Fischer-Baling

Fischer-Baling

Eugen Fischer-Baling (bis 15. August 1951 Eugen Fischer) (* 9. Mai 1881 in Balingen; † 18. Januar 1964 in Berlin) war Bibliothekar, Historiker, Politologe, evangelischer Theologe und Schriftsteller.

Sein Vater war der Schirm- und Kammachermeister Friedrich Fischer (1847-1924), seine Mutter Pauline Fischer, geborene Sting (1852-1934). 1915 heiratete er die Konzertsängerin Berta Josepha Steinwender (1890-1949).

Leben

Fischer-Baling entstammte einer politisch regen Familie. Sein Großvater väterlicherseits war ein Achtundvierziger. Liberalität und Weltoffenheit kennzeichneten Fischer-Baling wohl auch deshalb bis ins hohe Alter.

Zunächst besuchte er in Balingen die Volks- und Lateinschule, dann die einem Gymnasium entsprechenden Seminare in Maulbronn und Blaubeuren. Nach der Reifeprüfung 1899 und dem einjährig-freiwilligen Dienst bei der württembergischen Infanterie nahm er in Tübingen das Studium von Theologie und Philosophie auf. Mit Freude folgte er vor allem den Veranstaltungen von Johann Christof Sigwart. Nach der ersten theologischen Dienstprüfung 1904 litt er an der Unfreiheit des Pfarrerlebens. Der Universitätsbetrieb gefiel ihm zu jener Zeit besser, zumal er für seine wissenschaftliche Arbeit Anerkennung fand. 1905 gewann er den ersten Preis der evangelisch-theologischen Fakultät für die wissenschaftliche Beschäftigung mit reformatorischen Flugschriften der Jahre 1520/5.

Am 21. März 1906 wurde er vom Kirchendienst als Vikar in Betzingen (Dekanat Reutlingen) beurlaubt; dort hatte er seit dem 19. Juli 1905 gewirkt. Tatsächlich gab er den Pfarrdienst auf, um in Berlin historische Studien bei Dietrich Schäfer, Max Lenz und Michael Tangl zu betreiben. 1908 wurde er mit einer Arbeit über Patriziat Heinrich III. und Heinrich IV. im Fach Geschichte an der Philosophischen Fakultät laudabile promoviert. Ein Jahr später reichte er die auf seiner Preisarbeit von 1905 basierende theologische Dissertation Die Frage der kirchlichen Ausnützung ein. Ab dem 21. Januar 1909 konnte er sich Lizenzat der Theologie nennen. Seine rite bewerteten Leistungen waren in Tübingen heftig umstritten und wurden wohl nur aufgrund des Preises von 1905, des bereits in Berlin erworbenen Doktorgrades, der verkündeten Habilitationsabsicht und vor allem aufgrund des Votums seines Referenten Karl Müller gebilligt. Die Verquickung wissenschaftlicher und politischer Fragen, die für Fischer-Balings Dissertationen charakteristisch ist, weist auf das ihm eigene Temperament.

Noch 1909 wurde Fischer-Baling Privatdozent für Kirchengeschichte an der Berliner Universität. Auch hier fühlte er sich bald eingeengt. Schon die Habilitationsschrift, eine unpubliziert gebliebene Studie zu Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16, war für die Verantwortlichen zu einem Problem geworden. Von der Person Martin Luthers überwältigt hatte Fischer-Baling sie niedergeschrieben. Sein Widerspruch in religiösen und kirchenpolitischen Fragen führte zum Bruch mit dem angesehenen Theologen Adolf von Harnack. 1913 schied er aus dem Universitätsdienst aus, um in der jungkonservativen, bei Studenten beliebten Zeitschrift Die Tat seinen Unmut über den akademischen Betrieb zu artikulieren. Fischer-Baling war auf dem besten Weg, ein scharfzüngiger Publizist zu werden, als der Erste Weltkrieg begann. Im Mai 1915 wurde er als Soldat verwundet. Er genas nur unvollständig, so dass er nach einem kurzen Einsatz bei Verdun in die militärische Stelle des Auswärtigen Amtes, die spätere Auslandsabteilung der Obersten Heeresleitung, gerufen wurde. Er verfasste Propagandaschriften und suchte nach religiösen Rechtfertigungen für den Soldaten, der im Krieg gegen die Gebote Gottes zu verstoßen hatte.

In den Monaten nach Kriegsende blieb Fischer-Baling im Auswärtigen Amt angestellt, bis er im Herbst 1919 von Konrad Haußmann aufgefordert wurde, Sekretär des Untersuchungsausschusses der Nationalversammlung zur Aufklärung der Kriegsschuldfrage zu werden. Später begleitete er die entsprechenden Ausschüsse des Reichstags auch als Sachverständiger und, seit 1923, als Generalsekretär.

Als Privatmann verbreitete er zugleich seine Geschichtsauffassung. 1925 legte er seine Studie Holsteins Großes Nein. Die deutsch-englischen Bündnisverhandlungen von 1898-1901 vor. 1928 gab er die deutsche Ausgabe der Memoiren des zeitweiligen französischen Präsidenten Raymond Poincaré heraus. Im selben Jahr veröffentlichte er eine detaillierte Schilderung über die kritischen 39 Tage von Sarajewo bis zum Weltbrand. Russland wies er stets die Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg zu.

Als Demokrat kritisierte er die Weimarer Republik. Bei aller Sympathie für Ebert, Stresemann, Rathenau und andere vermisste er bei der Mehrzahl der Verantwortlichen den offensiven revolutionären Geist und kritisierte, dass der Begriff der Nation den gegen die Republik gerichteten Kräften überlassen worden sei. Derartige Gedanken, 1932 in seinem Buch Volksgericht formuliert, fanden ein Echo bei Gebildeten wie Thomas Mann, erreichten aber nicht mehr die breite Öffentlichkeit. 1933 fand sich das Volksgericht auf der Schwarzen Liste, die den Nationalsozialisten als Grundlage für die inszenierte Bücherverbrennung diente.

Bereits 1928 hatte ihm Reichstagspräsident Paul Löbe die Position des Direktors der Reichstagsbibliothek anbieten können. Neben seiner Tätigkeit beim Untersuchungsausschuss kümmerte sich Fischer-Baling nun um theoretische Fragen des Bibliothekswesens.

Dass Fischer-Baling trotz seiner demokratisch-republikanischen Gesinnung – zeitweise war er wohl Mitglied der linksliberalen DDP – seine Stellung als hoher Beamter nicht verlor, ist in erster Linie auf eine bei den Vorgesetzten vorhandene Abneigung gegen seinen potentiellen Nachfolger, den ambitionierten NS-Historiker Walter Frank, zurückzuführen. Ohne Folgen blieb Fischer-Balings eigene Schwäche, die im Mai 1933 offenkundig wurde, als er sich mit einem opportunistisch motivierten Schreiben seinem formalen Vorgesetzten, den Reichstagspräsidenten Hermann Göring, andiente.

Nach Kriegsende bemühte sich Fischer-Baling auf vielfältige Weise, die Demokratie in Deutschland dauerhaft zu etablieren. Er hielt Vorträge an Universitäten und Volkshochschulen, sprach im Rundfunk, publizierte in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Doch in politische Führungsgremien wurde er – anders als erhofft – nicht berufen.

Am 24. Oktober 1945 wurde er von der amerikanischen Militärpolizei festgenommen, weil man ihn für den namensgleichen NS-Eugeniker Eugen Fischer hielt. Ende Dezember 1945 gelang es nach mehreren Interventionen, unter anderem Paul Löbes und Theodor Heuss’, die Amerikaner von Fischer-Balings Unschuld zu überzeugen. Um der Verwechslung künftig zu entgehen, nannte er sich fortan nach seinem Heimatort konsequent Fischer-Baling.

Im Mai 1946 übernahm er auf Anregung von Ferdinand Friedensburg eine Dozentur an der Bergakademie Freiberg. Als Streiter für Demokratie und historische Aufklärung geriet er bald ins Visier der neuen kommunistischen Machthaber und wurde nach zwei Jahren von den Lehrverpflichtungen in Freiberg entbunden.

Eine akademische Heimat fand Fischer-Baling darauf an der traditionsreichen Deutschen Hochschule für Politik (DHfP). Als er im Tagesspiegel vorschlug, in deren Rahmen ein Übungsparlament zur Schärfung des demokratischen Bewusstseins einzurichten, wurde Otto Suhr aufmerksam und gewann ihn als Dozenten für die DHfP. 1949 wurde er dort außerordentlicher Professor, 1953 ordentlicher Professor für politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. 1954 erfolgte seine Emeritierung, er lehrt jedoch bis 1963 weiter. Ein Angebot, in die Bundestagsbibliothek nach Bonn zu wechseln, schlug er aus. Wenn er sich auch vornehmlich Fragen der internationalen Beziehungen zuwandte (1960 erschien seine unorthodoxe Theorie der auswärtigen Politik), so widmete er sich doch auch organisatorischen und theoretischen Problemen seines Fachs. Von ihm stammt der ideologisch zunächst nicht befrachtete Terminus Politologie.

Fischer-Baling verfasste neben wissenschaftlichen und journalistischen Werken auch Romane, Theaterstücke und Gedichte. Einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichten sein emphatischer Luther-Roman Das Reich des Lebens (1918) sowie seine durchaus in einem antitotalitären Sinne interpretierbare Tragödie Canossa über die Auseinandersetzung zwischen dem späteren Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII.; sie wurde 1942 in Gera uraufgeführt.

Am 18. Januar 1964 erlag Fischer-Baling im Alter von 82 Jahren einem Krebsleiden. Sein Oeuvre zeugt von einem politischen Beobachter, dessen Denken sich nie dem „Zeitgeist“ angepasst hat.

Literatur

  • Ralf Forsbach (Hg.): Eugen Fischer-Baling 1881-1964. Manuskripte, Artikel, Briefe und Tagebücher, München 2001 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsgg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 62).
  • Gerhard Hahn: Die Reichstagsbibliothek zu Berlin - ein Spiegel deutscher Geschichte. Mit einer Darstellung zur Geschichte der Bibliotheken der Frankfurter Nationalversammlung, des Deutschen Bundestages und der Volkskammer sowie einem Anhang: Ausländische Parlamentsbibliotheken unter nationalsozialistischer Herrschaft und Dokumenten, Düsseldorf 1997 (= Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn, o. Bd.).

Weblinks


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