- Gebrauchsmusik
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Gebrauchsmusik bezeichnet Musik, die sich einem gesellschaftlichen Zusammenhang unterordnen muss. Der Ausdruck ist seit den 1920er-Jahren üblich. Möglicherweise hat der Musikethnologe Paul Nettl ihn zum ersten Mal erwähnt. Heinrich Besseler nahm ihn auf und verwendete ihn für die kommerzielle Musik. – Es hat nur Sinn, von Gebrauchsmusik zu sprechen, wenn es im Feld des Musikalischen auch etwas anderes gibt: Das Gegenteil von Gebrauchsmusik ist die Autonome Musik (oder auch die Absolute Musik).
Gesellschaftliche Rahmen
In der europäischen Tradition gibt es folgende Rahmen für Musik:
- Kirche (Musik im Gottesdienst)
- Kammer (Hintergrundmusik zum aristokratischen Kartenspiel)
- Theater (Oper und Bühnenmusik im Schauspiel)
- Ballsaal bzw. Tanzboden (musikalische Begleitung des Gesellschaftstanzes)
Seit es diese gesellschaftlichen Rahmen gibt, also ungefähr seit dem 17. Jahrhundert, emanzipieren sich Musiker und Komponisten zunehmend von ihrer dortigen Funktion. Der öffentliche Konzertsaal wird seit dem 18. Jahrhundert (zunächst in London) zum befreienden Ziel des professionellen Musikers (wie für Joseph Haydn, der sich mit seinen Londoner Auftritten vom dienenden Dasein des Hofmusikers befreien konnte).
Die heutige Gebrauchsmusik ist Teil der Musikproduktion in der Musikindustrie und ist der Konzertmusik oder absoluten Musik (siehe U-Musik) wirtschaftlich überlegen. In der modernen Gebrauchsmusik werden die Musiker nicht mehr offensichtlich „versklavt“, weil sie nicht live spielen müssen. Es ist also nur noch die Musik und nicht mehr der Musiker, die sich möglicherweise der Nichtbeachtung aussetzt. Vorläufer dieser Gebrauchsmusik waren die Musik im Ballsaal und im Theater, wo noch Kapellen anwesend waren. Das ist heute in etwa vergleichbar mit Diskothek und Kino. Durch die Möglichkeit der elektronischen Aufzeichnung sind neue Arten der Gebrauchsmusik entstanden wie Muzak als Musikberieselung.
Hintergrund
Der Philosoph Platon unterschied zwischen den erzeugenden, den gebrauchenden und den nachahmenden Künsten (Politeia). Ein Instrumentenbauer ist nach seinem Beispiel ein erzeugender und ein Flötist ein gebrauchender Künstler (der wiederum etwas erzeugen sollte, was man gebrauchen konnte). Bei ihm hatte der „Gebrauch“ einen ethischen Wert und machte Dinge und Menschen nicht zum unpersönlichen Objekt. – Doch im 19. Jahrhundert diente die Forderung, dass es dem Menschen möglich sein solle, sich als Individuum außerhalb von Funktionalisierungen zu verwirklichen, als Gegengewicht zur zunehmenden Eingliederung der Arbeitskräfte in technische und bürokratische Ablauforganisationen im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Musiker bewundert, die sich aus ihrem gesellschaftlichen Rahmen herauslösten. Der Violinist Louis Spohr berichtet in seiner Selbstbiographie, dass er für sein Kammermusikkonzert am Stuttgarter Hof (um 1800) darauf bestanden habe, dass die Hofgesellschaft während seines Vortrags die Spieltische und -karten wegräume. Weil sich der König an diese Forderung hielt, hatte das öffentliche Konzert Spohrs am folgenden Tag großen Zulauf.
Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entstand ein vielfältiger neuer Bedarf nach Gebrauchsmusik (Tanzball, Music Hall, später Filmmusik etc.). Dadurch war die ursprüngliche Opposition des Bürgertums gegenüber einer „Gebrauchsmusik“ der kirchlichen und weltlichen Autoritäten und seine Solidarität mit den opponierenden Musikern, die keine Dienstboten mehr sein wollten, nicht mehr gegeben. Der „Gebrauch“ verlor den Beigeschmack einer Versklavung durch Adel und Kirche, aus der sich etwa Wolfgang Amadeus Mozart mit seinem Drang zur beruflichen Selbstständigkeit gelöst hatte.
Literatur
- Paul Nettl: Beiträge zur Geschichte der Tanzmusik im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft. 4, 1921/22, ZDB-ID 203046-9, S. 257–265.
- Wolfgang Lessing: Musik und Gesellschaft. Das Problem der „Gebrauchsmusik“. In: Wolfgang Rathert, Giselher Schubert (Hrsg.): Musikkultur in der Weimarer Republik. Schott, Mainz u. a. 2001, ISBN 3-7957-0114-7, S. 180–188 (Frankfurter Studien 8 Schott Musikwissenschaft).
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