe fort und wird durch die spirituellen Neigungen des so genannten Viktorianischen Zeitalters noch überhöht.

Mit der Verbreitung atheistischer Philosophien (z. B. Marx, Engels, Nietzsche, Feuerbach etc.) werden Eurydike-Deutungen begünstigt, die von Pessimismus und schließlich gar Nihilismus getragen sind (z. B. Benn: es sei dem Menschen angeboren, illusionär an Eurydikes Liebe zu glauben).

Jedoch sind durch Rudolf Steiners »Seelenforschung« und durch Hesses »Siddharta« beziehungsweise »Glasperlenspiel« auch im 20. Jahrhundert religionstheoretische Ansätze der künstlerischen Jenseits-Begegnung ausgearbeitet worden, die in die New-Age-Theologie und in die vergleichende Religionswissenschaft eines Hans Küng und eines Weltparlamentes der Religionen führen. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine neue spirituelle Kunst, die der Eurydike Liebe neuen Ausdruck verleiht (Anm. 13).

Anmerkungen

  1. Aristophanes: Die Vögel. Hg. Latacz, Joachim. München 1983. Ovid: Metamorphosen. Hg. Suchier, Reinhart. Köln 2005.
  2. Goethe, Johann W. v.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. Trunz, Erich. München 1981, Bd. 4. Verse 12194 ff.
  3. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs. Bd. 1. Hg. Samuel, Richard. München/Wien: Hanser 1978, S 172.
  4. Rilke, Rainer Maria: Werke in 3 Bänden. Hg. Nalewski, Horst. Bd. 1. Leipzig 1978, S 456.
  5. Benn, Gottfried: Sämtl. Werke. Stuttgarter Ausgabe in Verbindung mit Ilse Benn. Hg. V. Schuster, Gerhard. Bd. 1. Stuttgart 1986, S 72.
  6. Cocteau, Jean: Werke in 12 Bänden. Hg. Schmidt, Reinhard Bd. 6, Übers. V. Andrej Jendrusch. Frankfurt /M 1988, S 53.
  7. Atwood, Margaret: Poems 1976-1986. London: Virago 1992, S 106f. Aus dem Englischen von Roland Erb. Leipzig: Reclam 1997
  8. Rilke a.a.O. S. 617.
  9. Hesse, Hermann: Siddharta. Eine indische Dichtung. Frankfurt/M. Suhrkamp 2008; Ders.: Das Glasperlenspiel. Frankfurt/M Suhrkamp 2007.
  10. Bachmann, Ingeborg: Ausgew. Werke in 3 Bänden. Hg. Paul, Konrad et al. München 1978, Bd. 1, S 12.
  11. Röder, Brigitte et al: Göttinnen Dämmerung. Das Matriarchat aus archäologischer Sicht. München 1996.
  12. Riedweg, Christoph: Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien. Berlin etc. 1987.
  13. Vgl. Smith 2007, Roethlisberger 2006, Hasselmann/Schmolke 2005)

Literaturnachweise

  • Abaelard, Wolfgang: Eurydike. Bekenntnisse eines Leukämie-Ehemannes. Norderstedt 2008
  • Brück, Michael v./ Lai, Wahlen: Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontationen, Dialog. München 1997
  • Frenzel, Elisabeth: Orpheus. In: Dies.: Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart: Kröner 2005, S 702-09
  • Hasselmann, Varda/ Schmolke, Frank: Archetypen der Seele. München: Goldmann 2005.
  • Hillebrand, Alfred; Schroeder, Leopold v.; Holtzmann, Adolf: Der Hinduismus: Bibliothek der Weltreligionen. Paderborn 2005.
  • Knittel, E-M.: Orpheus im Horizont moderner Dichtungskonzeptionen 1998
  • Koch, Kurt: Christus oder Satan. Wahrsagen, Magie, Spiritismus. Gießen 1998.
  • Küng, Hans: Christentum und Weltreligionen. München 1984
  • Küng, Hans: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. München 2004.
  • Laitmann, Michael: Quantum Kabbala: Neue Physik und Kabbalische Spiritualität. München 2007.
  • Littger, Klaus W. (Hg.): Orpheus in den Künsten. Wiesbaden: Harrassowitz 2002.
  • Matzker, Reiner: Ästhetik der Medialität. Reinbek 2008.
  • Roethlisberger, Linda: Der sinnliche Draht zur geistigen Welt. Kreuzlingen: Hugendubel 2006.
  • Schreiber, Stefan et al. (Hg.): Das Jenseits. Perspektiven christlicher Theologie. Darmstadt 2003.
  • Smith, Gordon: Mein Blick ins Jenseits. Berlin: Ullstein 2007.
  • Storch, Wolfgang (Hg.): Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann. Leipzig: Reclam 1997. Englische Version

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